Kapitel 47

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"Jessica. Du siehst doch diese Brücke dadrüben oder?", fragte Felix mich. Ich schaute in die Richtung einer Brücke, die etwas weiter entfernt von uns stand. Unsicher nickte ich. "Lass uns ein Spiel spielen: Es heißt ›Was wäre wenn?‹. Los geht's: Was wäre, wenn ich hier herunterspringen wollen würde?"
"Ich würde dich abhalten. Und wenn du springst, würde ich dich retten", sagte ich fest und verschränkte dann die Arme vor der Brust. "Aber warum solltest du herunterspringen?" Er ignorierte meine Frage und fuhr fort:
"Und wenn Taddl springen wollen würde?"
"Dann würde ich ihn auch abhalten und retten", meinte ich. Plötzlich tauchte Taddl auf.
"Und was wäre, wenn wir beide gleichzeitig springen würden?", erkundigte er sich und zog Taddl an seinem Shirt zu sich.
"Ich würde euch beide retten", sagte ich konfus und zog eine Augenbraue hoch. "Ich mag das Spiel nicht."
"Moment. Du kannst nur einen retten", wies er mich zurecht.
"Dann würde ich selber springen, damit ihr beide weiterleben könnt", sagte ich und rollte genervt mit den Augen.
"Jessica. Du weißt, wie ich das meine", wurde Felix wütend.
"Verdammt nochmal, ich liebe euch beide und mir würden beide Verluste das Herz zerreißen", rief ich aufbrausend.
"Gut. Dann werden wir das jetzt ausprobieren, einfach, um es herauszufinden!" Er rannte auf die Brücke zu, zog Taddl, welcher sich gar nicht wehrte, hinter sich her und sprang auf das Abzäunungsgitter, das einem vom Fall hindern sollte.
"Felix, das kannst du jetzt nicht ernsthaft machen", schrie ich, rannte mit einem Adrenalinschub zur Brücke und wollte gerade noch etwas schreien, als Felix Taddl vom Gitter schubste und kurz danach selbst sprang. Ich schrie laut auf, sprang selbst aufs Gitter, als ich es erreichte und schaute hinunter. Noch könnte ich einen der beiden retten. Doch wen? Felix? Taddl? Ich sprang einfach runter und ließ mich fallen. Ab ungefähr der Hälfte hörte ich etwas ins Wasser platschen. Taddl. Ein paar Sekunden später vermischte sich sein tiefrotes Blut mit dem klaren Wasser. Er war mit voller Wucht auf einen Stein gefallen. Ich war so geschockt, dass ich gar nicht reagieren konnte. Und noch ein paar Sekunden später plätscherte das Wasser erneut. Nun war auch Felix tot. Auch ich war unten angekommen. Unerwartet weich landete ich im Wasser. Links von mir lag Taddl, rechts von mir lag Felix. Ich kletterte auf Felix' Stein, kniete mich an seine Seite und stützte meinen Kopf in meine Hände.
"Warum musstest du das machen?", weinte ich. "Du kannst dich doch nicht einfach umbringen und jemand anderen da mit reinziehen..." Ich strich ihm mit zittrigen Fingern über sein Gesicht und fuhr ihm durch seine Haare. Meine Augen taten vom Weinen schon weh, doch wieso sollte ich meine Tränen verbergen? Felix' Blut lief an den Seiten des Steines herunter ins Wasser. Ich drehte mich zu Taddl um und kletterte auf seinen Stein. Sofort fing ich wieder an zu weinen, zu schluchzen und vor seelischen Schmerzen zu quieken. "Ich schwöre bei Gott, dass mir das hier wohl mehr wehtut, als wenn ich einen hätte retten können. Das ist zwar gerecht, wenn beide tot sind, doch ..." Plötzlich bemerkte ich, dass sich aus Felix' und Taddls Blut ein paar Buchstaben auf dem Wasser zusammensetzten. Ich schniefte, ließ mich zurück ins Wasser gleiten und versuchte, die Buchstaben zu entziffern. "Du kannst noch einen retten, kü...", ich wartete kurz ab, bis das Blut neue Buchstaben erschaffen hatte, "... küsse denjenigen, den du retten willst und nimm danach einen Tropfen des Blutes des anderen, um...", ich wartete wieder, "...um ihn endgültig sterben zu lassen..." Die letzten vier Worte sprach ich langsam und leise aus. "Ich werde Felix das nie verzeihen können... Ich werde ihm nicht verzeihen können, dass er Taddl umgebracht hat. Felix ... es ... tut mir leid", flüsterte ich und versuchte erneut, meine Tränen zurückzuhalten. Dann kletterte ich auf Taddls Stein. Die Wolken zogen sich zusammen, es wurde schlagartig kalt, ein Donner war zu hören. Ich beugte mich zu Taddl herunter, nahm sein bleiches Gesicht in meine Hände und küsste ihn mit Tränen in den Augen. Einige Sekunden später öffnete ich die Augen. Ich schaute in zwei eisblaue, wunderschöne Augen.
"Du...", fing er an, doch ich drückte meinen Finger auf seinen Mund. Ich kletterte auf den anderen Stein, hob Felix' Kopf an und wischte mit meinem Finger etwas Blut von seinem Hinterkopf ab. Danach hielt ich meine Hand in das Wasser. Der Donner graulte erneut auf, Felix' toter Körper zog sich zusammen und zerrieselte danach in feine Sandkörner. Aus dem Blut im Wasser formte sich ein kleiner Behälter. Ich nahm die Sandkörner in meine Hand und tat sie danach in den Behälter. Ich verschloss ihn und steckte ihn ein.
"Lass uns gehen.", seufzte ich und schaute auf den Boden. Leb wohl, Felix.

"Jessica, wach doch auf", schrie jemand panisch und rüttelte an mir. Ich öffnete schlagartig meine Augen und blickte in Felix' Gesicht.
"Felix", seufzte ich und fiel ihm um den Hals.

"Warum habe nur ich diese grausamen Albträume?", fragte ich ihn, nachdem ich ihm von meinem Traum berichtet hatte. Er hatte mir gut zugesprochen und geholfen, den Traum einigermaßen zu verarbeiten.
"Ich weiß es nicht. Aber du weißt, dass ich sowas nie tun würde, nicht mal aus Eifersucht. Ich verspreche es dir", sagte er und nahm mich zum bestimmt Hundertsten Mal in den Arm. "Lass uns frühstücken gehen. Dann kommst du vielleicht auf andere Gedanken", meinte er und lächelte mich aufmunternd an. Ich zog mir im Badezimmer schnell ein Kleid an, das ich eben aus dem Koffer gekramt hatte und ging dann mit Felix zusammen zum Frühstück.
Heute war der 6. Tag in Miami und morgen würden wir zurückfliegen. Wenn ich etwas in Miami gelernt hatte, war es, dass Liebe nicht immer einfach war. Doch eigentlich wusste ich das schon vorher. Nur hier im „Urlaub", wenn man es denn so nennen mag, hatte sich das alles noch viel mehr herauskristallisiert.
War die Liebe denn so schwer? War es überhaupt die Liebe? Eigentlich sind es doch eher die Menschen, die sich die Liebe gegenseitig schwer machen. Wenn ich zum Beispiel nur Felix lieben würde, gäbe es das Problem mit Taddl nicht - Liebe wird einfach. Andersherum genauso. Oder würden die beiden mich nicht lieben und ich sie auch nicht - Liebe wird erneut einfach. Denn dann existiert sie nicht. Ich sollte diese Philosophie auf später verschieben, dachte ich und betrat mit Felix den Frühstückssaal.
Die anderen, einschließlich Taddl, hatten dort schon angefangen.
"Hey alle mit einander", begrüßte ich sie und lächelte mit einem aufgezwungenen Lächeln. Ich setzte mich nach einem Murmeln, das als Begrüßung durchgehen konnte, neben Caty und starrte in die Leere.
"Hast du schlecht geschlafen?", fragte Caty mich leise.
"Allerdings. Wieso fragst du?"
"Du bist viel blasser und irgendwie wirkt deine Aura auch angegriffen", meinte sie. Aura? Was für eine Aura? "Erzählst du mir den Traum nachher?"
"Wenn du das gerne möchtest, kann ich das machen", sagte ich locker. Wenn sie wüsste, wie sehr mich der Traum wirklich verletzt hat...
Ich stocherte in meiner Müslischüssel herum und bekam so gut wie keinen Bissen herunter. Plötzlich stand Taddl auf und ging weg. Verwirrt blickte ich auf und schaute ihm hinterher. Ich stand auf und ging ihm hinterher. Vielleicht wollte er das ja.
"Taddl?", fragte ich, als wir den Saal verlassen hatten. Er drehte sich um und schaute mich mit einer ernsten Miene an. "Was ist?" Auf einmal fing er an zu lächeln.
"Mir geht's gut. Und ich hatte gehofft, dass du mir hinterhergehst", antwortete er.
"Das ist nicht witzig", sagte ich grimmig und wollte umdrehen, um zurückzugehen, doch er zog mich zurück und drückte seine Lippen auf meine. Ich fühlte mich sofort wohler und auch ein bisschen glücklicher. "Danke", flüsterte ich kaum hörbar.
"Mit dir stimmt etwas nicht. Erzählst du mir, was los ist?"
"Ich hatte einen Traum ...", fing ich an und erzählte ihm von dem Traum.

"Du hast dich für mich entschieden? Warum das denn?", fragte er ungläubig, nachdem ich erzählt hatte.
"Felix hatte dich und sich selber getötet. Ich hätte ihm das nie verzeihen können, dass er meine Liebe erst auf so eine Probe stellen muss", erklärte ich ihm. Ich schaute zu ihm hoch. Er lächelte und schloss mich in seine Arme. Bei ihm fühlte ich mich so unglaublich wohl. Als ich gerade Luft holte, um etwas zu sagen, kam Ardy aus dem Essenssaal und rief aufgeregt Taddls und meinen Namen.
"Leute, ich hab super Nachrichten", richtete er uns aus und fing an, uns von der super Nachricht zu berichten.

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Und trotz Scheibenblockade und Lustlosigkeit hab ich es geschafft, ein Kapitel zu schreiben. Ich hab meine Handschellen genommen, mich festgekettet, Musik angemacht und mir das Ziel gesetzt, ein Kapitel zu schreiben. Das ist dabei rausgekommen.
Ich hoffe, es ist akzeptabel.

Es geht weiter, wenn es 8 Likes hat und ich dann auch was habe 😂

Zeit zu gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt