Kapitel 10

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Gerädert schrecke ich in die Höhe. Es ist noch dunkel draußen. Lediglich ein paar Straßenlaternen lassen einen kleinen Lichtstrahl ins Zimmer fallen. Zunächst weiß ich gar nicht, wo ich mich überhaupt befinde. Doch dann fällt es mir mehr oder weniger unfreiwillig ein. Denn als ich mich aufsetzen will, lande ich unsanft mit meinem Hinterteil auf dem Fußboden.

„Autsch!"

Sowas kann aber auch nur mir passieren. Wenigstens kann ich mich jetzt wieder erinnern: die Party, mein genialer Plan nach draußen zu fliehen, Mason, Tini, mein Bett...

Ich fühle mich wie ein Vollidiot, wenn ich an das Gespräch mit Mason zurückdenke. Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn er in der Nähe ist. Ich war schon immer besser im Zuhören als im Reden. Der Hintergrund ist mein Zuhause, ich will keine Aufmerksamkeit und erst recht nicht im Mittelpunkt stehen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre unsichtbar, man würde mich einfach übersehen, aber dann denke ich daran, wie allein ich mich manchmal fühle, und entscheide mich dann doch lieber gegen diesen Wunsch. Ich würde mich einfach gerne verstanden fühlen.


Erst gegen Mittag poltert Cathy in die Küche.

„Es tut mir so unendlich leid, Emilia. Echt. Scheiße. Ich hab so ein schlechtes Gewissen. Ich bin bei Samuel eingeschlafen, sowas ist mir noch nie passiert."

Sie scheint wirklich aufgebracht, wie sie kleinlaut und hektisch vor mir steht. Ich habe im Laufe des Vormittags die Wohnung wieder auf Vordermann gebracht. Jetzt sieht man kaum, dass es vor ein paar Stunden noch aussah, als hätte hier eine Bombe eingeschlagen.

Eigentlich bin ich gar nicht mehr sauer auf Cathy und Ally. Das Aufräumen hat mir gutgetan, so konnte ich meine Gedanken sortieren, leider aber auch jeden einzelnen Moment des gestrigen Abends analysieren und zerdenken.

„Ist nicht schlimm. War halb so wild."

Cathy fällt mir dankbar um den Hals und erdrückt mich fast. Ich erschaudere. So viel menschliche Nähe bin ich nicht gewohnt. In mir zieht sich alles zusammen und ich würde mir wünschen, sie würde mich schnell wieder loslassen. Ich fühle mich so unwohl. Meine Erziehung hindert mich daran, dass ich sie von mir wegdrücke. Zum Glück ist der Moment schnell vorbei und sie löst sich von selbst von mir.

„Du bist wirklich die Beste, Emilia. Ich bin dir echt was schuldig!"

Ich nicke nur. Es ist das alte Spiel. Ich kenne das. Ich habe mich oft genug ausnutzen lassen, ohne auch nur einen Mucks zu machen. Ich will mich mit niemanden anlegen, will keinen Streit. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich es auch heute dabei belasse. Ich will einfach nur meine Ruhe.




Als ich das nächste Mal die Aula betrete, ist die Stimmung angespannt. Eine Studentin, die gerade aus der Toilette kommt, bricht in Tränen aus und rennt sofort wieder aufs Klo zurück. Zwei andere umarmen sich. Auch hier sehe ich Tränen blitzen. Dann sehe ich Mason. Bedrückt sieht er auf den Boden, scheint seine Emotionen zurückzuhalten wollen. Seine Haltung ist unsicher, er wirkt unsicher, zerbrechlich. Von seinem sonstigen Sonnenschein-Grinsen keine Spur.

Was ist denn los?

In einem anderen Leben, auf einem anderen Planeten, in einem anderen Körper wäre ich vermutlich zu ihm gegangen. Schließlich kennen wir uns ja etwas und er sieht so aus, als könnte er etwas Beistand gebrauchen. Ich wäre mit gestrafften Schultern, selbstbewusst und mit festen Schritten auf ihn zugegangen und hätte ihm Trost gespendet, ihn gefragt, was ihn bedrückt. In der Realität verstecke ich meine Hände in den Ärmeln meines Hoodies, senke meinen Blick und verschwinde hinter die Tür des Hörsaals.

Was geschehen ist, sollte ich erst nach einer Doppelstunde Mediensemiotik herausfinden.

„Liebe Studierende, liebe Dozentinnen und Dozenten, Professorinnen und Professoren, viele von Ihnen haben sicherlich die bestürzenden Nachrichten aus Kabul gehört. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Familien der dreizehn US-Soldaten, die in Kabul getötet wurden. Diese dreizehn amerikanischen Soldaten sind im Einsatz für unser Land ums Leben gekommen. Lasst uns bitte dankbar für ihren Dienst eine Schweigeminute halten für die Familien, Freunde und Angehörigen dieser Patrioten. Lasst uns den Hinterbliebenen Kraft schenken und für sie beten. Möge Gott die Familien segnen und trösten. Dabei möchte ich Rylee McCollum gedenken, der aus unserer Stadt stammt und vielen von Ihnen ein Familienmitglied, ein Freund, ein Kommilitone oder Bekannter war. Mein herzliches Beileid an seine Angehörigen. Ich und das gesamte Kollegium wünschen Ihnen viel Kraft in dieser schweren Zeit. Danke!"

Die Stimme unseres Uni-Präsidenten hallt durch den Saal, der augenblicklich still geworden ist. Doch diese Stille brennt sich schneidend in mein Herz. Diese Information muss ich erst einmal verdauen. Ich habe heute Morgen in der Tageszeitung von dem Unglück gelesen. Ich finde das, was passiert ist, schrecklich. Aber dass diese Situation mein Umfeld so direkt betrifft, hatte ich nicht gewusst oder auch nur ansatzweise geahnt. Ein Mädchen, das eine Reihe vor mir sitzt, schluchzt auf. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele Kommilitonen ihn wohl gekannt haben. Als Außenstehende empfinde ich die Geschehnisse als furchtbar. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft es sein muss, wenn unter den Verstorbenen sich ein Bekannter von mir befände.

Diese Menschen haben ihr Leben dafür gegeben, dass wir ins Bett gehen können, ohne uns fürchten zu müssen, dass wir uns sicher auf die Straße begeben können und dass wir keine Angst in unserem eigenen Land haben müssen. Diese Soldaten haben meinen höchsten Respekt verdient, ich könnte das nicht. Das ist wahrer Patriotismus und darauf kann unser Land stolz sein.

Nachdem Professor Duncan die Vorlesung frühzeitig beendet hat, da Konzentration nach der Durchsage ohnehin nicht mehr möglich war, verschwinde ich auf die Toilette.

Dort tippe ich Rylee McCollum in das Suchfeld meines Handys ein. Sofort werde ich mit Meldungen von seinem Tod überflutet. Er war gerade einmal 21 Jahre alt. Getötet durch eine Bombe.

Ich schlucke, als ich die Todesanzeigen sehe, die Nachrufe seiner Freunde und Familie. Das kann ich nicht länger ansehen. Schnell klicke ich weiter zur Bilderleiste. Ein junger, attraktiver Mann lächelt mich in einer Uniform an. Man merkt sofort, dass er stolz auf seine Arbeit war. Als mein Blick auf das nächste Bild fällt, setzt meine Atmung für einen Moment aus. Es zeigt Rylee, der einen Arm um ein Mädchen gelegt hat. Ein Mädchen, das ich kenne. Mit zittrigen Fingern tippe ich darauf und gelange auf einen Instagram-Account.

„Ich vermisse dich so sehr. Ich kann nicht mehr atmen ohne dich. Meine Brust, meine Lunge, mein Herz, alles schmerzt und brennt. Ich würde alles geben: Für einen weiteren Tag mit dir. Ich wünschte, ich könnte dich ins Leben zurückholen, nur für eine letzte Umarmung, ein letztes Lächeln, einen letzten Kuss... ein letztes Mal alles.
Ich liebe dich! Deine Tanita"

Die Bildunterschrift lässt mich erschrocken zusammenfahren. Mit einem Mal kommen mir meine Probleme so unendlich klein vor. Ich schlage mir die Hände vor den Mund, aus Entsetzen, aus Trauer und aus Scham. Eine Sicherung in mir springt um. Und das Einzige, was ich noch empfinden kann, ist Hass. Hass mir gegenüber. Ich war eifersüchtig auf sie, auf ihren Körper und auf ihre Lebendigkeit. Ich habe geurteilt, ohne sie wirklich zu kennen. Der Hass in mir überwältigt mich.

Denn die Frau, die an seiner Seite in die Kamera lächelt, ist Tini.



Anmerkung: Mich haben die Nachrichten über diese Soldaten so berührt, dass ich meine Gefühle irgendwie verarbeiten musste und ihnen deshalb einen Platz in dieser Geschichte geben wollte. Ich will mir nicht vorstellen, wie es manchen Amerikanern geht, wo ich, tausende Kilometer und ein ganzes Meer entfernt, noch immer entsetzt darüber bin. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, seinen Sohn, seinen Freund, Vater der Kinder oder Bekannten auf diese Weise zu verlieren. Themen wie Corona, Moria, Klimawandel, BLM und andere aktuelle Geschehnisse lasse ich weg. Die Handlung spielt in meiner Fantasie und hat nichts mit unserer aktuellen Gegenwart zu tun.

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt