Krähenfüße

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Kapitel 39

Nach einer Woche konnte Sententia tatsächlich wieder aus dem Patientenzimmer raus. Ihre Erinnerungen und Gedanken waren noch immer vernebelt und die Lücken hatten sich noch immer nicht geschlossen. Sie hatte wirklich einen starken Schlag abbekommen und es war unklar, ob sie je wieder arbeiten konnte. Es ging so weit, dass sie sich für einige Tage in ihrem Haus einsperrte und mit niemandem mehr sprach, egal ob es nun Severus oder Alice oder sonst wer war. Sie stellte von Zeit zu Zeit das Essen ein, obwohl sie genau wusste, dass sie nicht übertreiben sollte, da sie sonst ernsthafte Schäden davontragen würde. Sie las viel, eigentlich nur noch, kippte wahllos irgendwelche Zutaten in ihre Kessel, egal ob er explodieren würde oder eine nicht mehr zu identifizierende Mixtur entstand. Sie glaubte an Medizin und Wissenschaft und diesen Glauben hatte man erbarmungslos aus ihr herausgerissen und jetzt hatte sie nichts mehr. Ihr ganzes Leben hatte sie dem Heilen gewidmet, doch jetzt war all das wie ausradiert. Es konnte doch nicht sein, dass alles weg war. Sie würde nicht einfach aufgeben, denn nach allem war sie eine Lavender. Also stürzte sie sich Kopfüber in das Brauen von irgendwelchen alten Tränken.
An einem Nachmittag hämmerte es dann auf einmal an ihrer Tür und obwohl sie sich einige Meter unter der Erde befand und die Luke, die zur Treppe führte, abgesperrt hatte, konnte sie es hören. Frustriert löschte sie das Feuer und stieß zwei Kesselhälften mit dem Fuß zur Seite, dann strich sie ihr Kleid glatt und stieg die Treppe nach oben.

„Jetzt mach doch endlich diese verfluchte Tür auf. Du kannst dich doch nicht auf ewig da einsperren“, klang Severus Stimme dumpf in das Wohnzimmer. Sie seufzte und drehte den Schlüssel herum. Für einen winzigen Moment zeigte sich auf beiden Gesichtern Erleichterung. „Mein Gott, wann hast du das letzte Mal geschlafen?“

Sententia zuckte nur mit den Schultern und ging einen Schritt zur Seite, damit er herein konnte.

„Du hast einen Kessel in die Luft gejagt?“, fragte er wenig überrascht.

„Eigentlich waren es drei. Was willst du hier?“

„Ich wollte dafür sorgen, dass du genügend isst und schläfst. Und Richard schickt dir einen Trank. Sieht für mich aus, wie etwas Neues. Vielleicht hilft es.“ Er holte aus der Tasche seines Umhangs ein kleines Fläschchen hervor. Es leuchtete bläulich und irgendetwas schwamm darin.

„Was ist das denn?“

„Ein alter Krähenfuß, wenn du mich fragst“, erwiderte er trocken und streckte es ihr entgegen.

„Und das muss ich wirklich trinken?“

„Musst du natürlich nicht, du kannst sicher auch drin baden. Ob es dann wirkt, weiß ich allerdings nicht.“

„Weißt du, manchmal tut das, was du sagst, wirklich weh“, sagte Sententia leise und ließ sich resigniert auf die Couch fallen.

„So war das nicht gemeint.“ Er setzte sich neben sie, nahm ihr das Fläschchen wieder aus der Hand und öffnete es. „Mund auf.“

„Nein, ich will nicht!“

„Jetzt komm schon. Es ist doch nur ein Trank. Wenn er wirkt, kannst du deine Klinik wieder zurück haben.“ Ja, damit hatte er ins Schwarze getroffen.

Sie nahm es ihm aus der Hand und kippte es in einem Zug herunter. Der Krähenfuß blieb zum Glück am Glasboden liegen. Eine eiskalte Spur aus etwas, das wie flüssiger Zucker und ebenso flüssiger Pfeffer schmeckte, schoss ihr wie ein Pfeil in den Kopf. Mehr geschah nicht. Er blieb dort einfach und rührte sich nicht mehr von der Stelle.

„Und das wars? Hat ja nicht viel gebracht“, sagte sie enttäuscht.

„Du musst ihm vielleicht einfach ein bisschen Zeit lassen, um zu wirken. Seit wann bist du denn so ungeduldig?“

„Ich weiß nicht, vielleicht, seit ich mir in meiner eigenen Klinik, bei meinen eigenen Kollegen vorkomme, wie eine Ausgestoßene? Vielleicht, seitdem all das Wissen weg ist, das mich zu mich selbst gemacht hat?“, gab sie zurück. Sie klang so unendlich gebrochen.
Oh, zur Hölle mir diesen Ravenclaws, hörte Severus sich denken.

„Sententia, du bist doch nicht nur dein Wissen! Du bist viel mehr, als die Namen von irgendwelchen Knochen und Heilmethoden. Du bist sicherlich die mutigste und gutherzigste Frau, die ich je kennengelernt habe, und sieh dich nur an! Du hast sicher seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen und siehst immer noch aus wie ein Engel.“

„Das ist süß…“, sagte sie leise und sie lächelte wieder und es war, als würde die Sonne nach einer viel zu langen Nacht endlich wieder aufgehen.

„Wie wäre es, wenn du ein bisschen an die frische Luft gehst?“, schlug er vor, als ihm, während er das sagte, eine Idee kam.

„Ich weiß nicht…“

„Oh doch, du weißt. Mit frische Luft meine ich nicht die Waldluft. Weißt du wo die Lofoten sind?“, fragte er. Sententia schüttelte den Kopf. „Sie gehören zu Norwegen.“ Plötzlich funkelten ihre Augen auf. „Ich habe vor einigen Jahren ein kleines Haus dort geerbt. Ich habe gehört, dass dort zu dieser Zeit Polarlichter auftauchen sollen. Was hältst du davon?“

„Nach Norwegen? Oh Severus…Meinst du wirklich?“ Ihre schlechte Stimmung war wie weggefegt und das Leuchten in ihren Augen war zurückgekehrt.

„Paul hat mir erzählt, dass du schon immer mal dorthin wolltest. Einen besseren Zeitpunkt gibt es wohl nicht. Zudem soll es in der Nähe einen Markt geben, auf dem man seltene Zutaten kaufen kann und so wie es hier aussieht, muss dein Vorrat auch wieder aufgestockt werden. Und neue Kessel solltest du dir auch zulegen“, sagte er ein wenig amüsiert.

„Du hast recht. Weißt du, ich glaube, so etwas hat noch nie jemand für mich getan.“ Severus kräuselte zufrieden die Lippen. „Das ist niedlich, wenn du das tust.“

„Ach ist das so?“, gab er amüsiert zurück. „Was hältst du von Morgen?“

„Morgen? Schon?“, erwiderte sie überrascht.

„Du hast mich auch schon mal ins kalte Wasser geschmissen. Ich dachte, ich revanchiere mich mal.“

„Hm ich finde, Morgen klingt gut. Aber wie wollen wir dort hingelangen? Du stehst ja scheinbar nicht so auf Fliegen.“

„Lass das nur meine Sorge sein. Pack einfach deinen Koffer und ich hole dich morgen früh hier ab. Allerdings solltest du trotzdem mit Alice reden. Paul sagt, sie macht sich wirklich Sorgen.“

Sententia seufzte. „Du hast recht.“

„Kommst du zum Mittagessen wenigstens wieder in die Klinik?“

„Ich weiß nicht…Es fühlt sich schlecht an, dort zu sein und nichts tun zu können.“

„Hast du wenigstens etwas Essbares hier herumliegen?“, fragte er, stand auf und ging in die Küche. Sententia folgte ihm.

„Wahrscheinlich. Nudeln oder irgendwelche Pasteten?“

Er wollte fast sagen: „So wie du momentan aussiehst, wäre beides angebracht“, aber er biss sich auf die Zunge und antwortete nur: „Nudeln klingt gut.“

„Dann Nudeln. Machst du Kaffee?“

„Lass mich machen. Du wirst dich jetzt noch eine Viertelstunde hinlegen.“

Schwarze Nacht und dunkelblauer SternenhimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt