Kapitel 43

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"Und nun kommen wir zu Jessica", kündigte der unfreundliche Mann von vorhin mich an. George hieß er übrigens, wie Taddl mit erzählte. Er schien auf Georges' Namensschild geschaut zu haben. Ich zitterte am ganzen Körper, schon seit der erste Sänger auf der Bühne stand und sein Lied vortrug.
"Du schaffst das", sprachen die anderen mit Mut zu. Mit weichen Knien erhob ich mich aus dem Stuhl. Die Menschen applaudierten mir und ich wäre genau in dieser Sekunde am liebsten woanders gewesen. Ich atmete tief aus, ein und aus. Ich zitterte am ganzen Körper. Langsam trat ich auf die Bühne und nahm das Mikrofon in die Hand. George sagte:
"Sie wird jetzt das Lied ›Everybody's fool‹ singen. Viel Spaß, Jessica!", lachte er gekünstelt. Ich verdrehte die Augen und erschrak ein wenig, als das Scheinwerferlicht auf mich fiel. Die Musik startete. Ich dachte an alles, was passiert war. An die Menschen, die mir begegnet waren, an die Ereignisse. Alle schlechten Gefühle entnahm ich dem und steckte sie in den Song. Denn dieses Lied war ein böses, wütendes Lied.
›Du schaffst das!‹, ›Gib alles!‹, ›Bringe dein Bestes auf die Bühne!‹. Diese Gedanken, die auch irgendwie Forderungen waren, schwirrten mir durch den Kopf. ›Leg dein ganzes Leben in dieses Lied!‹. Ich musste mir jemanden vorstellen, an den das Lied gerichtet sein sollte. 'Everybody's fool' - Jedermanns Narr. Ein Narr. Ein Synonym: Dummkopf. Jedermanns Dummkopf. Wer, von den Menschen, die ich kenne, ist ein Dummkopf? Meine Schwester vielleicht. Ich ging den Text noch einmal durch. Ein kleines Beispiel:
More lies about a world, that never was and never will be - passt. Meine Schwester log oft. Vor allem sich und die Welt belog sie. Ich schnitt den Text also perfekt auf sie zu und gab mein allerbestes. Mit so viel Elan hatte ich wohl noch nie zuvor gesungen. Manchmal schloss ich die Augen, um einfach alles zu vergessen, was sich hier befand.

Als die Musik stoppte und das Lied zu Ende war, herrschte eine unglaubliche Stille im Saal. Ich stellte das Mikro zurück in den Ständer und wartete einen Moment. Das Scheinwerferlicht blendete mich, sodass ich nichts erkennen konnte. Auf einmal fingen alle wie wild an zu klatschen und mehrere standen sogar auf. Viele brüllten: "Zugabe!" Lächelnd und dankend verbeugte mich und ging zurück zu meinem Platz.
"Das war unglaublich! Vielen Dank, Jessica!", moderierte George. Schon während ich mich auf den Stuhl setzte, beglückwünschten die anderen mich.
"Den Sieg hast du eindeutig verdient!", flüsterte Caty mir zu.
"Du hast so eine wahnsinnige Stimme", lobte Izzi mich.
"Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du so gut singen kannst", lachte Ardy. Wir lachten kurz auf und schauten dann zur Bühne. Die letzte Teilnehmerin stand auf der Bühne. Ein Playback des Liedes 'Hurt' von Christina Aguilera spielte. Das Mädchen nahm vorsichtig das Mikro in die Hand und fing an zu singen. Sie sah eigentlich ganz hübsch aus. Bei den hohen Tönen schmolzen viele der Zuschauer dahin, bei den kraftvollen Stellen schreckten viele vor Begeisterung zurück. Ich hatte das Gefühl, dass sie gewinnen würde.
Felix und Taddl griffen gleichzeitig nach meiner Hand. Taddl zu meiner Rechten, Felix zu meiner Linken. Ich erschrak kurz, doch konzentrierte mich dann wieder auf das Mädchen. Der letzte Ton war gesungen und das Publikum flippte aus. Irgendwie fast noch mehr als bei mir.
"Danke, Rya! Toller Auftritt!" Der Applaus übertönte fast seine Stimme. Ich spürte ein Stechen in mir. War das Neid? "Kommen wir zur Wahl: Ihr bekommt jetzt alle einen Stimmzettel, den ihr in eine Urne eurer Wahl werfen könnt. Alle Teilnehmer haben eine eigene Urne. Die Namen und die Lieder stehen zur Erkennung auf den Urnen drauf. Teilnehmer, kommt bitte noch einmal alle hier auf die Bühne!", sagte George. Ich stand auf und ging mit den anderen Teilnehmern zusammen auf die Bühne. Dort traten wir alle noch mal einen Schritt vor, verbeugten uns und kassierten noch mal einen Applaus.
"Ihr dreht euch bitte alle um, sodass ihr das Publikum mit den Rücken anschaut, damit ihr nicht seht, wer wen gewählt hat", sagte er zu uns, ohne ins Mikrofon zu reden. Einige Sänger schnalzten genervt mit der Zunge, andere verdrehten die Augen und wieder andere, einschließlich mir, nickten verständlich. Zusammen setzten wir uns wie befohlen auf die Bühne und schauten auf den hinteren schwarzen Vorhang. "So, Zuschauer, ihr habt jetzt 5 Minuten Zeit, für jemanden eurer Wahl zu stimmen. Die Urnen sind da", sagte er und zeigte auf einen großen Tisch neben der Bar. Das Scheinwerferlicht ging aus, die normalen Raumbeleuchter an. Im zuvor stillen Raum ertönten jetzt Sätze und Dialoge zwischen Leuten, die sich unterhielten.
"Du hast schön gesungen", sagte jemand von rechts zu mir. Ich drehte mich nach rechts und sah Rya neben mir sitzen.
"Danke. Du aber auch", erwiderte ich und lächelte.
"Magst du Taddl?", fragte sie nach einer Weile und zeigte auf den Pullover.
"Ähm... Ja klar. Wieso sollte ich den Pullover sonst tragen?", lächelte ich.
"Weil er echt mega cool aussieht", lächelte sie zurück.
"Magst du Taddl denn?", fragte ich sie. Irgendwie mussten wir die fünf Minuten ja überbrücken.
"Mögen ist gar kein Ausdruck. Aber ich habe ihn noch nie getroffen. Das wäre mein größter Wunsch. Ich würde wirklich alles dafür tun", erzählte sie. Glücklich lächelte ich in mich hinein. "Hast du ihn schon mal getroffen?", wollte sie dann wissen. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich ihn sogar jeden Tag sah und auch die ganzen Anderen aus dem Youtuber-Haus kannte, doch ich ließ es lieber und antwortete:
"Nein. Leider auch nicht. Wie alt bist du eigentlich?", fragte ich sie.
"17. Und du?"
"Ich bin 20", antwortete ich und lächelte. "Und du würdest wirklich alles dafür geben, ihn zu treffen?" Sie nickte hastig.
"Die fünf Minuten sind in wenigen Sekunden vorbei!", rief George durch den Saal.
"Es ist mir egal, wer von uns gewinnt. Aber versprich mir, dass du am Ende nicht sofort abhaust, sondern noch kurz zu mir kommst, okay?", wickelte ich sie um den Finger. Wenn sie verlieren würde, könnte ich sie damit aufmuntern, wenn sie gewinnen würde, könnte ich sie noch glücklicher machen. Sie stimmte ein und gleichzeitig mit den anderen standen wir auf und setzten uns an den Bühnenrand.
"Die Stimmzettel werden nun ausgewertet. Ich gebe das Mikrofon nun herum und ihr könnt etwas über euer Leben erzählen", meinte George, überreichte einem Jungen das Mikro und verschwand von der Bühne zu den Urnen. Der Junge fing an von sich zu erzählen.
"Ich glaube, der hört sich gerne reden", flüsterte ich Rya kichernd zu. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Irgendwann erreichte das Mikrofon auch mich. Ich holte Luft und setzte zum Reden an, als George mich gerade unterbrach.
"Der Gewinner steht fest." Ich sprang sofort auf. Rya und die Anderen folgten.
"Hoffentlich wird das jetzt nicht so 'ne Auslosung wie bei Dsds", murmelte ein Junge. Ich kicherte und stellte mich gerade und selbstbewusst hin.
Die Sänger mussten nach und nach die Bühne verlassen, da es für sie nicht gereicht hatte. Am Ende standen nur noch - wie ich es irgendwie erwartet hatte - Rya und ich auf der Bühne.
"Interessant. Ich hab es erwartet", sagte George. "Es war eine knappe Entscheidung. Wirklich." Rya und ich wechselten einen kurzen Blick. "Und der Gewinner ist..." Im Hintergrund fing eine bedrohliche Musik an zu spielen. Selbst wenn ich verlieren würde, es war nur ein kleiner Spaßwettbewerb nebenbei. Aber etwas Anerkennung wäre schon nicht schlecht. "JESSICA!", schrie George und Konfetti regnete auf mich herab. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Alle applaudierten und ich strahlte wie noch nie. Wie gern ich jetzt meine Freunde umarmt hätte. Rya zuckte zusammen und schaute traurig zu Boden. Ich nahm sie in den Arm und flüsterte ihr zu: "Ist doch nur ein lächerliches Spiel." Sie nickte zaghaft und beglückwünschte mich. "Ich hab noch eine Überraschung für dich", murmelte ich noch schnell, da George zu mir kam und verkündete:
"Also, da du gewonnen hast, bitte ich dich, eine Zugabe zu geben. Welches Lied denn?" Er hielt mir das Mikrofon hin.
"Das Lied heißt ›In The End‹, aber dazu möchte ich noch jemanden auf die Bühne bitten", erzählte ich, ging von der Bühne und steuerte direkt auf Taddl zu. Dieser hob verteidigend die Arme. Ich zog ihn hoch, gab ihm einen unauffälligen Kuss auf die Wange und zog ihn mit mir auf die Bühne. Rya konnte ihren Augen nicht trauen. Auch George wurde wieder nervös. Taddl war das alles ziemlich unangenehm. Ich winkte Rya zu mir rüber. Diese fiel allerdings auf den Boden und fing erschöpft an zu weinen. Das war anscheinend zu viel auf einmal für sie. Ich kniete mich zu ihr und richtete sie auf.
"Tada. Meine Überraschung", lächelte ich und half ihr hoch. Mit zittrigen Knien stolperte sie zu Taddl. Als sie vor ihm stand, strich sie sich ihre Tränen aus den Augen.
"Oh mein Gott", flüsterte sie mit so viel Freude und Glück, dass ich mich selbst mitfreute. Taddl schloss sie in seine Arme und lächelte sie an. "Bekomme ich bitte nachher noch einen Autogramm? Können wir auch noch ein Bild machen?", stotterte sie und ihre Augen glänzten.
"Klar doch. Warte unten, ich komme nach der Vorstellung zu dir", meinte Taddl freundlich und schob Rya sanft von sich. Rya war total geflasht und verließ mit einem Honigkuchenpferd-Grinsen die Bühne. Die Zuschauer klatschten begeistert. Sie mussten das wohl süß gefunden haben.
"Erzähl mal, wieso hast du den werten Mann zu deiner Seite auf die Bühne geholt?"
"Die Zugabe ist kein normales Lied. Es ist ein Lied mit Rap-Passagen. Und ich kann nicht rappen, also...", lachte ich. Taddls Blicke waren mehr als überrascht. "Lass uns anfangen", grinste ich. In Taddls Gesicht stieg Angst auf. Das Playback startete. "Die Zettel, die du gefunden hast, stammen von Ardy, Felix und mir. Die Textpassagen sind aus dem Lied. Guck einfach auf die Leinwand und sing den Text. Du kannst das", sprach ich ihm Mut zu und erklärte gleichzeitig die derzeitige Lage.
Er nahm das Mikrofon in die Hand, führte es zu seinem Mund, holte Luft und rappte los.

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Mal ein bisschen Mathe, damit ihr wieder in den Alltag zurückkommt (😂)

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Zeit zu gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt