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Die kalte, feuchte Waldluft umhüllte Sigyns Körper, als sie leise durch das Unterholz schlich. Es dämmerte und Sigyn spitze die Ohren. Jedes Knacken und jedes Rascheln verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. Die Sehne ihres Bogens war gespannt, als sie den Pfeil dicht an ihrer Wange spürte. Vor ihr stand das Reh und horchte, genau wie Sigyn, in den Wald. Nun durfte sie keine Fehler machen. Einmal tief ausgeatmet und schon schoss der Pfeil lautlos an den Bäumen vorbei und traf die Ricke in die Flanke. Das Tier war sofort tot und fiel zu Boden.

Stolz richtete Sigyn sich auf und ließ ihren Bogen sinken. Mit großen Schritten stapfte sie nun in die Richtung des Tieres, übersprang dabei ein paar kleine Büsche; sie brauchte nicht mehr leise sein. Bei der Ricke angekommen zog sie ihr Messer und schnitt dem Tier die Kehle durch, nachdem sie ein kurzes Gebet an Skadi, der Göttin der Jagd, schickte.

Mit geübten Bewegungen band Sigyn die Vorderläufe ihrer Beute zusammen, um es hinter sich her zu ziehen. Es war nicht weit bis zur Burg und Sigyn war eine geübte Jägerin. In der Küche wurde das Wild bereits erwartet.

Sigyn war die Prinzessin Vanaheims. Anders als in Asgard wurde hier wenig darauf geachtet, welchen Stand die Vanir hatten. Wer gut im Jagen war, ging auf die Jagd. Als vor tausenden Jahren unter anderem der Gott Njörd nach Vanaheim ging, heiratete er eine einfache Frau. Das Göttergeschlecht starb nach mehreren Generationen aus, aber Sigyn war eine direkte Nachfahrin von Njörd.

Die Äste knarzten unter Sigyns Schritten, als die Burg in Sichtweite kam. Die Felder rund um die kleine Stadt waren bestellt und einige Bauern arbeiteten fleißig. Sigyn wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie durch das große Tor in den Hof trat. Ihr Vater, König Lotir stand dort mit einigen Hauptmännern der Garde Vanaheims und hörte ihren Anliegen zu. Kaum bei ihm angekommen, kamen zwei Küchenjungen auf Sigyn zu, verbeugten sich knapp vor ihr und nahmen ihr das Wild ab, um es in die Küche zu bringen. Sigyn massierte ihre Hände und stellte sich zu der kleinen Menschengruppe um ihren Vater. Dieser nickte ihr stumm zu und kümmerte sich weiter um die Belange seiner Leute.

"Ich werde den Schmieden in den nächsten Dörfern den Auftrag erteilen. Wir brauchen neue Schwerter, und auch Armbrüste werden wir fordern. Noch mehr?" fragte er in die Runde. Obwohl Vanaheim unter dem Schutz des Allvaters, Odin, stand, wurden sie in unregelmäßigen Abständen von anderen Stämmen angegriffen. Leider wurde Vanaheim immer noch als eines der schwächsten der neun Welten angesehen und es wurde versucht, die Schätze hier zu brandschatzen. Als vor mehreren Jahren eine Armee von Jotunheim die Vanir angriffen, musste Odin zu Hilfe eilen. Zwar wurden die Eisriesen besiegt, aber Lotir wurde gewahr, dass er sein Heer besser ausstatten musste. Inzwischen war die Garde fast doppelt so groß wie damals, aber es mangelte immer wieder an Material, um sie entsprechend auszustatten. Die Schmiede arbeiteten fast Rund um die Uhr, aber immer wieder wurden Waffen bei Kampfübungen zerstört.

"Und wenn wir den Allvater um Waffen bitten?" griff Sigyn das Gespräch in die Runde auf. Sie wusste, dass ihr Vater sehr stolz war. Unzählige Male hatte sie mit ihm darüber diskutiert, warum er keine Hilfe von Odin verlangen konnte.

"Sigyn, wir schaffen das alleine." antwortete ihr Vater knapp und Sigyn scheufzte laut. Gavin Port, ein junger Hauptmann stand neben ihr und zwinkerte ihr zu. Sie verstanden sich gut. Er war noch nicht lange ein Hauptmann. Schon seit ihren Kindertagen haben sie erst miteinander gespielt und als sie älter waren, gingen sie zusammen auf die Jagd. Sie freute sich, als er zum Hauptmann aufgestiegen ist, aber sie bedauerte es, dass er sie kaum noch begleitete.

"Ich werde Boten losschicken." beendete Lotir das Gespräch und verließ die Runde.

"Eine dicke Ricke hast du da erwischt." Gavin und Sigyn schlenderten über den Platz. "Ja, es war knapp, sie hatte mich schon gewittert. Aber du kennst ja meinen Bogen: Gut, wie am ersten Tag." Sigyn ließ ihren Bogen über ihre Schulter gleiten und legte ihn Gavin in die Hand. Sein Vater war früher selbst begnadeter Jäger und hatte ihr den Bogen damals geschenkt. Eigentlich sollte sein Sohn seine Arbeit fortführen, aber Gavin entschloss sich dazu, in die Garde einzutreten. Sanft strich er über die zarte Schnitzerei des Holzes. Sein Vater wurde im Kampf gegen die Eisriesen getötet, aber Gavin war froh, dass die Arbeit seines Vaters auch nach seinem Tod geschätzt wurde.

"Viel zu tun?" frage Sigyn, als Gavin ihr ihren Bogen reichte. "Ja, wir müssen weitere Waffen haben. Die letzten sind leider bei der Übung zerstört wurden. Der Schmied des Nachbardorfes wird nicht wieder für die Garde arbeiten. Er ist aber ein guter Hufschmied und soll sich nun auf die Arbeit konzentrieren, die Pferde zu beschlagen." Mit einem sanften Ruck zog er sich einen Handschuh aus und zog einen Zweig aus Sigyns Haaren und hielt ihr diesen vor die Nase.

"Schönes Accessoire, kleine Waldfee." sagte er lachend und Sigyn fuhr sich mit ihren Händen über den Kopf. Sie öffnete ihren einfachen Flechtzopf, um ihre Haare von weiteren Stöckchen und Blättern zu befreien.

"Hast du in den nächsten Tagen mal wieder Zeit für mich?" fagte sie, als mit ihren Finger durch das braune Haar fuhr, bis alle Zweige weg waren. "Nicht in absehbarer Zeit. Aber ich sage dir Bescheid, wenn ich einen freien Tag bekomme." Gavin drehte sich um, als er von einem anderen Hauptmann gerufen wurde. Er knuffte Sigyns Arm und verabschiedete sich kurz. Sigyn streckte sich. Die Sonne war fast untergegangen, als sie die Burg betrat.

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