Kapitel 18

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Alle sind sie gekommen: die Familie, die Verwandten, Freunde und Bekannte, Schaulustige und noch viele mehr. In meiner schwarzen Jeans und einer schwarzen, weiten Bluse stehe ich neben weiteren ebenfalls dunkel gekleideten Trauernden und frage mich, wie viele hier Rylee wohl wirklich gekannt haben. Maddie und Rick stehen neben mir, wir haben uns einen Platz am Rand der Gesellschaft ausgesucht. Schließlich kannten wir ihn nicht, sind nur wegen unseren Freundeskreisen hier.

Tini steht ganz vorne neben einem älteren Paar, das sich fest umklammert. Das müssen Rylees Eltern sein. Tini sieht schrecklich aus. Aus den leuchtenden, großen Augen, die vor wenigen Wochen noch Mason zum Tanzen überredet haben, sind tief liegende, traurige und glanzlose Augen geworden. Sie sieht abgemagert aus, eingefallene Wangenknochen und so unfassbar traurig. In mir zieht sich alles zusammen.

Die Beerdigung läuft vor meinen Augen ab wie ein schlechter Film. Neben einem anderen Grab war ein tiefes Loch ausgehoben worden. Hier soll Rylee beigesetzt werden. Tini nestelt an einem Zettel, den sie in ihrer Hand hält. Sie hatte wohl zuvor aufgeschrieben, was sie auf der Beerdigung sagen wollte, aber es gelingt ihr nicht, die Worte vorzulesen. Langsam blickt sie zu den Anwesenden auf und blickt dann zu dem hellen Holzsarg ihres Freundes, dann sieht sie hilfesuchend umher. Mason tritt aus der Menge heraus und nimmt ihre Hand. Dankbar blickt sie ihn an, bevor sie ihren Gedanken freien Lauf lässt.

„Rylee, du warst ein ganz besonderer Mensch. Du warst der wichtigste Mensch in meinem Leben. Bei dir konnte ich sein, wer ich bin. Ich und jeder andere konnte sich immer auf dich verlassen."

Ich schließe verzweifelt meine Augen. Die Liebe der beiden scheint so groß gewesen zu sein. Ich bekomme die Trauerrede nicht weiter mit, als Tini in Tränen ausbricht. Niemals zuvor habe ich jemanden so sehr weinen sehen.

„Ich vermisse dich so schrecklich, Rylee. Ich liebe dich. Du warst die Liebe meines Lebens."

Mason zieht sie in seine Arme. Auch ihm laufen Tränen aus den Augen. Wie gerne hätte ich ihnen die Last ihrer Trauer genommen.

Auch Rylees Vater spricht ein paar Worte, bevor der Sarg langsam in das Grab hinuntergelassen wird.

Nach der Reihe gehen die Trauergäste an das Grab, verabschieden sich und werfen mit einer Schaufel etwas Erde auf seinen Sarg.

Vor dem edel verziertem Sarg liegen zahlreiche riesige Kränze. Auf einem der schwarzen Bänder steht in silberner Schrift: „Ich vermisse dich! In Liebe, deine Freundin Tanita!"

Mit zittrigen Beinen verabschiede auch ich mich von Rylee, bevor ich mich schnell von seinem Grab entferne.

Diese Dunkelheit, diese Negativität und Energielosigkeit auf Friedhöfen zieht mich runter. Meine eigene Dunkelheit saugt sich hier auf und wird schwerfällig. Ich fühle mich dadurch nur noch schuldiger. Ich kann ein Leben leben, dass Rylee gewollt hätte, während ich mich nur von einem Tag auf den anderen kämpfe. Ich lebe nicht. Ich genieße nicht. Der Begriff ‚existieren' würde meinen Zustand wohl am besten beschreiben. Dabei will ich das nicht. Ich wünsche es mir ja, glücklich zu sein, mein Leben umzukrempeln und wirklich neu anzufangen. Aber ich weiß nicht wie.

Meine Schuhe knarzen auf dem Weg vor mir. Die schmalen Pfade zwischen den Gräbern sind mit Kieselsteinen belegt. Man hört jeden Schritt unter seinen Füßen. Mit jedem Schritt, den ich mich wegbewege, hoffe ich, meine Trostlosigkeit zu entkommen.

Aber heute geht es nicht anders. Mein gesamter Organismus schaltet auf Autopilot. Meine Beine tragen mich weiter den Weg entlang. Die Umgebung scheint mir plötzlich verschwommen vor meinen Augen, alles um mich herum ist unklar und nebelig. Meine Hand schiebt meinen Pullover ein Stück weit nach oben. Dann legen sich meine Finger wie fern gesteuert um mein Handgelenk. Ich kneife mich, bohre meine Nägel in die Haut, in mein Fett, um das aufkommende Gefühl von Übelkeit und Hass zu verdrängen. Irgendwie muss ich wieder die Kontrolle über mich gelangen. Das ist alles, was nun zählt. Nur so kann ich wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren.

Ich blinzle, versuche mich, zu sammeln. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen von damals. Ich kann das: ich kann selbstbewusst sein, groß sein und ich will das unbedingt. Ich atme tief durch, ringe um Fassung, bevor ich meine Hand Finger für Finger aus dem festen, starren Griff von meinem Gelenk löse.

Langsam nehme ich den Umriss einer Person wahr, die mir entgegengeht.

Mason bleibt vor mir stehen, in seinen Augen haben sich Tränen angesammelt.

Das hier ist nicht der Mason, den ich kenne. Mein Herz brennt, als ich daran denke, dass er jemals etwas anderes als selbstbewusst, gut gelaunt und sorgenfrei ist.

„Ich bin da", flüstere ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ich würde ihm so gerne helfen.

Die harten Kanten seines Gesichtsausdrucks werden weicher und er blickt zu mir. Dann greift er nach meiner Hand. Sein Händedruck ist fest und warm. Ich frage mich, warum sich diese Geste so gewöhnlich und alltäglich anfühlt. So als wäre es ganz normal.

Und nicht nur er kann sich durch diese simple Berührung scheinbar beruhigen, auch meine Atmung beruhigt sich. Das Gefühl, zu fallen und keine Kontrolle mehr zu haben, verschwindet.

Völlig unerwartet umarmt mich Mason. Etwas starr erwidere ich diesen Körperkontakt, bevor auch ich meine Arme um ihn lege. Mason klammert sich fester um mich, seine Schultern beben. Sogleich kann ich diese Bewegung nicht zuordnen, bis ich ihn schluchzen höre. Diese Verletzlichkeit an Mason kenne ich nicht. Ich schließe meine Arme fester um ihm. Ich will, dass er weiß, dass auch wenn ich seinen Schmerz nicht verschwinden lassen kann, ich hier bin. Für ihn. 

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt