Mein Wecker klingelt um halb sieben. Aber ich bin bereits seit Stunden wach und starre an die Decke. In meinem Kopf ist ein Strudel aus Gedanken, der Albtraum, der mich wachhielt, die vergangenen Ereignisse der letzten Tage. Da ist so viel, was mir den Schlaf raubt. Ich springe aus dem Bett und schlürfe ins Bad. Mein Morgenritual ist schmerzhafter seit meiner letzten Attacke.
Weiter geht meine Morgenroutine in der Küche: Kühlschrank auf, Milch in die Tasse, Kaffeemaschine an, Kaffee in die Tasse, Kaffee in die Emilia.
Dann packe ich in meinem Zimmer rasch meinen Rucksack. Mein iPad mit den nachbereiteten Vorlesungen von gestern, die Skripte für die heutigen Vorlesungen und meine Notizen. Beinahe lasse ich meine To-Do-Liste für heute liegen, laufe noch einmal zurück und stopfe auch diese schnell in den Rucksack. Jetzt bin ich aber wirklich fertig.
Pünktlich zum Beginn der ersten Vorlesung sitze ich auf meinem Platz in der letzten Reihe des Hörsaals. Ich sitze ganz weit am Rand, um möglichst ungesehen zu bleiben. Ich stelle keine Fragen, will keine Aufmerksamkeit. Ich glaube der Prof kennt mich nicht mal, obwohl hier gerade mal dreißig Teilnehmer sind. Ich schreibe auf die Folie, die ich mir gestern noch ausgedruckt habe. Der Prof spricht über Prosodien und kanonisierte Texte. Die Vorlesung „Literaturgeschichtlicher Überblick" ist eine meiner Lieblingsmodule. Die Behandlung von lyrischen Werken, Gedichtinterpretationen, Dramenanalysen, all das fand ich schon immer faszinierend. Vermutlich hatte ich während der Schulzeit deshalb kaum Freunde, weil jeder es leid war, mich ständig über meinen Büchern sitzen zu sehen.
Ich verschlinge alles, was zu haben ist, Fachliteratur, Sachbücher, Science Fiction, Fantasy, Liebesromane, alle Bücher, die mir für kleines Geld gekauft habe. Oft greife ich auch selbst zu Stiften.
Vor allem in Deutschkursen bei den Aufsätzen bin ich nicht zu bremsen. Während andere nur mit Mühe die geforderten 300 Wörter zusammenkratzen, schreibe ich meist das drei- oder vierfache der vorgegebenen Länge. Ich mache das nicht absichtlich, es fließt einfach aus mir raus.
„Pssst."
Ich schaue von meinen Notizen auf. Ich mag Vorlesungen nicht besonders gerne, da entweder jemand neben mir schnarcht, am Handy ist oder ratscht.
„Hey, du!"
Langsam drehe ich meinen Kopf nach rechts. Ein Junge, der schräg vor mir sitzt, hat sich zu mir umgedreht. Redet er wirklich mit mir? Ich blicke um mich. Die Studentin neben mir tippt hektisch irgendwas auf ihrem Smartphone. Er meint also tatsächlich mich.
„Bist du nicht auch in dem Kurs von Prof Sanders?"
Was will der denn von mir?
„Ja, warum?", flüstere ich so leise es geht zurück. Schließlich will ich niemanden stören und fühle mich etwas unwohl dabei, während der Vorlesung mich zu unterhalten.
„Hast du Lust zu unserer Lerngruppe zu kommen? Wir lernen jeden Montag Nachmittag gemeinsam auf der Uni-Wiese. Also wenn du magst, kannst du nachher einfach mitkommen."
Passiert das hier wirklich? In mir legt sich irgendein Schalter um, der mich zum Lächeln bringt. Die wollen mich dabeihaben!
„Klar, gerne."
Auch der mir immer noch unbekannte Junge lächelt.
„Supi, dann halt einfach nach Fiona Ausschau. Sie hat blau-gefärbte Haare, die kannst du nicht übersehen. Oder weißt du was, geh einfach mit mir mit. Ich bin übrigens Rick."
„Emilia."
Er zwinkert mir zu, bevor er sich wieder nach vorne dreht. Das Lächeln auf meinen Lippen lässt sich die ganzen restlichen eineinhalb Stunden über nicht mehr ausknipsen.
Und Rick wartet tatsächlich auf mich. Gemeinsam verlassen wir das Gebäude, während mich Rick über die wichtigsten Infos zu ihrer Clique aufklärt.
„Lass dich nicht einschüchtern. Wir sind alle manchmal etwas komisch, aber man gewöhnt sich schnell dran."
Ich lächle. Es hört sich an, als könnte ich ganz gut in diese Gruppe passen. Während Rick über Maddie, die seinen Aussagen nach kaum redet, Fiona, die wild und verrückt ist, und Keith, der seit Tag eins nur lernt und „einen Klischee-Streber wie aus dem Film" verkörpert, anhöre, keimt in mir die Hoffnung auf, dass diese Truppe genauso uncool sein könnte wie ich.
Schon von weitem winkt ein kleines, molliges Mädchen uns zu. Sie hat blaue Haare, die sie zu einem auseinanderfallenden Knoten hochgesteckt hat, und lächelt uns breit an.
„Hey, du musst Emilia sein. Ich finds so cool, dass Rick immer neue Leute anschleppt."
Überschwänglich umarmt sie mich und ich werde von einer riesigen Parfümwolke eingenebelt. Unfähig mich in dieser schraubstockartigen Umarmung zu bewegen, versuche ich ruhig zu bleiben und konzentriere mich auf meine Atmung.
„Jetzt lass sie doch. Nicht jeder mag ständig von dir zerdrückt werden", sagt ein Junge mit riesiger Brille und niedlicher Stupsnase, der hinter ihr auf einer Picknickdecke, die übersäht mit Büchern und Lernzetteln ist, sitzt, „Keith, hey."
Dankbar lächle ich ihn an. Neben ihm sitzt dann vermutlich Maddie, die mich freundlich anlächelt, aber nichts sagt.
Beim Lernen wird kaum miteinander geredet, jeder arbeitet vor sich hin, nur ab und zu beschwert sich Fiona über dieses „Scheißhäusl", das uns zu diesem „Shit hier" verpflichtet.
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Behind my mask
Teen Fiction„Weil ich nichts wert bin." Zischend vor Schmerz will ich ihm meine Hand entziehen, die er noch immer fest umklammert hält. Aber dafür ist es schon zu spät. Mein Ärmel ist ein Stück weit hochgerutscht. Sein Blick ist auf die blauen Flecken, die rote...