Der goldene See

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Kapitel 46

Da die Ausgrabungsstätte erst gegen 15 Uhr öffnete, war noch genügend Zeit für einen Spaziergang. Manchmal redeten sie gar nicht miteinander, manchmal führten sie tiefsinnige Gespräche oder fachsimpelten über irgendwelche Themen und diskutierten über ihre Arbeit oder irgendwelche Bücher. Die Sonne schien ein bisschen träge durch den bewölkten Himmel, aber hier und da konnte sich ein Sonnenstrahl durch das Dach stehlen und über den See tanzen, sodass er gold-blau glänzte. Es würde sicher zufrieren, wenn es hier noch ein paar Grad weniger hätte, und bestimmt würden die Hansens und die Dahls sich hier treffen und den Kindern dabei zusehen, wie sie Schlittschuh fuhren. Die Dahls hatten ein Mädchen und einen Jungen, Mai und Findus hießen sie, allerdings wohnten die Dahls in der Osthälfte des Dorfes und die Hansens in der Westhälfte und da die beiden Seiten knapp drei Kilometer auseinander lagen, sahen sich die Kinder, wie Liv erzählte, meistens nur in der Schule.

„Es gab da dieses alte Haus, bei dem wir immer gespielt haben. Eine Straße neben der, wo Alice gewohnt hat. Manchmal haben wir uns bei der Kellertür reingeschlichen, man konnte von außen eine Treppe runterlaufen, und dann haben wir immer die ganzen Zimmer erkundet. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist es ziemlich gruselig, um ehrlich zu sein, ich meine, es sah so aus, als würde noch jemand dort leben, alle Möbel waren noch da und sogar in den Schubladen waren Gegenstände. Es fühlte sich an, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben“, sagte Sententia, als sie sich auf einer Bank, am anderen Ende des Sees niedergelassen hatten.

„In Cokeworth gibt es nur alte Häuser, allerdings sind sie nicht gruselig, sondern einfach nur trist. Die ganze Gegend ist einfach nur trist, Spinner´s end ganz besonders. Es gab eine große Wiese mit einem Baum. Früher haben wir dort gespielt, so konnte ich wenigstens dann von dort weg.“

„Es muss wirklich schrecklich gewesen sein. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid mir das tut, was dir angetan wurde. Das hast du nicht verdient.“

„Mag sein, aber wer hat das schon? Was muss man in seinem Leben getan haben, um so etwas zu verdienen?“

„Du hast recht…Erzählst du mir von deiner Kindheit? Ich meine, dass musst du nicht, aber ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der dich versteht.“

„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist…“

„Du fürchtest, dass ich überfordert wäre? Dass ich dich nicht mehr lieben würde, weil mir das alles zu viel sein könnte?“

Er schwieg, aber er schien nachzudenken, weil die Furche zwischen seinen Augenbrauen noch ein bisschen tiefer und noch ein bisschen angestrengter wurde. Niemand wusste davon. Nicht einmal Lily hatte alles gewusst und das war wahrscheinlich auch besser so, so konnten sie wenigstens noch 7 Jahre in Freundschaft leben, bevor alles einfach weg war.
„Es ist nicht so einfach“, sagte er schließlich. „Meine Mutter war eine Hexe und mein Vater nicht, aber er wusste nicht, dass sie zaubern konnte, bis sie geheiratet hatten. Zuerst war er einfach nur so schrecklich, hat vor allem sie immer wieder geschlagen und sie hat sich meistens noch nicht mal gewehrt. Sie hat alles einfach über sich ergehen lassen. Um zu verhindern, dass sie alles irgendwem erzählt, hat er sie eingesperrt. Nicht, dass sie das abgehalten hätte, nach draußen zu gehen, aber sie hatte zu große Angst, er würde es bemerken. Als er dann später mit dem Trinken angefangen hat und öfter nicht da war und unaufmerksam wurde, hat sie immer die Hintertür aufgesperrt, um mich raus zu lassen. Sie hat mir das Zaubern beigebracht, bevor ich überhaupt erst auf Hogwarts aufgenommen wurde.“

Sententia sagte nichts. Sie hörte einfach nur zu und es war so gut, zu wissen, dass jemand zuhörte.

„Aber je mehr er getrunken hatte und je älter ich wurde, desto wütender wurde er. Irgendwann ließ er seine ganze Wut ausschließlich an mir aus. Als hätte ich damals nicht schon genug Probleme in der Schule gehabt. Aber denkst du, meine Mutter hätte irgendetwas dagegen getan? Nein. Sie nicht.“

„Ich bin mir sicher, sie hatte selbst schreckliche Angst. Wenn es wirklich so schlimm war, wie du erzählst, und daran habe ich keine Zweifel, dann hatte sie einfach nur Angst, dass er euch noch schlimmer weh tun konnte. Zu dem Zeitpunkt war sie schon gebrochen“, sagte Sententia leise.

„Ich bin ihr Sohn! Sie hätte mich beschützen müssen. Ich war unschuldig, ich war doch noch ein Kind“, presste er hervor. Der Gedanke an das alles schmerzte ihn so sehr, dass er das Gefühl hatte, alles rausschreien zu müssen.

„Du hast recht, Liebling, du hast recht“, sagte sie uns streichelte über seine Wange. „Es tut mir so unfassbar leid, dass dir niemand geholfen hat. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe. Hätte ich doch nur etwas mitbekommen, ich kann einen echt guten Flederwichtfluch.“

Severus Mundwinkel zuckten ein wenig. Wenigstens konnte er lächeln, ab und zu, aber er konnte, und es war gut, zu sehen, dass sie ihn gerade von ganz dünnem Eis gezerrt hatte.
„Jetzt musst du mir etwas von deiner Kindheit erzählen“, forderte er schließlich, nachdem sie eine ganze Weile, mal wieder stumm, auf das Wasser gestarrt hatten.

„Mein Vater war von Natur aus ein bösartiger Mensch. Ich weiß bis heute nicht, warum Mum und er überhaupt zusammen waren. Er hat sie schon seit ich denken geschlagen, ohne jeglichen Grund. Ich denke, er war eifersüchtig, weil sie es so weit gebracht hat. Mit Mut und Freundlichkeit. Mehr brauchte sie nicht. Nur er hat nicht auf die Reihe gekriegt. Getrunken hat er auch schon von Anfang an. Hat seinen Frust dann immer an Mum ausgelassen. Wenn sie arbeiten war und er zuhause, dann war ich sein Opfer. Das Einzige, was er mir beigebracht hat, war, dass ich niemals meinen Mund aufmachen darf, sonst würde er noch brutalere Dinge mit mir machen. Also blieb ich still. Erst als er mich fast umgebracht hätte, hat Mum von allem erfahren. Mein Kleid war ja so zerrissen, dass sie all die älteren blauen Flecke sehen konnte. Zuerst dachte sie ja noch, es wäre ein Unfall gewesen, oder zumindest das erste und einzige Mal. An demselben Abend hat sie ihn weggeschickt. Er war ein feiges Schwein, sich an einem Mädchen und einer jungen Frau so zu vergreifen.“

„Wir haben eine gehörige Scheiße erlebt“, sagte Severus in einem ganz unsnapischen Ton, der Sententia auflachen ließ. Sie saßen lange in der Sonne, solange bis sie irgendwann unterzugehen begann und solange, bis sie die Ausgrabungsstätte völlig vergessen hatten, aber es störte weder sie noch ihn in irgendeiner Weise. Es tat furchtbar gut, zu wissen, dass der andere zuhörte ohne zu urteilen.

Schwarze Nacht und dunkelblauer SternenhimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt