Kapitel 23

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Es gibt tausende Plätze auf dieser Welt. Ich hab mal gelesen, dass es über 4,5 Millionen Orte und Städte gibt. Das ist schon eine beachtliche Zahl. Und dabei gibt es nicht einmal eine weltweit geltende Definition von Stadt. Also sind es vermutlich noch mehr. Viel mehr. Schließlich gibt es auch noch zahlreiche Ortschaften, Dörfer, Weiler, Einöden und Siedlungen. Und unter all diesen Orten auf dieser Welt sucht sich Mason ausgerechnet ein Gebäude für unseren Überraschungsausflug aus, welches ich unter allen Umständen vermeiden wollte. Bereits von Weitem kann ich die Glasfassade des Gebäudes ausmachen.

Mason hält mir die Tür auf. Ich lächle ihn dankbar an, bevor ich eintrete. Er muss merken, dass mein Lächeln vielmehr erzwungen, geheuchelt war als echt. Vor ihm kann ich mich nicht verstellen. Immer wieder gelingt es ihm, mich zu durchschauen. Mason beobachtet mich still, während wir hineingehen, sagt aber nichts über meine künstlich aufgesetzte Miene.

„Was machen wir hier?"

Ich schaue mich vorsichtig um. Das Gebäude hat einen weiten Eingangsbereich. Das erste, was mir ins Auge fällt, ist ein riesiger Kronleuchter mit schimmernden Kristallen, der in der großen Halle von der Decke hängt und es mit silbernem Licht ausleuchtet. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, um bis ganz nach oben zu sehen.

Überall zieren feine Girlanden die Wände und Geländer. Das Ambiente ist edel, erinnert mich eher an High-Society-Malls, die man aus Filmen kennt, und weniger an ein städtisches Modehaus.

„Was tun wir hier, Mason?", wiederhole ich meine Frage. Langsam keimt in mir eine Angst auf. Eine Angst, die ich nicht bändigen kann.

„Du hast versprochen, mir zu vertrauen. Bitte tue es auch." Masons Stimme gleicht einem Flüstern, einem angenehmen Flüstern. Und auch wenn ich darin meinen Ruhepol wieder näherkomme, so brodelt in mir trotz allem eine Wut.

Mason ist verrückt. Er ist total und absolut verrückt.

Ich habe ihn erst gestern in einen weiteren Teil meines Lebens hineingelassen. Einen Teil meines Lebens, der mit weiten Kleidungsstücken, hochgeschlossenen Kleidungsstücken und vor allem wenig Haut zeigenden Kleidungsstücken zu tun hat. Und seine Reaktion darauf ist, mich in ein Modehaus zu schleppen.

Da versteh einer die Männerwelt.

Mason hat mich, während meine Gedanken mich erneut umgarnt haben, nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Unter seinem wachsamen Blick habe ich das Gefühl, er kennt mich. Es ist, als wisse er ganz genau, dass ich mich hier unwohl fühle. Dass ich am liebsten einen Rückzieher machen will. Dass ich kurz davor bin, auf das Vertrauen, das ich ihm zugesagt hab, zu pfeifen. Und ich warte darauf, dass er mich mit genau diesen Vorwürfen konfrontieren wird. Dass er mich umstimmen will, mit ihm diese imposante Eingangshalle entlangzugehen. Hineinzugehen.

Aber nichts dergleichen geschieht. Stattdessen streckt mir Mason seine Hand entgegen und wartet. Seine Augen liegen noch immer auf meinem Gesicht. Es ist, als würde er mich stumm fragen, ob ich ihm wirklich vertraue. Ich weiß es nicht. Ich bin verwirrt.

Noch immer kann ich nicht mit Sicherheit sagen, was er vorhat. Was er hier vorhat. An diesem Ort, der so kontrovers zu meiner Situation steht. Ich weiß es nicht.

Doch dann atme ich tief durch. Ich will diesen inneren Schweinehund besiegen. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber ich habe mir doch vorgenommen, hier ein neues Kapitel meines Lebens aufzuschlagen. Und bisher bin ich nur in alte Muster zurückgefallen. Es ist, wie es immer war.

Erst jetzt fällt mir auf, wie verkrampft meine Hand ist. Atmen, Emilia. Einfach atmen. Wie durch ein Wunder löst sich langsam die Starre meiner Finger, der Körper entspannt sich.

Mason entweicht zischend der Atem. Die Panik muss wohl auch aus meinen Augen entwichen sein. Dann lege ich vorsichtig meine Hand in Masons Handfläche, die er sofort umschließt, als befürchte er, ich würde sie ihm sogleich wieder entziehen. Aber seine Hand liegt so sanft auf meiner, dass es mir jederzeit möglich wäre, mich aus ihr zurückzuziehen. Wenn ich es denn möchte.

Zielstrebig schiebt mich Mason in eine Abteilung im ersten Stock.

„Such dir irgendwas raus, probiere es und wenn es dir gefällt, kaufen wir es", erklärt er mir und positioniert mich vor einem Ständer mit Sommerkleidern. Es ist zwar noch Frühling, es ist kalt draußen, aber lange wird es nicht mehr dauern, bis der Sommer einbricht.

Noch bevor ich wirklich eines der Kleider eingehend betrachtet habe, fällt mein Blick auf die Preisschilder. Oh nein. Ganz bestimmt nicht.

„Ich hatte eigentlich nicht vor, heute pleite zu gehen", murmle ich vor mich hin.

Eigentlich hatte ich nicht einmal vor, irgendeines davon anzuziehen.

„Em, wie oft denn noch: Du wählst aus, ich zahle. Schließlich war es meine Idee."

Jetzt ist es amtlich. Er ist wirklich verrückt.

Mason schiebt einen Kleiderbügel an den nächsten und scheint die einzelnen Kleider genauestens zu inspizieren. Kopfschüttelnd stehe ich daneben. Er wird doch nicht ernsthaft glauben, dass ich auch nur eines davon anziehe.



Doch anscheinend tut er genau das. Bevor mir noch mehr Einwände einfallen, die mir zu einer Flucht verhelfen könnten, werden mir schon drei Teile in die Hand gedrückt und ich in eine Umkleide gesteckt.

Mason hat sich auf einem Stuhl vor die Umkleide gesetzt. Ich probiere ein paar Kleider, fühle mich schrecklich und gebe vor, dass sie mir zu groß oder zu klein sind, nur um nicht rauskommen zu müssen.

„Okay, stopp. So geht das nicht weiter, Emilia. Ich bin sicher, eins der Kleider hat dir bestimmt gepasst. Ich bin gleich zurück."

Und tatsächlich hatte Mason den richtigen Riecher. Die Kleider sind nicht zu eng geschnitten, nicht zu kurz und zeigen nicht zu viel Haut. Sie wirken wie Übergangskleider, ein Zwischending von langärmlichen Winterkleid zu kurzärmlichen, freizügigen Sommerkleid.

Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde lang Kleider anprobiert hab, finde ich endlich das Perfekte. Als hätte ich gewusst, dass es das Perfekte ist, hab ich es mir bis zum Schluss aufgehoben. Mason wartet geduldig vor der Umkleide.

Er lümmelt auf seinem Stuhl, als ich aus der Umkleide trete. Ich atme tief durch. Mason blinzelt langsam, setzt sich dann auf und bekommt große Augen.

„Verdammte Scheiße", murmelt er und räuspert sich dann.

Das Lächeln, das seine Mundwinkel emporzieht, lässt sich nicht aufhalten.

„Gefällt es dir?", frage ich vorsichtig.

„Nimm es", sagt er ohne zu Zögern. „Das ist es."

Er nimmt meine Hand und dreht mich um die eigene Achse. Ich lächle. Es gefällt ihm. Ich weiß, es ist verrückt, aber ich will, dass er mich immer so ansieht, wie er es jetzt gerade tut. Dieser faszinierende, dunkle Blick. Das ist echt. Mason wirkt immer so selbstsicher, dass ich mich frage, wieso er sich mit mir abgibt. Aber unter seinem Blick habe ich das Gefühl, mich so zu fühlen wie er: als läge mir die Welt zu Füßen.

Zack. Und doch ist es nur ein Kleid. Ich will nicht, dass er mich nur wegen des Kleides so ansieht. Ich wende schnell den Blick ab. Das ist zu viel.

„Du siehst genauso schön aus wie immer."

Wie immer? Was?

„Schau nicht so überrascht, Emilia. Ich finde dich nicht nur wegen des Kleides wunderschön. Es liegt an dir. Du bringst es zum Strahlen."

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt