Kapitel 27 - Schmerz

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Mit leerem Blick starrt Mailin an die dunkle Holzwand. Durch das kleine Fenster zu ihrer Rechten fällt nach wie vor künstliches, weißes Licht von draußen ein, obwohl es bereits spät in der Nacht sein muss. Lumine sagte, dass sie in diesem Zimmer bleiben könne, solange sie wolle.

Und dort saß sie nun. Auf dem schmalen Bett aus Holz in diesem kleinen, verstaubten Raum, den in den letzten Jahren wohl niemand betreten hatte.

Im Kopf ein Meer von Gedanken, in denen sie zu ertrinken droht.

Gut und Böse. Licht und Dunkelheit. Alles scheint sich mit einem Mal zu vermischen. Gibt es überhaupt einen wahren Schuldigen? Oder ist am Ende doch alles bedeutungslos?

Ist das Göttliche die Ursache für all die Grausamkeiten in dieser Welt? Hat es den Sinn für Gerechtigkeit verloren und die Menschen leiden lassen? Oder sind die Taten der Menschen das eigentliche Problem?

Existieren diese Dinge überhaupt? Gut und Böse. Oder sind das bloß die Hirngespinste der Gesellschaft, um alles Existente in Schubladen zu stecken? Im Endeffekt gibt es für jedes Handeln einen Grund. Oder nicht?

Fragen über das Leben, ihre eigene Existenz, die Macht der Götter und Archonten. Doch spielt das für sie schlussendlich überhaupt eine Rolle? Eigentlich könnte es Mailin egal sein.

Und dennoch... Lumine sagte, sie könnte sich dem Grund ihrer Existenz nicht widersetzen. Ist das nun bei ihr auch der Fall? Ist es ihre Bestimmung? Ihre Aufgabe?

Muss sie sich den Archonten tatsächlich stellen?

Aber wäre dies das Richtige? Das 'Licht', für das man sie hielt? Die Definition von 'Gut'?

Niemals zuvor in ihrem Leben hatte die junge Frau sich über solche Dinge Gedanken gemacht. Sie hielt ihr Handeln immer für gutherzig. Doch nun... in diesem Moment scheint sich alles in ihrem Kopf zu vermischen. So wie die Blätter der selben Bäume vom Wind durcheinander gewirbelt werden und anschließend nicht mehr zu unterscheiden sind. Es lässt sich nicht mehr sagen, welches Blatt von welchem Baum stammt.

Einige Zeit ist so nun bereits vergangen. Doch das Chaos in ihren Kopf hat sich noch immer nicht gelegt. Allerdings verfestigt sich ein Gedanke darin. Eine Frage. Und nicht nur das, Mailin will mit jemandem darüber reden. Diese Stille ist regelrecht erdrückend. Und alleine zu sein, verschlimmert die Verlorenheit in ihren eigenen Gedanken bloß noch mehr.

Es ist zwar mitten in der Nacht, aber an Schlaf ist für sie im Moment nicht zu denken. Viel mehr formt sich in ihrem Kopf ein Wunsch ab.

Und natürlich wird dieser auch erhört.

Die junge Frau steht auf, um aus dem Fenster zusehen. Eine Landschaft ist dahinter zu erkennen, welche der Inazumas ziemlich nahe kommt. Eine täuschend echte Illusion. Denn in Wirklichkeit befindet sich dieses Versteck inmitten eines Berges. Hinter diesem Fenster sollte nichts als Gestein und Dunkelheit liegen.

Dann erscheint eine weitere Präsenz im Raum.

,,Du hattest Recht... ich bin tatsächlich kein Mensch," beginnt Mailin daraufhin zureden ohne sich umzudrehen. ,,Ich kenne nun die Wahrheit. Ich weiß alles, was damals in Khaenri'ah geschehen ist. Und auch welche Rolle ich in der ganzen Sache spiele."

Langsam wendet sie sich von dem Fenster ab und blickt mit ausdrucksloser Miene zu der Person inmitten des Raumes.

,,Eine Alchimistin namens Rhinedottir erschuf mich, damit Khaenri'ah den himmlischen Mächten eines Tages widerstehen könnte... und um einer untergehenden Zivilisation eine letzte Hoffnung auf eine Zukunft zu hinterlassen."

,,Kein Mensch... sagst du?" fragt eine männliche Stimme leise, als wäre dies das einzige von ihren Worten, was sie interessiere. Nun tritt die Person nach vorne und das schwache Licht von draußen erhellt die Konturen ihres Gesichtes.

MailinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt