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~Drei Tage zuvor~


"Bitte, schick mich nach Vanaheim."

"Selbstverständlich."

Sigyn hatte eigentlich mit Gegenwehr, wenigstens mit Fragen gerechnet, aber Heimdall öffnete den Bifröst.

Sie spürte den starken Sog, der an ihrem Körper zog. Es tat nicht weh, aber das Gefühl, die eigene Kraft aus dem Körper verlieren zu spüren, empfand Sigyn als unangenehm.

Die bunten Blitze, in denen sie sich befand, sollten sie schnell nach Vanaheim bringen. Sofort würde sie ihren Vater zur Rede stellen. Wie konnte er nur zulassen, dass ein Eisriese auf dem Thron Vanaheims sitzen durfte. Und das, nachdem die Eisriesen versucht haben, Vanaheim gewaltsam einzunehmen.

Ihre Reise nach Vanaheim sollte nur ein paar Sekunden dauern, als Sigyn von etwas Hartem getroffen wurde. Ein heißer Schmerz durchzog ihre rechte Seite. Unmittelbar danach wurde sie ohnmächtig.

******


Der Boden war hart und kalt, als Sigyn ihre Augen öffnete. Es war dunkel und sie brauchte eine kurze Zeit, um halbwegs zu Bewusstsein zu kommen. Der gleiche stechende Schmerz durchzog ihre rechte Seite, als sie sich auf ihre Arme abstützen wollte um aufzustehen.

Ein spitzer Schrei entkam ihrer Kehle, als sie sich wieder auf den Boden sinken ließ. Tränen füllten ihre Augen.

Sie hatte Reiter in Vanaheim gesehen, die sich nach einem Sturz eine Rippe gebrochen haben und sich schmerzvoll ihre Seite hielten und Sigyn wusste, bei einem komplizierten Bruch hatten sie kaum zwei Tage, bis sie ihren Verletzungen erlagen - ohne Behandlung. Unkomplizierte Brüche heilten von alleine, es kann aber Monate dauern.

Erneut versuchte Sigyn sich aufzurichten. Dabei vermied sie es, ihre rechte Seite zu belasten.

Schwer keuchend stand sie in diesem dunklen, kalten Nichts und hielt sich ihre rechte Flanke. Das dünne Kleid aus Asgard bot keinem Schutz vor der eisigen Kälte und der Schmerz schien ihr die Sicht zu nehmen. Wo war sie nur?

"Heimdall?" keuchte sie leise. Ihre Lungen schienen sich nicht mit dieser kalten Luft füllen zu wollen.

"Heimdall? Hol mich zurück." versuchte sie es erneut.

Ein leises, grausames Lachen hallte ihr entgegen, als sie sich umdrehte. Ihre Augen erkannten nichts, es war zu dunkel. Augenblick erhellte sich der Ort, am dem Sigyn sich befand und ein großer fensterloser Saal mit hoher Decke kam zum Vorschein.

Ihr Blick, immer noch in die Richtung des Geräusches gerichtet, erkannte nun das offensichtliche Grausame.

Laufey, König der Eisriesen, saß auf seinem kalten Thron und grinste Sigyn an. Seine Haut war blau und scheinbar mit tiefen Furchen überzogen, die ein symmetrisches Muster hinterließen. Doch die tief roten Augen machten ihr am meisten Angst.

"Wie schön, dich doch noch lebendig zu sehen." Wie erstarrt vermochte sich keine Faser ihres Körpers zu bewegen.

"Du siehst aus wie sie..." flüsterte Laufey bedrohlich. "Odetta..."

"Sprich ihren Namen nicht aus!" zischte sie Laufey entgegen. "Du hast nicht das Recht dazu..."

Langsam stand Laufey auf und Sigyn erkannte, warum sie 'Eisriesen' heißen: er war bestimmt zwei einhalb, wenn nicht sogar drei Meter groß!

Langsam kam er auf Sigyn zu, aber sie vermag es nicht, nur einen Schritt auszuweichen. Wenn ihre Mutter sich ihm entgegen stellte, würde sie es ihr gleich machen.

"Weißt du," begann er, "es war gar nicht so leicht, dich abzufangen. Immer war jemand in deiner Nähe. Also habe ich gewartet. Lange gewartet. Aber jetzt habe ich dich und du wirst mein kleiner Lockvogel sein."

"Heimdall!" rief sie und ihre Stimme klang verzweifelter als geplant, aber nichts passierte. Nur ein weiteres grausames Lachen entfloh Laufeys Kehle.

"Du kannst ihn noch so oft rufen, in meinem Palast kann er dich weder sehen, noch hören." Langsam kam er auf Sigyn zu. "Nur, wenn ich es so will. Und dafür musst du schreien. Angsterfüllt. Schmerzerfüllt."

Kaum ausgesprochen griff Laufey nach Sigyns Schulter und sofort spürte sie ein eiskaltes Stechen, welches sie in die Knie zwang. Laufey ließ von ihr ab und sie wimmerte leise.

"Schrei seinen Namen!" befahl er. "Schrei den Namen deines Liebsten!"

"Nein..." keuchte sie. Diesen Gefallen würde sie ihm nicht machen. Sie wollte Loki nicht auch noch hier her holen. Nicht, weil sie ihn fürchtete, sondern weil sie ihn liebte.

"Was willst du von mir?" Ihre Augen waren fest auf ihn gerichtet, auch wenn sie kaum Kraft aufbringen konnte, um aufzustehen. "Ist es wegen der Niederlage in Vanaheim? Dann bitte, töte mich. Hole dir deine grausame Genugtuung."

"Kleines Kind," Laufey ging vor Sigyn in die Hocke. "Es geht um viel mehr als das."


******


Sigyn hatte ihr Zeitgefühl verloren. Wie lange war sie schon hier? Stunden? Tage? Es gab kein Sonnenlicht auf Jotunheim, weshalb sie nicht einmal wusste, ob es Tag oder Nacht war. Laufey machte sich einen Spaß daraus, sie zu quälen. Wie ein Feigling ließ er seine Leute sie folten. Sie wurde hin und her geworfen, geschubst. Sie musste rennen, so gut sie konnte, wurde immer wieder eingefangen. Die kalten Hände vereisten Arme und Beine und es dauerte, bis sie bei den Temperaturen wieder halbwegs aufgetaut waren.

Die kleine Zelle, in der sie saß, wenn Laufey nicht nach ihr schickte, war beengt. Gnädiger Weise hatte man ihr ein kleines Fell gegeben, auf dem sie sich einrollen konnte. Sie sollte nicht sterben, sie sollte seinem Befehl folgen: Loki rufen. Warum, wusste sie nicht.

Die Tür flog auf und wieder kamen zwei Eisriesen zu ihr. Mutig stand Sigyn auf. Obwohl sie kaum noch Kraft hatte, sich auf ihren Beinen zu halten, geschweige denn zu kämpfen, würde sie nicht aufgeben.

Feste Griffe an ihren Oberarmen ließen sie aufschreien. Die gebrochene Rippe machte ihr Sorgen. Trotz dem schwachen Lichts konnte sie einen großen dunkelvioletten Fleck an ihrer rechten Seite erkennen. Er zog sich fast bis zum Becken.

Mehr tragend als laufend wurde sie in den großen Thronsaal gebracht. Laufey saß auf seinem Thron und sah sie wütend an.

"Es reicht mir!" schrie er, als Sigyn ihm vor die Füße geworfen wurde. Als sie aufblicken wollte, spürte sie seinen Griff an ihrer Kehle. Ihre Füße verloren den Halt und sie spürte, wie ihr Gewicht an ihr zog. Laufey hatte sie bis vor sein Gesicht gehoben, aber Sigyn konnte keinen Gedanken fassen. Die letzte Luft presste sich aus ihren Lungen und sein Griff drückte ihr die Kehle zu.

Ihre Hände griffen nach seinen, als wäre sie stark genug, um seine Finger nur ein kleines bisschen lockern zu können. Der Sauerstoffmangel ließ ihren Körper erschlaffen, als sie den harten Boden erneut spürte. Laufey hatte sie von sich geworfen. Scharf zog Sigyn die Luft in ihre Lungen. Warm floss ihr Blut über das Gesicht und das Rot bildete einen surrealen Kontrast zu allem hier. Ihre Schläfe pochte, als Sigyn nach der Platzwunde griff.

Laufey war ihr gefolgt und wollte erneut nach ihr greifen. Schützend hob Sigyn ihre Hände vor sich und er fasste ihre rechten Arm und zog sie nach oben. Ein spitzer Schrei hallten durch den Raum, als Laufey mit seiner anderen Hand gegen ihre Flanke schlug. Sigyn hörte ein weiteres Knacken und sie wusste, es müsse jetzt ein weitere Rippe gebrochen sein.

Sie wollte nicht aufgeben, aber sie spürte, wie das Leben aus ihrem Körper zu fließen schien. "Loki." flüsterte sie.

"Lauter!" befahl Laufey und legte ihr nur seine Hand gegen die Rippe unter ihrem erhobenen Arm.

"LOKI!!!"


MachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt