Kapitel 19

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Lily:

Ich half meinen Großeltern wo ich nur konnte. Vor allem Oma brauchte viel Hilfe, durch ihre Vergesslichkeit. In den letzten Tagen, seit ich hier war, hatte ich erst bemerkt, wie schlecht der Zustand meiner Oma wirklich war. Ihre klaren Momente wurden immer weniger, meinem Opa machte das sehr zu schaffen. Teilweise erkannte sie nicht mal mehr ihn. Er sah ja auch anders aus, als vor etwa 30 Jahren.

Oma hatte sich gerade etwas hingelegt, deswegen wollte ich die Zeit nutzen und zu Opa in seine Werkstatt hinterm Haus gehen, um wieder mal etwas mit ihm zu basteln, so wie wir es früher immer getan hatten. Gerade, als ich die Tür öffnen wollte, hörte ich Opa schluchzen. Unsicher, ob ich zu ihm gehen oder ihn doch lieber in Ruhe lassen sollte, stand ich vor der Tür. Schließlich entschied ich mich doch zu ihm zu gehen. „Opa?" Er sah auf und wischte sich schnell seine Tränen aus dem Gesicht bevor er mich anlächelte. „Prinzessin, ist alles in Ordnung?" Ich ging auf ihn zu und erwiderte sein Lächeln. „Ja, Oma hat sich hingelegt. Was siehst du dir da an?" Ich deutete auf das Buch, das er in den Händen hielt. Er deutete auf einen Stuhl neben sich, auf den ich mich setzen sollte.

„Das ist ein altes Fotoalbum. Es ist aus der Zeit, als deine Oma und ich geheiratet haben, kurze Zeit später ist deine Mutter zur Welt gekommen." Er schniefte, lächelte mich aber weiterhin an. Ich legte ihm meine Hand auf den Arm. „Ich sehe es mir immer an, wenn ich Oma und Tessa allzu sehr vermisse. Ja, Oma ist noch hier, aber nicht mehr so, wie sie einmal war." Sein lächeln schwand und er sah traurig auf das Album. Es musste sehr schwer für Opa sein, jeden Tag mit der Liebe seines Lebens aufzuwachen, immer mit der Angst ob sie einen nun für immer vergessen hatte oder nicht. Und dann der Verlust der eigenen Tochter. „Wollen wir es uns zusammen ansehen, Opa?" Sein Blick traf mich und ein leuchten trat in seine Augen. Er schlug die erste Seite auf. „Hier haben wir uns kennengelernt." Er zeigte auf ein Foto auf dem ein Geschäft zu sehen war. Hannah konnte mich anfangs nicht ausstehen. Sie war aus reichem Hause und ich war nur ein Dorfjunge, der Fußball spielte. Aber es war trotzdem Liebe auf den ersten Blick. Das hat sie mir später mal gesagt. Sie hat ihren Hass auf mich nur vorgetäuscht weil sie wusste, dass wir nicht zusammen sein durften. Es war eine schwere Zeit, in der wir aufwuchsen. Aber ich hab hart gearbeitet und dafür oft das Fußball spielen vernachlässigt was meine Freunde oft geärgert hat. So konnte ich aber die Gunst ihrer Eltern auf mich ziehen. Sie haben mir erlaubt, Hannah auszuführen. Hannah traute dem Frieden ihrer Eltern nicht, sie hat mir die ganze Verabredung die kalte Schulter gezeigt. Wir haben eigentlich nur gestritten." Opa sah mich an und musste lachen, was mich ebenfalls zum Lachen brachte. „Jedenfalls, als ich sie dann nach Hause gebracht habe, hat sie mich noch wüst beschimpft und ist ins Haus gestapft. Ich hab ihr hinterher gesehen und den Kopf geschüttelt. Obwohl wir nur gestritten haben, war es das beste Date dass ich jemals hatte. Und als ich ihr so hinterher sah, sie wollte grade ins Haus gehen, hat sie sich noch einmal umgedreht und mich angelächelt. Es war das Lächeln eines Engels. Da wusste ich, sie hasst mich nicht und wir haben uns fortan jeden Tag getroffen. Ihr Vater hat Potenzial in mir gesehen und mich in seine Firma integriert. Dort hab ich alles gelernt, was man über Architektur wissen musste." erzählte mir mein Opa. „So bist du also Architekt geworden, Opa?" fragte ich trotzdem nach.

„Ja, genau. Wir wussten schnell, dass wir für immer zusammen bleiben wollten. Ich hätte eigentlich später die Firma deines Urgroßvaters übernehmen sollen, aber Hannah wurde früh schwanger und ihr Vater hatte uns ausgejagt, nachdem wir uns gegen ihn gestellt haben. Wir wollten unser Baby nicht töten. Leider haben wir es trotzdem verloren. Zu dieser Zeit war die Medizin nicht so schnell und gut fortgeschritten wie heute und wir haben unseren Sohn nur wenige Tage nach seiner Geburt verloren. Er kam schon krank zur Welt und man konnte ihm damals nicht helfen. Der Verlust von Friedrich hat uns sehr zu schaffen gemacht, wir waren ja grade mal um die 20. So schlimm und traurig diese Erfahrung war, sie hat uns nur noch näher zusammengebracht." Opa zeigte auf ein Foto, es zeigte meine Oma mit einem Baby im Arm. „Fast 5 Jahre später, wir waren inzwischen verheiratet, wurden wir wieder Eltern. Das ist deine Mutter gewesen. Sie war ein sehr ruhiges Baby. Hat so gut wie nie geschrien und wir haben uns mehr als nur einmal gesorgt, ob sie denn noch am Leben war. Wenn sie schlief, konnte man oft ihre Atmung nicht sehen, man musste schon genau hinsehen. Aber Tessa wuchs zu einem bildhübschen jungen Mädchen heran. Wir haben ihr schon früh von ihrem großen Bruder erzählt. Damals war es noch nicht so, dass man Fotos von den toten Babys machte, so wie man es heute macht. Wir hatten nur ein einziges Foto von Friedrich, da war er grade ein paar Stunden alt, hier." Opa zog ein kleines Foto aus dem vorderen Teil des Albums raus, es war laminiert. „Es ist das einzige Foto deines Onkels. Deswegen haben wir es in dieses Plastikteil einmachen lassen." Ich musste schwer schlucken. Es war das erste Mal dass mein Großvater mir seine Lebensgeschichte erzählte. Auch Mama hatte nie etwas darüber gesagt, ich hatte aber eigentlich auch nie danach gefragt.

„Als Tessa uns dann erzählte dass sie schwanger war, Gott, wir waren so glücklich. Sie erzählte uns auch, dass sie nicht mit dem Kindsvater zusammen sei, du weißt ja, warum. Ich werde nie verstehen warum sie dir das gesagt haben. Aber beide lieben dich abgöttisch, das hab ich jedes mal gesehen wenn ich die beiden mit dir gesehen habe." fuhr Opa fort.

„Ich weiß nicht. Papa hat mich doch nur zu sich genommen, weil er keine Wahl hatte." murmelte ich leise.

„Lily, ich muss dir etwas sagen. Dein Vater, er hatte eine Wahl. Deine Mutter hat schon sehr früh ein Testament gemacht, eigentlich schon als sie mit dir schwanger war. Man ging davon aus, dass sie deine Geburt nicht überleben würde." Meine Augen weiteten sich. „Warum?" fragte ich sofort nach. „Sie wurde krank als sie hochschwanger mit dir war. Es war irgendeine Bluterkrankung, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls, sie musste sich entscheiden, entweder das Kind oder sie. Einer von euch beiden würde sterben. Sie hatte sich natürlich für dich entschieden und wie wir heute sehen, war es eine gute Entscheidung. Ihr habt beide überlebt. Auch wenn dein Leben anfangs auch gefährdet war, sie mussten dich 2 Monate früher holen. Aber du warst eine Kämpferin, genau wie deine Mutter und ihr habt euch beide ins Leben zurück gekämpft. Worauf ich eigentlich hinauswollte, hier, ich denke du solltest das lesen." Damit reichte Opa mir einen Zettel, den er aus der Schublade des Werkstatttisches zog. „Es ist nur eine Kopie, aber du sollst die Wahrheit wissen. Auch wenn du mich dann dafür hassen wirst." Er stand auf, legte das Fotoalbum in die Schublade zurück und ließ mich allein.

„Ich Tessa Andersen, hinterlasse hiermit meinen letzten Willen.

Meine Tochter, Lillien Andersen, soll, im Falles dass mir etwas vor ihrem 18. Geburstag zustoßen sollte, bei meinen Eltern, Phillip und Hannah Andersen, aufwachsen und wohnen. Meine Besitztümer werden natürlich auch an meine Tochter, Lillien Andersen übergehen. Weiter's wünsche ich mir, für meine Beerdigung...." Ich konnte es nicht fassen. Ich las den ersten Satz wieder und wieder. Ich sollte bei meinen Großeltern wohnen, das wollte meine Mutter, aber warum lebte ich dann bei meinem Vater?

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