Kapitel 37

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„Wir schaffen das schon! Ich glaube das ganz fest."

Fast könnte man Rick diesen Motivationsspruch abkaufen. Aber nur fast, schließlich wiederholt er diesen Satz jetzt schon zum dritten Mal innerhalb der letzten zwei Minuten.

Wenn Rick, Maddie und Fiona nicht genauso zappelig und völlig konfus wären wie ich, würde ich ja behaupten, meine Nervosität ist wieder mal so ein Tick von mir, dass ich überreagiere und dabei bin, mich völlig ohne Grund in etwas hineinzusteigern.

Dass auch die drei so nervös sind, gibt mir Gewissheit, dass es in Ordnung ist, dass ich kurz davor bin, die Nerven zu verlieren. Gleichermaßen verstärkt es meine Angst auch. In weniger als einer Viertelstunde muss ich in diesem verfluchten Raum, in dem bereits zwei Prüfer auf mich warten, und meine letzte Prüfung für dieses Semester ablegen. Die Mündliche. Die Klausur, die mir seit Wochen Schweißausbrüche beschert und mich um den Verstand bringt. Einerseits bin ich froh, dass dieser Tag jetzt endlich da ist, damit ich es hinter mich bringen kann. Andererseits hoffe ich immer noch auf ein Wunder, dass sie einfach ausfällt.

Dass das nicht passieren wird, wird mir spätestens klar, als die Tür aufgeht und der Prof meinen Namen aufruft. Er lächelt mir zuversichtlich zu, während er darauf wartet, dass ich ihm folge. Aber ich fühle mich wie erstarrt. Völlig in Trance stehe ich auf und setze einen Fuß vor den anderen.

„Viel Glück!", ruft mir Fiona noch nach. Zumindest glaube ich, dass es ihre Stimme ist. Es könnte genauso gut Maddie gewesen sein. Ich bin zu versteinert und weit weg, als dass ich die Stimme zuordnen hätte können. Ich weiß es schlichtweg nicht.

Der Professor schließt die Tür und deutet mir an, mich auf einen Stuhl zu setzen, der sich mit einigem Abstand und einem langen Tisch als Barriere zu zwei weiteren Plätzen befindet, an dem die Prüfer Platz genommen haben. Auf weichen Knien versuche ich dort hinzugehen, aber meine Nervosität wird immer stärker.

Die Angst, vor anderen zu sprechen, ist mit einem Mal wieder da. Ich stütze mich an der Tischkante ab, um mich endlich hinzusetzen. Dann kann ich mich etwas beruhigen. Ich habe mein erstes Ziel erreicht. Ich sitze. Und dann beginnt es. Ich fühle mich wie in einem Verhör. Allein schon die Hierarchie, die der Aufbau des Zimmers in mir auslöst, dieses Machtgefälle, lässt meine Atmung unregelmäßig werden.

Die Prüfung beginnt mit einem Kurzvortrag. Dieser war mehr als berechenbar, weshalb ich fast den exakten Wortlaut wenige Stunden zuvor bereits zum tausenden Mal runtergerattert habe. Die Prüfer sprechen kaum, kein Lächeln, keine Mimik. Ich kann an ihrem Gesicht nicht ablesen, was sie denken, ob es in Ordnung war, was ich gesagt habe, ob es richtig war. Ihre Mienen sind wie festgefroren. Das verunsichert mich.

„Kommen wir zur letzten Frage: Warum kommt es zur Formelhaftigkeit in Oral Poetry?"

Ich reibe mir meine nassen Hände an der Hose ab. Noch gestern hat mich Rick dieses Kapitel durchgefragt. Doch jetzt finde ich eine gähnende Leere in meinem Kopf vor. Was? Formelhaftigkeit? Oral Poetry? Rhetorik? Narratologie? Formel? In meinem Kopf sammeln sich alle möglichen Fachbegriffe an und fühlen sich wie ein Graupelschauer an. Nichts ist mehr geordnet. In mir dreht sich alles. Was soll das? Ich knete meine Hände. Emilia, verdammt du weißt das! Ich versuche, mich zu beruhigen. Aber es will mir nicht gelingen. Wo ist diese Antwort hin? Das darf nicht sein. So etwas darf mir nicht passieren. Das geht nicht. Ich atme hektisch ein und wieder aus. Was mache ich hier?

Oh Gott, ich muss hier raus. In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Da ist ein lautes Pfeifen, gähnende Leere. Mir sagt Formelhaftigkeit nichts. Wie kann das sein?

Der Erstprüfer sagt irgendetwas, aber ich kann es nicht wahrnehmen, nicht aufnehmen. Er ist aufgestanden. Ich tue es ihm gleich. Ich nicke, aber weiß nicht, wozu. Ich setze einen Schritt vor den anderen, bis ich die Türe erreicht habe. Und dann bricht meine Welt zusammen. Ich habe die Klausur verkackt. Ich habe es geschafft, alles wofür ich die letzten Wochen und Monate gelernt habe, mit einem Mal in den Sand zu setzen.

Das ist zu viel. Einfach zu viel.

Mir brennen Tränen in den Augen, die ich krampfhaft versuche, zu unterdrücken.

Ich will nur noch schreien. Ist mein erster Gedanke.

Ich muss hier raus. Hier kann ich nicht atmen. Mein zweiter.

Und dann beginne ich zu laufen. Ich weiß nicht, wohin, ich weiß ich nicht, wie, aber ich renne. Ich renne vollkommen kopflos aus dem Gebäude. Wie ich hierhin gekommen bin, ist mir nicht wirklich bewusst. Ich spüre plötzlich starke Arme, die mich an sich ziehen. Ich will um mich schlagen, bis ich eine beruhigende Stimme wahrnehme.

Eine Stimme, die es immer wieder schafft, mich aus meinen Gedanken zu holen.

„Emilia. Hey, atme. Ein und aus. Ich bin da."

Er wiederholt diesen Befehl noch ein paar Mal und lässt mich dabei nicht los.

Durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Ich versuche das Ganze einige Male zu wiederholen, aber ich fühle mich so zittrig dabei. Das Brennen in meinen Augen wird weniger. Und dann beginne ich zu schluchzen. Ich schmiege mich an seine Brust und will mich am liebsten verkriechen. Mason küsst mich auf den Scheitel und streichelt mir behutsam über den Rücken.

„Was ist denn passiert?"

„Ich habe alles zerstört. Alles, Mason!"

Ich schluchze nur noch mehr, als mir das bewusst wird. Der Gedanke schnürt mir die Kehle zu. Der Gedanke, mein Studium abbrechen zu müssen, bringt mich erneut zum Röcheln.

„Ssh, egal, wie schlimm es ist, es gibt für alles eine Lösung. Jetzt atme erstmal. Ein und wieder aus."

Meine Atmung geht immer noch stoßweise, aber langsam kommt wieder Leben in mich.

„Geht es wieder?", fragt er sanft. Ich nicke.

Erst jetzt bemerke ich zwei von Masons Kommilitonen, die die ganze Zeit neben ihm gestanden sind und die ganze Szene beobachtet haben. Ich erstarre. Meine Wangen beginnen zu glühen.

„Was ist passiert?"

Ich versuche meine Aufmerksamkeit wieder auf Mason zu richten.

„Ich habe meine Prüfung versaut", presse ich mühsam hervor.

Mason seufzt.

„Was ist passiert?"

„Ich weiß nicht. Es lief von Anfang an nicht gut. Ich konnte mich nicht konzentrieren, war so nervös, alles hat sich gedreht und dann konnte ich am Ende überhaupt nicht mehr reagieren", flüstere ich.

Und dann fällt mein Blick wieder auf die stummen Zuschauer des ganzen Schauspiels. In ihren Gesichtern spiegelt sich pures Entsetzen.

Ich schaue wieder zu Mason, er ist meinem Blick gefolgt.

Wie ich mich schäme!

Vorsichtig, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, ziehe ich Mason ein Stück zur Seite, um diesen Blicken zu entgehen.

Doch damit mache ich alles nur noch schlimmer. 

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt