Kapitel 1

834 16 6
                                    

„Du hast doch wohl nicht ernsthaft geglaubt, dass du besser als er bist? Das hast du dir doch denken können. Dir war es doch eigentlich klar." Ich glaube, meine Lehrerin will mich aufmuntern.

Mit jedem weiteren Wort falle ich aber tiefer und tiefer. Ich muss mich zusammenreißen, um ihr nicht mein Zeugnis aus der Hand zu reißen und aus der Stadthalle zu rennen. Atmen, Emilia, atmen. Zittrig bedanke ich mich und verlasse die Bühne, um mit gesenkten Kopf auf meinen Platz zurückzugehen. Ich höre Getuschel, Lachen und die ganzen Blicke, die sich in mein Herz bohren. Schnell setze ich mich auf meinen Platz und blinzle die Tränen weg. Ich lächle leicht, so wie ich meiner Lehrkraft zugelächelt habe, als sie mir mein Zeugnis überreicht hat. Ich bin jetzt sicher. Ich habs geschafft. Warum fühlt es sich dann nicht so an? Als die Zeugnisverleihung endlich vorbei ist, beeile ich mich, an die frische Luft zu kommen, den Blicken und den Gesprächen zu entkommen. Aber es gibt kein Entkommen. Meine Hand ist schon fast am Türknauf, als ich Annas Stimme hinter mir höre.

„Die ist so naiv und doof und kapiert es nicht einmal. Du bist hier der Schlauste und sie wird immer das dumme, hässliche Entlein bleiben."

Galle kommt in mir hoch. Nur noch zwei Zentimeter, dann hast du die Türe erreicht, feuere ich mich selbst an. Aber diese zwei Zentimeter sind zu viel, sodass ich auch seine Antwort höre und diese brennt sich in mein Herz ein.

„Sie ist ein Nichts, aber nicht einmal das kapiert sie."

Mit zittrigen Fingern lege ich meine Hand auf das Metall. Drücken, Emilia. Aber es will mir nicht gelingen. Die Tür fühlt sich an, als wäre sie Kilometer von mir entfernt. Sie ist unerreichbar für mich. Das Lachen hinter bohrt sich in meinen Rücken. Ich erstarre. Unfähig mich zu bewegen, merke ich wie sie mir näherkommen. Ich spüre ihren Atem in meinem Schatten.

„Emilia, Schätzchen, hast du das Gehen verlernt."

Annas Lachen ist gehässig, als sie mich zur Seite stößt, um selbst das Gebäude zu verlassen.


Ich beginne zu schreien. Die Dunkelheit kesselt mich ein. Ich habe das Gefühl, ich ersticke. Ich bekomme keine Luft. Ich mache die Atemübung, die ich jeden Morgen mache und versuche mich auf das bloße Ein- und Ausstoßen meines Atmens zu konzentrieren. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich achte nicht darauf, sondern suche mir einem Punkt in der Dunkelheit, auf den ich starre. Und dann atme ich. Blind taste ich nach meinem Wecker. Es ist gerade einmal halb sechs Uhr am Morgen. Es bleibt mir also noch alle Zeit dieser Welt, um mich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen. Aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Dieser Albtraum wiederholt sich immer und immer wieder. Ich hatte gehofft, es würde jetzt endlich vorbei sein. Ich bin überdreihundert Meilen von zu Hause entfernt. Von Jacksonville nach Atlanta. Nur umzu vergessen. Aber wie sollte es auch je vorbei gehen? Ich, ein Nichts, habe es nicht verdient, dass es vorbei geht.

Schwer atmend schleppe ich mich aus meinem Zimmer ins Bad, bedacht darauf meine Mitbewohnerinnen nicht zu wecken. Ich bin erst zwei Wochen hier, aber es fühlt sich an wie in einem Paralleluniversum.

Im Bad ertaste ich den Lichtschalter. Ich sehe scheußlich aus, als mein Blick auf den Spiegel fällt. Schnell betätige ich den Schalter erneut, um mich wieder in Dunkelheit zu hüllen. Ich kann mich jetzt nicht ansehen. Nicht jetzt. Seufzend schäle ich mich aus meinem Schlafshirt und werfe es auf den Boden. Es hat Größe L und trotzdem fühle ich damit so entblößt. Auf dem kalten Boden der Dusche sitzend höre ich das Tropfen des Wasserhahns über mir. Tropf. Tropf. Tropf. Ich versuche mich auf das entspannende Geräusch zu konzentrieren. Aber es gelingt mir nicht. Meine Hand tastet nach meinem Handgelenk und meine Fingernägel beginnen sich in die Haut zu bohren. Ich bin so erbärmlich. 


Ich lache über mich selbst, als mir auffällt, wie naiv ich sein kann, zu glauben, dass hier alles besser wird. Zurück in meinem Zimmer ziehe ich mich um und lese meine Aufzeichnung für die Vorlesungen durch. Zum Glück habe ich heute nur Vormittags Unterricht, sodass ich meinen Nachmittag in der Bibliothek verbringen kann.

In dem Moment, in dem ich höre, wie Cathys Handy zu klingeln beginnt, lasse ich die Wohnungstüre hinter mir zuschnappen. Mit etwas Glück sehe ich Cathy und Alison erst morgen Mittag wieder. Es ist Freitag und das bedeutet irgendwo steigt sicher wieder DIE Party, auf der jeder sein wird, der Rang und Namen hat. Die Augen verdrehend an diesen Gedanken schwinge ich mich auf mein Fahrrad, das neben dem Wohnkomplex am Fahrradständer steht und mache mich auf den Weg zum Campus. 

In meinem Kopf gehe ich die wichtigsten Fakten, die mir heute bei meiner Vorlesung nützlich sein können durch, während ich kräftig in die Pedale trete. Ich keuche, als ich am Fahrradständer des Universitätsgeländes ankomme. In mir zieht sich alles zusammen. Ich bin gerade mal zwanzig Minuten gefahren und atme wie eine Dampflok. Augenblicklich verkrampfe ich mich und senke meinen Blick. Es sind zwar nur vereinzelt Studenten unterwegs, schließlich bleibt noch fast eine Stunde, bis der Unterricht beginnt, aber ich will ihren gehässigen und mitleidigen Blicken entgehen, mit denen sie mich belegen. Nicht einmal Radfahren kann sie! Selbst dazu hat sie keine Kondition.

Ich schleiche mich auf den Fluren des Gebäudes zur Bibliothek. Erleichtert, niemandem begegnet zu sein, der mich anstarrt oder einen doofen Kommentar von sich gibt, lasse ich mich auf meinen Stammplatz fallen und widme mich einem Fachbuch über Medienrecht. Das ist der langweiligste Teil des Studiums. Recht interessiert mich nicht sonderlich, aber nur dadurch ergibt sich für mich ein Gesamtbild der Journalistik, sodass ich mich auch an diesen Teil gewöhnen kann. Und gerade, weil mich dieses Themengebiet nicht sonderlich reizt, muss ich mich damit intensiver befassen.

Den restlichen Vormittag höre ich dann Frau Jamirez zu, wie sie uns ihre Leidenschaft näherbringen will. Sie ist eine gute Dozentin. Ihre Stimme ist angenehm und ich höre ihr gerne zu. Aufmerksam schreibe ich mit und merke gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. 

Ich verabschiede mich von Joleen, der Bibliothekarin, bevor ich das Gebäude gegen Abend wieder verlasse. Joleen ist eine ältere, zierliche Dame, die ich sofort ins Herz geschlossen habe, als ich sie vor zwei Wochen kennengelernt habe. Seitdem verbringe ich jeden Tag in der Bibliothek. Dort bin ich ungestört und kann mich konzentrieren. 

Ich stelle mir wie jedes Wochenende einen exakten Plan auf, den ich bis Montag früh abgearbeitet haben will. Einzig 90 Minuten für ein Fußballspiel morgen Nachmittag lasse ich frei. Ich bin ein absoluter Fußballfanatiker. Früher habe ich in der Sportredaktion meiner Heimatzeitung mitgearbeitet, um mir etwas zu verdienen. Ich bin jedes Wochenende auf dem Platz gestanden, habe fotografiert, mit den Spielern Interviews gemacht und mitgefiebert. Aber das ist lange her und ich bin unglaublich froh, dass nie wieder tun zu müssen. Ich schließe die Augen, als mich meine Vergangenheit zum hundertsten Mal an diesem Tag einzuholen wagt. Was ist heute nur los? Vielleicht sollte ich doch nicht zu diesem Spiel gehen. Auch wenn es eine andere Mannschaft ist und auch wenn sie in der Major League Soccer spielen. Meine Heimatmannschaft hat es gerade einmal in die USL League Two geschafft. Was würde ich dafür geben, meine Vergangenheit aus meinem Gedächtnis zu löschen oder noch besser: meine Existenz aus dem Universum. 



Sorry, dass das nur ein so kurzes Kapitel geworden ist. Aber die nächsten werden länger. Über eure Kommentare freue ich mich natürlich riesig ;-) Habt einen schönen Sonntag! 

Behind my maskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt