Kapitel 11

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TRIGGERWARNUNG

In diesem Kapitel kommt Bulimie vor. Ich bitte euch nur bis zu den Sternchen zu lesen, wem das zu viel ist. Emilia wird das nur einmal machen, deshalb kann man den Plot auch ohne diese Stelle verstehen ;-)


Noch immer voller Schock breche ich in Tränen aus. Ich weiß nicht einmal genau, warum. Weil Rylee so jung völlig unschuldig sterben musste? Weil ich so viel Mitleid mit Tanita empfinde? Weil ich Ungerechtigkeiten hasse? Oder weil ich die riesengroße Last auf meinen Schultern auf mich einzustürzen droht? Vermutlich aber, weil ich nie jemanden so sehr lieben konnte, dass mir dessen Verlust den Boden unter den Füßen nehmen könnte, wie es bei Tini der Fall ist?

Verweint trete ich aus der Kabine und schaue in mein schmerzverzerrtes Spiegelbild. Der Tod sitzt mir noch immer in jeder Faser meines Körpers, durchzuckt mich, wenn ich mir all die bestürzten Gesichter von heute Morgen in Erinnerung rufe. Warum ist die Welt so ungerecht?


Am Nachmittag habe ich mein „Kreatives Schreiben"-Seminar. Unser Professor hat anscheinend spontan umdisponiert. Jedenfalls kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass auch die Studierenden vor mir als Aufgabe bekamen, einen Nachruf auf eine fiktive Person zu schreiben.

„Sag mal, hakts bei Ihnen? Das mach ich nicht! Das können Sie nicht von uns verlangen."

Völlig aufgebracht springt das Mädchen mit den rotgefärbten Haaren neben mir auf und schreit wutentbrannt auf den Professor ein, der scheinbar mit solchen Reaktionen gerechnet hat, denn er bleibt völlig unberührt von ihrer Schimpftirade die Ruhe selbst.

„Wenn Sie sich dann wieder beruhigt haben, würde ich gerne fortfahren. Beim Schreiben von Nachrufen ist es wichtig, dass man seine Gefühle außen vorlässt. Ein Nachruf handelt nicht vom Tod, von der Trauer oder der Wut über den Tod. Ein Nachruf ist das genaue Gegenteil, denn er handelt vom Leben. Man schreibt dabei über das Leben eines Verstorbenen und das möglichst realitätsnah. Man braucht niemanden durch den Dreck ziehen, ebenso wenig ist es aber zielführend, die schlechten Seiten des Verstorbenen zu kaschieren."

Er erklärt, dass man als Redakteur Nachrufe meist nur von Prominenten selbst verfasst, die weniger bekannter Personen werden oft von den Angehörigen oder Freunden selbst geschrieben. Während er weiter über unsere Aufgabe spricht, schweift mein Blick aus dem Fenster. Einen Nachruf zu verfassen, scheint mir angesichts der jetzigen Situation das wohl Schwerste, was es gibt. Auch wenn die Person, über die ich schreiben soll, meiner Feder entspringen soll, werde ich immer Rylees Gesicht vor Augen haben.

„Ein Nachruf soll neutral sein, alle Etappen des Lebens erfassen, informieren, aber gleichzeitig sollen Sie auch Ihre Wertschätzung für den Verstorbenen, sein Leben und Wirken ausgedrückt werden. Sie sollen also keinesfalls irgendwelche längst vergessenen Geschichten neu aufrollen oder gar aufdecken. Das Bekannte reicht völlig aus. Ein kurzer Abriss über die Herkunft, die Berufe der Eltern, ob der Verstorbene Geschwister hatte, dann folgen der eigene Werdegang, berufliche Erfolge, Leidenschaften, persönliche Verdienste, Hobbys, was dessen Leben dominiert hat, und ob er Einfluss auf irgendwelche nennenswerte Entwicklungen genommen hat. Ich bin gespannt auf Ihre Ergebnisse."

Und ich erst.




Als ich den Flur betrete, werde ich von Ally begrüßt, die mich in die Küche lotst.

„Emilia! Gut, dass du da bist. Ich habe Donuts gebacken. Das hilft mir, meine Gedanken zu sortieren. Willst du auch einen?"

Mit einer Schürze um den Hals steht Alison in der Küche. Als ich die Aufschrift darauf lese, müsse ich grinsen: „Weltbeste Naschkatze" steht dort in geschwungenen Lettern.

Leider wartet Ally meine Antwort gar nicht ab, sondern deutet mir an, mich zu setzen und legt vor uns beiden zwei Donuts ab.

„Harter Tag, was?"

Sie sieht mitgenommen aus. Ob sie Rylee wohl auch gekannt hat?

„Jetzt essen wir aber erstmal" und damit beißt sie beherzt von ihrem Donut ab.

Egal, wie sehr ich mich dafür hasse, mein Kopf beginnt zu rattern, noch bevor der Geruch des Donuts meine Nase überhaupt erreicht hat. Mein Mund fühlt sich staubtrocken an, meine Kehle eng. Ich kaue auf meine Wange herum, als ich meinen Blick von dem Donut mit Schokoglasur reiße, der noch immer erwartungsvoll vor mir auf einer Serviette liegt. Aber mir ist jeglicher Appetit vergangen.

„Rylee war Tanitas Freund, seitdem ich sie kenne", beginnt Ally. „Es sollte sein letzter Einsatz sein, bevor Weihnachten nach Hause kommt und studiert. Er wollte Lehrer werden. Ich habe ihn nur vom Sehen gekannt. Aber Tini hat so viel von ihm erzählt, dass es sich angefühlt hat, als wäre er ein guter Freund gewesen."

„Das ist alles so schrecklich!", ich seufze auf, „Die arme Tanita."

„Ich habe vorhin mit Will telefoniert. Sie hat ihr Zimmer den ganzen Tag nicht verlassen."

Bestürzt schließe ich kurz die Augen und denke an all die Angehörigen der vielen Verstorbenen. Das Leben so vieler Menschen ist zerstört. Durch eine Bombe.

„Will, Mason und Tini haben eine gemeinsame WG", erklärt sie mir nach einer Weile, in der niemand von uns einen Ton rausgebracht hat.

Ally schiebt sich das letzte Stück ihres Donuts in den Mund, dann schleckt sie sich die Schokokrümmel vom Finger, bevor ihr Blick auf meinen noch immer unangerührten Donut fällt.

„Du hast ja noch gar nicht probiert, Emilia. Ich hab mir solche Mühe gegeben. Ich backe nicht sehr oft, das ist eher Cathys Revier. Aber ich musste irgendwas tun, sonst wäre ich durchgedreht."

Ich schlucke meine Angst hinunter. Unmöglich kann ich jetzt einfach gehen. Ich würde mich erklären müssen, warum ich den Donut nicht gegessen habe.

Vorsichtig beiße ich in den Donut. Messerscharf schneiden meine Zähne durch das Gebäck. Zucker, Fett und Teig mischen sich in meinem Mund. Bissen für Bissen. Und plötzlich ist er weg. Mein Blick fällt auf die leere Serviette, in der noch ein paar fette Krümel liegen. Warum habe ich das Ding eigentlich gegessen? Mein Magen verkrampft sich. Augenblicklich fühle ich mich dick, schmutzig und hässlich.

Abrupt schiebe ich meinen Stuhl zurück.

Alison sieht mich erstaunt an. „Was ist los?"

„Nichts", murmle ich, „ich muss nur mal aufs Klo."

*                                           *                                    *                                  *                            

Schnell schlängle ich mich an dem Tisch vorbei und steuere die Toilette an. Ich schließe ab und knie mich hin. Durch den Stoff meiner Jeans fühlen sich die Fliesen kalt an. Es passiert, ohne dass ich darüber nachdenke. Ich stecke mir den Finger in den Hals und fange automatisch an zu würgen. Salzige Tränen laufen über meine Wangen. Ich schiebe den Finger noch ein Stück weiter und übergebe mich. Das Geräusch der Donutstückchen, die in die Toilettenschüssel spritzen, ist ekelerregend. Die Essensreste treiben im Klo wie tote Fische im Meer. Ich drücke den Spülkasten und sofort füllt klares Wasser die Schüssel. Auch mein Kopf fühlt sich durchgespült an. Es ist zum Heulen. Voller Wut trete ich gegen die Kloschüssel. Kann mein Tag eigentlich noch schlimmer werden?

Was habe ich nur getan? Schockiert über mich selbst lehne ich mich gegenWand. Ich bin erbärmlich.

Ich versuche zu atmen, doch Panik steigt in mir auf. Für wenige Sekunden passiert nichts. Die Zeit scheint für einen Moment stillzustehen. Ich fühle mich schwerelos und leicht. Als könnte ich fliegen. Ich halte den Atem an und starre auf die bunten Explosionen vor mir, die ich nur verschwommen wahrnehme. Stechende Schmerzen durchfahren meinen Körper immer und immer wieder.

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt