Prolog

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Ein Jahr zuvor- wie alles begann

Nicht jeder bekommt die gleich Version von mir zu sehen. Einige Personen könnten dir sagen, dass ich der sympathischste Mensch bin, den sie je getroffen haben, ein anderer könnte jedoch behaupten, dass ich ein kalter und emotionsloser Mensch bin. Du kannst beiden glauben, denn ich zeige ihnen die Version von mir, die sie füttern.

„Noch einen Tequila!", rufe ich dem Barkeeper über den tosenden Lärm im Club entgegen, welcher seit Stunden in rekordgeschwindigkeit Getränke mixt. Der Kerl zieht seine buschige Augenbraue bis zum Haaransatz in die Höhe, was so viel wie „bist du dir sicher?" bedeutet.
Weil ich schon Vier Tequila hatte? Ja verdammt, ich bin mir total sicher!
Er zuckt desinteressiert mit den Schultern und macht sich an die Arbeit. Ein weiterer Beweis dafür, dass Menschen für Geld alles machen.

Ich bin noch nicht volljährig, aber das scheint hier niemanden zu interessieren. Wer interessiert sich für das Leben eines Jugendlichen, der mehr Probleme als Geldscheine hat? Es interessiert niemanden. Aber genau diese Desinteresse spielt mir sehr oft in die Karten.
Ich lasse meinen Kopf auf den kalten Tresen fallen, ehe ich noch etwas mache, was ich im Nachhinein bereue. Seit einigen Wochen läuft alles aus dem Ruder und mit der Zeit hat sich herausgestellt, dass Alkohol mein einziger treue Freund und Helfer ist.

Der heutige Tag lief verdammt scheiße. Ich habe meinen Job verloren- auch wenn ich eher gefeuert wurde-, bin mit meiner letzten heilen Hose in der Autotür hängengeblieben, weshalb auch diese jetzt ein Loch hat, und wurde obendrein beim Kiffen erwischt. Der Kerl vom
Stadtreinigungsteam wollte mich allen Ernstes verpfeifen, worauf ich ausgeholt habe und dem Kerl zu verstehen gegeben habe, dass er lieber sein verdammtes Maul halten sollte, wenn ihm sein Gesicht etwas bedeutet.
Das mit dem Job ist mindestens genauso schlimm. Mom versucht uns irgendwie über Wasser zu halten, scheitert jedoch kläglich. Seitdem sich mein Erzeuger- ich nenne ihn absichtlich nich Vater- verpisst hat, stecken wir zwischen offenen Rechnung und vergessenen Krediten. Ich arbeite neben der Schule mal hier und mal da, aber der Job im Jugendzentrum hat mir am meisten Geld eingebracht.
Hat- Vergangenheitsform.

Scheiße, seit wann läuft alles so schief? Wenn mich Mom oder meine kleine Schwester so sehen würde... Fuck, die würden mich mit enttäuschten Blicken übersähen.

Bevor ich noch länger in Selbstmitleid versinke, hebe ich meinen dröhnenden Kopf und betrachte das Geschehen um mich herum, da der Tequila anscheinend immer noch in Arbeit ist.

Eigentlich gebe ich mich in solchen Läden nicht ab. In Läden, wo es vor reichen Schnöseln nur so wimmelt, aber heute ist ein besonders beschissener Tag. Ich will mich wenigstens einmal gut fühlen, wenigstens den Schein erwecken, dass ich mir mit links einen überteuerten Drink leisten kann.
Ein reines Ego- Ding.
Was natürlich nicht so ist. Die verlangen für einen Tequila 15 Dollar! Verkaufen die flüssiges Gold? Jedenfalls werde ich verschwinden bevor die Rechnung kommt. So regle ich das seit Monaten.

Meine Augen bleiben bei einer Frau hängen. Sie hat lange, anbetungswürdige Beine, ein ziemlich knappes Kleid an, das aus der Erotikabteilung stammen könnte und sieht mindestens 5 Jahre älter aus. Genau das, was ich jetzt brauche. Sie beißt sich auf die aufgespritzte Unterlippe und versucht aufreizend zu wirken. Eigentlich ist die Frau so garnicht mein Geschmack oder Typ. Aber ich schenke ihr trotzdem ein verführerisches Lächeln, welches der Frau zu verstehen geben soll, dass ich total scharf auf sie bin und ihr nachher Gesellschaft leisten werde, ehe ich mich wieder zum Tresen umdrehe.

Im selben Moment taucht der Barkeeper vor mir auf, stellt das Glas ab und verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Wenn der Kerl alle Gäste so behandelt, wird er am Ende des Tages nicht viel Trinkgeld kassieren, soviel steht fest.

„Schlechten Tag gehabt?", ertönt eine tiefe Stimme neben mir. Mit hochgezogener Augenbraue drehe ich mich zur besagten Person um. Der Kerl ist anfang dreißig, ist breit gebaut wie Meister Proper und knabbert am Olivenspieß seines Martinis. Dabei liegen pechschwarze, zurückgegelte Haare wie ein Teppich auf seinem Schädel. Sowas soll gut aussehen?

„Kann man so sagen, ja." Eigentlich sollte er spätestens jetzt verstehen, dass ich kein Bock auf Konversationen habe- jedenfalls nicht mit nem Mann und schon garnicht mit ihm. Erwartet der Kerl, dass ich ihm meine Lebensgeschichte erzähle? Bestimmt nicht.

Er nickt schwach. „Das kenne ich. Du siehst nicht gerade so aus, als würdest du hier her gehören." Ist das so offensichtlich?

Ich mustere ihn provokant „Was soll's? Du doch auch nicht."

Ein ekelhaftes Lächeln breitet sich auf seinen dünnen Lippen aus. „Ich gehöre überall hin, Junge. Wie heißt du?"

Ich überlege einen Moment und wähle den sicheren Weg. „Miles."

Anscheinend kauft er mir die Lüge nicht ab, lässt es jedoch unkommentiert. „Okay Miles ich werde dir mal was verraten. Ich könnte dein direktes Ticket raus aus all den Problemen sein." Jetzt werde ich hellhörig. „Du scheinst mir ein anständiger Kerl zu sein und ich suche zufällig nach einem... Helfer." Eltern prägen einem bereits in der Kindheit ein, nicht mit Fremden zu reden und erst recht nichts von ihnen anzunehmen. Zum Glück verlief meine Kindheit alles andere als stereotypisch.

„Helfer wobei?"

„Ach, mal hier, mal da. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann." Ich weiß sofort, wovon er spricht. Mit Drogen dealen, illegale Sachen vertickern oder was auch immer er verlangt. Bisher habe ich mich von sowas ferngehalten, aber mal im ernst: Kann mein Leben noch beschissener werden? Und das Geld kann ich gebrauchen.

„Wer bist du?", frage ich skeptisch.

„Ich bin Oscar. Mehr musst du nicht wissen." Ehe ich nachfragen kann, schiebt er mir einen Zettel entgegen, auf dem eine undeutliche Handynummer steht. „Wenn du Interesse hast, dann melde dich die Tage bei mir. Lass dir aber nicht zu viel zeit. Die Liste an Interessenten ist lang." Mit diesen Worten steht er auf und taucht in der Menschenmasse unter.

Ich kippe den Letzten Schluck Tequila runter und suche nach der Frau, die mich vorhin alleine schon mit Blicken ausgezogen hat. Ich kann es kaum abwarten, dass wir ihre Fantasien in die Tat umsetzen. Ich brauche nicht lange zu suchen, bis ich fündig werde.

Auf dem Weg zu ihr schwirrt mir dieselbe Frage in dauerschleife durch den Kopf: Bin ich wirklich so tief gesunken, dass ich Oscars Angebot annehme?

„Hallo Schöner", flüstert die Fremde in mein Ohr sobald ich neben ihr zum Stehen komme. „Ich bin Gabriela. Du kannst mich aber einfach Gabby nennen."

„Freut mich dich kennenzulernen, Gabby." Ohne lange zu zögern überbrücken wir die Distanz zwischen einander und ich flüchte für die nächsten drei Stunden vor meinen Problemen. Ich flüchte vor der bitteren Realität.

Das was wir nicht sagen, sammelt sich im Körper an. Es verwandelt sich in Schlaflosigkeit, Trauer, Zweifel, Nostalgie, Knoten im Hals, Schmerz und dieses ekelhafte Pochen in der Brust. Das was wir nicht sagen, stirbt nicht. Es formt sich zu einer riesigen Kugel. Dann tötet es uns nach und nach ab.

Out Of The BlueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt