Die Geschichte der Heilerin

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Kapitel 34

Die kommenden Tage vergingen wie im Flug und bald begann der Juli. Severus hatte sich während den letzten Junitagen in seiner Wohnung verbarrikadiert und war noch nicht einmal zum essen herausgekommen. Er sprach mit niemanden, noch nicht einmal mit der Heilerin und als er dann nach knapo drei Tagen wieder herauskam, war es als wäre nichts gewesen.
Auch Anfang Juli waren die Folgen des Krieges waren immer noch überall präsent, zum Beispiel wenn Sententia nach Hogsmeade ging um Besorgungen zu machen oder ihre Patienten aufsuchte. Sie konnte das scheinbar endlose Leid nicht mehr ertragen, wenn sie den Geschichten lauschte, die sie ihr erzählten oder sie die Unterlagen durchlas. Viele hatten Teile ihrer Familie verloren, einige waren noch immer nicht aufgetaucht und sie erwarteten jeden Moment, die Nachricht zu erhalten, dass eine weitere Leiche gefunden worden sei.
Es schien nicht aufzuhören. Nicht selten suchte sie daher die Entfernung zur Zaubererwelt, indem die jeglichen Patientenkontakt vermied, der nicht zwingend notwendig war. Sententia verbrachte die meiste Zeit in ihrem Büro, das glücklicherweise ein wenig abseits den Patientenzimmern war, oder saß stumm an der Glasfront, die sich von der Cafeteria in die Eingangshalle zog, um sich stundenlang in Medizinbüchern zu vertiefen, welche sie sicher schon tausende Male gelesen hatte.

Severus beendete seine Arbeit für gewöhnlich gegen Abend hin und musste sie suchen, damit sie vor lauter Sorgen nicht vergaß zu essen. Gerade in den letzten Tagen wurde sie von den schrecklichsten Albträumen heimgesucht, die nicht nur mit ihrer Arbeit zusammenhingen. Das ereignete sich immer um den 3. Juli herum und eigentlich hätte sie nach 29 Jahren daran gewöhnt sein müssen. Die effektivste Möglichkeit dagegen war, wie sich herausstellte Kaffee, um weniger schlafen zu müssen. Das führte allerdings dazu, dass ihre Geduld von einem Moment auf den anderen aussetzte und ihre Stimmung täglich mehrmals zwischen Übermotivation und Antriebslosigkeit kippte. Normalerweise kam sie mit ihrem Arbeitsalltag gut zu recht, aber die Patienten waren viel zu viele und die Zeit war einfach schlecht.

„Sententia, wir haben halb acht. Du wirst doch wohl nicht schon wieder ohne Abendessen ins Bett gehen wollen“, sagte Severus, als er wie an jedem Abend in die kleine Sitzecke der Eingangshalle kam, um nach seiner Heilerin zu suchen. „Was hast du?“, fragte er. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie lange geweint.

„Gar nichts, es ist nur… Ach Severus, ich weiß es doch auch nicht. Es macht mich gerade alles fertig. Ich…Ich…Ich weiß es einfach nicht…“, sagte sie verzweifelt. Mehr brachte sie nicht hervor, da ihre Stimme versagte, als sie von einem weiteren Heulkrampf ergriffen wurde.

Severus hatte sie noch nie so weinen sehen und die Verzweiflung in ihren Augen brach ihm das Herz, sodass er nichts anderes tun konnte, als sie in den Arm zu nehmen, um sie irgendwie zu beruhigen. Die Eingangshalle war zum Glück bis auf die beiden komplett leer und so wurden sie nicht von neugierigen Blicken beäugt.

„Möchtest du darüber mit mir reden?“, fragte Severus nach einiger Zeit, in der sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte und jetzt „nur noch“ in seinen Umhang wimmerte, den er zum Arbeiten trug. Sie nickte zögerlich.

„Es ist schrecklich…es ist alles so schrecklich. Ich finde kaum Schlaf und wenn, dann träume ich von meinem Vater. Kein Trank hilft mehr, immer wenn ich die Augen schließe sehe ich ihn“, schluchzte sie verzweifelt. Severus wusste, dass ihr Vater fürchterlich gewesen sein musste, aber es schien sie nach so langer Zeit noch schlimmer zu verfolgen, als es bei ihm war.

„Was hat er dir nur angetan“, flüsterte er mit vor Wut bebender Stimme. Er erwartete keine Antwort und war deshalb umso erstaunter als sie ihm eine gab.

„Er ist nach einer seiner Sauftouren zurückgekommen, das war heute vor 29 Jahren. Mum war im St Mungo und hatte eine Schicht von ihrer Kollegin übernehmen müssen, weshalb ich alleine war. Das war öfter so, normalerweise ist er ja auch nicht vor Morgengrauen nach Hause gekommen, aber so war es nicht an diesem Abend“, erzählte sie mit Panik in der Stimme. Severus hielt sie noch immer fest in seinen Armen. „Ich hatte nicht mit ihm gerechnet, saß gerade im Wohnzimmer und habe gemalt, als er auf einmal hinter mir stand. Er muss durch die Hintertür gekommen sein, sie geht nämlich ohne irgendein Geräusch auf und zu und man hört die Schritte auf dem Teppichboden nicht. Hielt eine Glasflasche in der Hand, halb leer, so wie er klang war das mindestens seine vierte gewesen. Ich hatte mich gerade umgedreht, weil ich die Flasche brechen gehört hatte, als er auch schon ausholte. Er hat mich geschlagen, wie er es noch nie getan hatte. Ich hatte keine Zeit um auszuweichen. Dann nahm er die Flasche. Oh Gott, Severus, er hat mich umgebracht!“ Wieder überkam sie ein schrecklicher Heulkrampf, noch schlimmer als der davor und sie konnte ihn nicht stoppen.

„Ist ja gut. Ganz ruhig. Er ist nicht hier, Liebes“, sagte Severus leise. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen, als sie sanft hin und her zu wiegen und ihr beruhigend über den Rücken zu streicheln. Er entschloss sich dazu, mit ihr in seine Wohnung zu apparieren, da er dort noch einige starke Anti-Albtraum-Tränke hatte und sie sich dort hinlegen konnte.
Severus half ihr in das Schlafzimmer und ihm fiel auf, dass sie seltsam geknickt lief. In der Taillenebene auf ihrem Umhang zeichnete plötzlich sich eine dunkelrote Spur ab, die vor wenigen Minuten noch nicht da gewesen war.

„Sententia, du blutest!“, meinte Severus besorgt. Sie tastete nach der Stelle und als sie ihre Hand zurückzog, war sie blutverschmiert. „Lass mich das ansehen.“

Sie zögerte kurz, dann nickte sie jedoch und ließ Severus ihren Umhang hochziehen. An ihrer rechten Flanke zog sich eine Narbe entlang, die aufgerissen zu sein schien. Sie konnte kaum älter als ein Jahr sein, doch der Schnitt war so tief, dass er hätte tödlich sein müssen. Bei seinen Berührungen zuckte sie zusammen und riss voller Panik die Augen auf. Es war die selbe Art von Panik, die in ihren Augen blitzte, wie die, die sie hatte, wenn sie von ihrem Vater erzählte.

„Ruhig, Sententia“, sagte Severus leise, bis sie zitternd, aber mehr oder weniger still, da lag.
Severus stürzte zu einem Schrank, in dem er Arzneimittel für den Notfall aufbewahrte. Er holte auch zwei Fläschchen hervor, eines davon war ein blutbildender Trank, das andere enthielt einen Trunk des Friedens.

„Trink das“, sagte er, während er ein Tuch auf die Wunde drückte, um den Blutfluss zu stoppen.

Severus wusste sofort, dass es ihr Vater war, der dafür verantwortlich war. Das hatte sie damit gemeint, als sie sagte, er hätte sie umgebracht. Eine solche Verletzung hätte sie niemals überlebt. Er war erfüllt von Entsetzten und Wut. Wie konnte man so etwas nur seiner unschuldigen Tochter antun? Wie konnte man so etwas nur irgendjemandem antun?
Irgendwann, keiner von ihnen konnte sagen wie lange es dauerte, versiegte der Blutfluss und nach zwei starken Heiltränken begann die Wunde, sich zu schließen.

„War das dein Vater?“ Sententia nickte müde. „Wann?“

„Vor 29 Jahren.“

„Aber es war noch recht frisch.“

„Es ist jedes Jahr um die selbe Zeit. Ich hatte sie heute fast vergessen, sonst hätte ich irgendwelche Vorkehrungen getroffen. Sie sollte mich immer daran erinnern, dass ich eine zweite Chance bekommen habe“, erwiderte sie.

„Deine Mutter hat dich gerettet“, stellte er fest. Die Heilerin nickte wieder und zwang sich zu einem Lächeln.

„Sie ist 5 Minuten später gekommen. Er war wieder weg. Er hat mich einfach liegen gelassen, bis ich verblutet war. Als Mum heim gekommen ist, hatte mein Herz schon seit einigen Minuten nicht mehr genug Blut zum pumpen gehabt. Aber die Liebe einer Mutter kann den Hass eines Vaters übertrumpfen. Es waren ihre Tränen, die mich gerettet haben und es war ihr medizinisches Können, das mich am Leben hielt. Das ist der Grund warum ich Heilerin geworden bin“, flüsterte Sententia leise. Eine letzte stille Träne rann an ihrer Wange entlang, dann schloss sie vor Erschöpfung die Augen und schlief in Severus Armen ein.

Schwarze Nacht und dunkelblauer SternenhimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt