Kapitel 20

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„Warum stößt du mich immer wieder von dir und ziehst dich zurück?"

„Weil ich nichts wert bin."

Zischend vor Schmerz will ich ihm meine Hand entziehen, die er noch immer fest umklammert hält. Aber dafür ist es schon zu spät. Mein Ärmel ist ein Stück weit hochgerutscht. Sein Blick ist auf die blauen Flecken, die roten Wunden und die Narben fixiert. In seinen Augen spiegelt sich Entsetzen, Verwirrung und dann Erkenntnis. Vor Schreck zucke ich zusammen, als mir dies bewusst wird. Schnell winde ich mich aus seinem Griff und ziehe den Stoff meines Pullis so weit es geht über meinen Arm, um die Stelle zu bedecken. Aber das ändert nichts an dieser erdrückenden Tatsache: Er hat es gesehen. Ich weiche einen Schritt zurück. Übelkeit beginnt sich in meiner unteren Magenregion auszubreiten. Er hat es gesehen.

„Was ist passiert?", fragt er sofort alarmiert.

Ruckartig fahre ich mir mit den Händen über meine Wangen. Wieso sind sie plötzlich so nass? Wann haben die Tränen begonnen, meine Wangen hinunterzulaufen?

Schnell wische ich sie fort. Mason sollte mich so nicht sehen. Niemand sollte mich so sehen. Es ist mir peinlich, wie leicht er mich aus der Fassung bringt.

„Rede mit mir. Wer war das?"

Seine Stimme gleicht mehr einem Knurren. Er runzelt verärgert die Stirn. Ich kann Mason jetzt nicht in die Augen sehen, ich senke den Blick.

„Em"

Die Sanftheit, die in Masons Stimme mitschwingt, sorgt nur dafür, dass ich umso schlimmer aufschluchze. Ich will sein Mitleid nicht. Doch dann ist da eine Hand an meinem Kinn, die mich zwingt, aufzusehen und in Masons besorgte Augen zu blicken.

Und dann erzähle ich ihm von meinen Zweifeln und meinen Ticks.

„Wenn ich Bekannte aus der Schule sehe, wenn ich Frauen aus dem Freundeskreis meiner Eltern, die ein paar Jahre älter sind als ich, sehe, dann habe ich jedes Mal das Gefühl, unendlich klein neben ihnen zu sein. Ihren perfekten Leben. Ihren perfekten Körpern. Ich habe damit begonnen, meine Ernährung zu verringen, damit ich stolz auf mich sein oder mich selbst wertschätzen kann. Aber es gelingt mir nicht. Ich meine, schaue mich doch an. Mein Körper ist hässlich, ich bin viel zu schwer. Ich brauche die Kontrolle über meinen Körper. Ich muss - ", stammle ich irgendwelche Erklärungen für das, was er gesehen hat. Erklärungen, die völlig ohne Zusammenhang, mit ständigen Schluchzern und Unterbrechungen, mit zittriger Stimme aus mir heraussprudeln.

Und als wüsste er nicht, wie er meinen panischen Redeschwall anderweitig unterbrechen soll, überbrückt Mason die Entfernung zwischen uns und legt seine Lippen auf meine. Überrascht schnappe ich nach Luft. Der Kuss ist sanft und keineswegs fordernd. Aber er sorgt dafür, dass ich die Kontrolle über meine Gedanken verliere. Doch so unerwartet, wie Mason mich geküsst hat, so schnell ist der Moment auch wieder vorbei und er zieht sich zurück.

Schließlich streicht er mir mit seiner Hand sanft über die Wange, bevor er beginnt meine Tränen zu küssen, die mir noch immer übers Gesicht laufen.

„Nicht weinen. Ich hasse es, wenn du weinst. Ich habe dann immer das Bedürfnis, jemanden zu verprügeln."

Ich bin sicher, ich schaue ihn wie ein ängstliches, überfordertes Kleinkind an. Aber bevor ich auch diesen Gedanken vertiefen kann, hat mich Mason hochgehoben und meinen Oberkörper über seine Schultern geworfen. Erschrocken quieke ich auf. Was hat er vor? Mason geht zielstrebig aus dem Zimmer und steuert einen anderen Raum am Ende des Flurs an.

„Augen zu", Masons Atem streift mein Ohr, als er mir diese Worte zuflüstert.

Ich weiß nicht, was das soll, aber ich bin viel zu aufgewühlt, um überhaupt darüber nachzudenken. Deshalb schließe ich meine Augen, ohne Widerstand zu leisten. Dafür fühle ich mich auch viel zu schwach.

Meine Füße berühren den kalten Boden. Mason hat mich vorsichtig irgendwo hingestellt. Seine Hände ruhen noch immer an meiner Taille.

Er küsst mich auf die Stirn, bevor er mich loslässt und sich zu entfernen scheint. Zumindest spüre ich seinen warmen Körper nicht mehr so nah wie zuvor. Was wird das?

„Okay, du kannst deine Augen wieder öffnen."

Blinzelnd blicke ich in Masons Gesicht. Er schaut mir aufrichtig in die Augen. Sein Blick löst sich nicht aus meinem Gesicht. Ich hatte Angst, er würde meinen Körper betrachten, während ich die Augen geschlossen habe. Aber das scheint er nicht getan zu haben.

Dann reißt er seinen Blick von mir los und bewegt seine Augen auf den Boden. Ich folge seiner Bewegung. Ich stehe auf einer Waage im Badezimmer. Auf einer Waage.

Meine Sicht ist zu verschleiert, als dass ich die Zahl erkennen könnte. Aber als ich wieder aufschaue, blicke ich in Masons geschocktes Gesicht.

„Emilia"

Die bloße Nennung meines Namens lässt mich erzittern. Wie er jeden einzelnen Buchstaben betont und mich dabei so besorgt anschaut.

Dann hebt er seine Hand, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ich fühle mich noch immer unfähig, mich zu bewegen. Starr stehe ich auf dieser verdammten Waage und weiß nicht, was hier gerade vor sich geht.

„Schau dir bitte diese Zahl an."

Er tritt wieder einen Schritt zurück und lässt mir Zeit. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird. Und es macht mir Angst, absolut keine Kontrolle darüber zu haben, was gleich passieren wird. Ich kann nicht kontrollieren, was ich gleich sehen werde. Aber was mir weitaus mehr Angst macht, ist, dass ich nicht kontrollieren kann, wie ich reagieren werde, wenn ich erst einmal diese Zahl erblicke. Aber was habe ich schon zu verlieren? Also löse ich mich aus meiner Starre und senke meinen Blick.

39,7 kg steht dort auf der Anzeige.

„Du bist nicht dick, Emilia."

Ich schüttle den Kopf. Ich will das nicht hören.

39,7

„Du bist wunderschön."

39,7

Ich glaube, ich sterbe, wenn er weiterspricht. Das ist alles eine Lüge. Es stimmt nicht. Ich bin weder dünn noch schön.

„Du bist hübsch und dein Körper ist perfekt, so wie er ist."

39,7

Mason atmet tief durch, so als brauche auch er Mut und fühle sich unsicher.

Doch daraufhin sagt er mit kräftiger und entschlossener Stimme: „DU bist perfekt, so wie du bist."

Und dann steige ich von der Waage. Mason zieht mich sofort in seine Arme. Ich beginne zu schluchzen. Erst fließen wenige, lautlose Tränen aus meinen Augen und schließlich weine und schluchze ich laut. Mein ganzer Körper bebt und aus meinen Augen treten Sturzbäche an Tränen hervor. Ich habe das Gefühl, zu fallen.

„Halt mich bitte fest", krächze ich.

Mason zieht mich noch näher an sich und seine Hand liegt beruhigend auf meinem Rücken.

Ich zittere und weine. Der Sturm der Gefühle, der mich erfasst, will nicht mehr aufhören. Meine Augen brennen vom Weinen. So elend habe ich mich nicht einmal gefühlt, als Tristan gesagt hat, ich sei ein Nichts. Es ist, als würde ich all das, was in den letzten Jahren passiert ist, wieder durchleben. 

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt