Mondkraut

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Kapitel 47

Die Tage vergingen und ehe man sich versah, war der September bereits bis zur Hälfte vorüber und es wurde langsam Zeit für den Aufbruch. Sie hatten so viel erlebt, hatten interessante Sachen über norwegische Ausgrabungsstätten gelernt, hatten sich in allen möglichen Orten in der Umgebung herumgetrieben und waren viel zu lange in dem alten Arbeitszimmer gesessen um alte Aufzeichnungen zu sortieren und umzuräumen. Mittlerweile war es kalt draußen, regnerisch und feucht. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, und wenn die Sonne schien, erreichte ihr warmes Licht nicht mehr die Erde. Sententia hatte zwar hin und wieder noch Erinnerungsaussetzer, die dann für ein paar Minuten anhielten und dann wieder verschwanden, aber es besserte sich und sie würde wieder arbeiten können. Severus hatte einige Ordner und Karton mit vollgeschriebenen Pergamentblättern verkleinert und einige interessante Zutaten aus den Regalen mitgenommen.

„Weißt du, ich werde den Wald und den See hier echt vermissen“, sagte Sententia, als sie vor dem Esstisch standen und warteten, bis die kleine Tasse vor ihnen blau glühte und der Portschlüssel somit aktiv wurden.

„Ich auch, aber du bekommst deinen Wald und deinen See und sogar deine Klinik wieder zurück“, erwiderte Severus.

„Du hast recht.“ Sie sah sich ein letztes Mal im Raum, sah die spärlichen Möbel, das Sofa, der Tisch, die Regale, die von kaltem Dämmerlicht überzogen waren, sah zu Severus, der sich auch noch einmal umblickte, allerdings so, als fürchtete er, dass jemand hinter ihm stand, dann wurden sie von einer unsichtbaren Kraft am Finger festgehalten und die ganze Welt drehte sich.

Kaum eine halbe Minute später konnte Severus wieder festen Boden unter seinen Füßen spüren. Sie waren in der Wohnung der Heilerin gelandet, durch die der kleine Bach mit duftendem Wasser floss. Er würde das große schwarze Bett vermissen. Er würde vermissen, wie sie aussah, wenn sie kurz vor dem Aufwachen war und ihre Haare über das dunkle Kissen verteilt waren wie ein Heiligenschein, und wie das Nordlicht, das gegen Ende noch zwei Mal über dem Flachdachfenster stand, das ganze Zimmer blau und grün gefärbt hatte.

„Es ist wie eine große Umarmung, wieder hier zu sein. Spürst du das?“, fragte Sententia leise und ging zwei Schritte auf ihn zu. Severus nickte langsam. Er hatte an einigen Orten gelebt, aber das hier war bei weitem sein liebster.

„Wollen wir unten frühstücken? Das Buffet ist noch bis um 9 offen“, schlug Sententia vor und wies ihren Koffer mit einem Schwenk ihres Zauberstabs an, sich auszuräumen. Severus hingegen ließ seinen Schlüssel durch die Zimmertür fliegen und ihm hinterher sein eigener Koffer.

Etwa eine halbe Stunde später, es war jetzt halb 9, betraten sie die Cafeteria. Sofort schlug ihnen der Duft von heißem Kaffee und Kuchen und Früchten ins Gesicht. Eine Frau kehrte gerade mit einer Geste ihrer Finger ein zerbrochenes Glas zusammen und wollte sich gerade umdrehen, als sie auch schon Sententia sah und ihnen entgegenstürmte.

„Polly, au wei! Kaum sind wir mal für ein paar Wochen nicht im Haus und schon zerstörst du meine schönen Gläser!“, rief Sententia gespielt vorwurfsvoll und lachte, als sie merkte, wie Severus leise „Reparo“ murmelte und sich der Scherbenhaufen in die Höhe hob, um sich auf dem Weg zur Tischplatte wieder zusammenzusetzen.

„Oh Kindchen, ihr seid wieder da! Das ist ja wundervoll, wir haben uns schon gefragt, wann ihr wieder kommt“, sagte sie und umarmte zuerst Sententia und dann Severus, der es größtenteils wehrlos über sich ergehen ließ. „Ich glaube, Alice macht gerade ihren Rundgang. Wir hatten eine Pliriwaix-Vergiftung. Ein wirklich ganz hässlicher Ausschlag, der arme Kerl. Hatten wir aber tatsächlich schon länger nicht mehr. Du solltest sie nach dem Essen mal suchen gehen, sie wollte dringend mit dir sprechen. Setzt euch doch. Fiona geht es wieder gut. Ein bisschen blass um die Nase ist sie noch, aber das wird auch nicht besser, denke ich.“ Sie führte sie zu ihrem Stammtisch und zog sich selbst einen Stuhl dazu. „Jetzt erzählt mal. Wie wars? Ist das Haus schön?“

„Sehr sogar. Ein bisschen dunkel, aber es gibt ein Flachdachfenster durch das man die Sterne sehen kann. Oder Nordlichter. Ich hab noch nie etwas so wunderschönes gesehen“, erwiderte Sententia.

„Es gab eine Menge Aufzeichnungen, die wir durchforstet haben. Einiges könnte interessant für Mr Hope sein“, ergänzte Severus. In dem Moment ging die Tür auf und Alice kam herein. Sie wirkte etwas gestresst, aber das lag daran, dass sie seit einem halben Monat Doppelschichten schob und zusätzlich den ganzen Bürokram zu erledigen hatte. Eine schwere Last schien von ihr abzufallen, als ihr Blick auf den Tisch fiel.

„Oh ihr Lieben, ihr seid wieder da! Wann seid ihr angekommen? Ihr müsst mir alles erzählen. Fran dürfte auch gleich kommen, sie ist fast in mich reingerannt, meinte, sie müsse noch was holen und würde dann einen Kaffee hier trinken wollen.“

Severus murmelte etwas Unverständliches, aber es klang so, als hätte er etwas von wegen, „wenn man vom Teufel spricht“ gesagt, denn ein zweites Mal ging die Tür auf und Fran trat ein.

„Meine Güte, ich dachte schon, ihr würdet nie mehr zurückkommen!“

„Und du sprengst in der Zwischenzeit meine gute Klinik? Vergiss es. Alles klar?“

„Jaah, alles bestens. Jetzt erzählt mal“, sagte sie. „Was habt ihr da oben getrieben.“

Sententia biss sich für eine winzige Sekunde auf die Unterlippe und Severus Blick huschten ganz kurz durch den Raum, dann sagte er völlig trocken, „Wir waren einkaufen.“

Es folgte ein Gespräch über Nordlichter, die Hansens und den Wald hinter dem Prince-Haus, und ein ausführlicher Bericht über alle möglichen Patienten, die zu ihrer Abwesenheit in der Klinik waren. Alice war sehr erleichtert, als Sententia ihr eröffnete, dass sie bereits am Dienstag wieder arbeiten würde, schließlich war Montag immer noch ihr freier Tag, und Fran war froh, dass sie keine Tränke mehr brauen musste.

Da es draußen sonnig war und es nichts Wichtiges zu tun gab, gingen sie spazieren. Sie wollten Mondkraut pflücken, das nur am Vollmondtag blühte. Eine leichte Nebelschicht lag über den Sträuchern und Moosen, die über den gesamten Erdboden verteilt war und ihn zudeckte, wie ein Schleier das Gesicht einer Braut. Es war fast gespenstisch und bitterkalt, aber ihre Umhänge hielten sie warm. Dann, inmitten einer kleinen Lichtung, die wie eine kahlrasierte Stelle auf dem Waldboden prangte, strahlte es so hell wie das Licht, das es beschien.

„Oh ich liebe Mondkraut“, hauchte Sententia leise und bückte sich.

„Es tut seinen Zweck“, erwiderte Severus und reichte ihr eine kleine Sichel, die in dem Mondwasser des letzten Vollmonds getränkt war. Sententia schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das meinte ich nicht“, sagte sie, legte die Sichel zur Seite und griff nach seiner Hand. Sie legte sie auf das glitzernde Kraut. „Spürst du, was ich meine?“

Severus stutzte. Das Kraut war weich, samtig und warm als hätte es jeden Sonnenstrahl aufgefangen und in seinem inneren gespeichert. Ihm war es noch nie aufgefallen, was verwunderlich war, denn er brauchte Mondkraut häufig für seine Tränke.

Es war etwa um die Mittagszeit, als sie sich wieder auf den Rückweg machten. Der Nebel war dichter geworden, die Sonne hinter dunklen Gewitterwolken verschwunden und es war so eisig kalt, dass es ihnen so vorkam, als wäre es Mittwinter. Es dauerte nicht lange und es fing an zu reden. Es war ein Wunder, dass die Tropfen nicht gefroren waren. Die Tropfen peitschten ihnen entgegen, so hart, dass es brannte. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, wie sich das Wetter plötzlich so verändern konnte und noch weniger, warum ihre Zauber abgeschwächt wurden.

„Severus? Sieh dir das an!“, rief Sententia durch den Donner und hielt seine Hand fest, als er weiter durch die dichten Sträucher dringen wollte.

„Was hast du?“, fragte er und fuhr herum, aber als er dem Blick der Heilerin folgte, wusste er sofort, was sie meinte.

In dem Stamm einer großen Linde war ein blutendes Hexagramm mit einem geblendeten Auge eingeritzt, das sie anstarrte…

Schwarze Nacht und dunkelblauer SternenhimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt