Delia Green (Julia Adamenko)
Ich gehe die warme Steintreppe unseres neuen Hauses hinunter, die sich ohne Schuhe eher anfühlt wie heißer Teer. „Delia...kommst du jetzt...?" höre ich die Stimme meiner Mutter laut, die bereits im Auto sitzt. „Ich habe nur mein Handy geholt...ich hab es im Zimmer vergessen...", sage ich laut und gehe schließlich mit meinen Schuhen in der einen und meinem Handy in der anderen Hand auf das kleine graue Auto zu. Ich setze mich hinein und stecke mir lächelnd meine Kopfhörer in die Ohren. Ich höre die ganze Fahrt über meine Playlisten hoch und runter. Auf diesen tummelt sich viel Musik aus den 80er und 90ern, eigentlich der Kram, den meine Mutter mögen muss, aber meine Mutter, Mina Green, mag keine Musik. Sie mag allgemein nichts, was schön ist und entspannt und gleichzeitig Wellen an Emotionen hervorruft. Aber ich mache mir daraus nichts, denn jetzt sitze ich im Auto und die Sommerferien können trotz allem losgehen. Was ich mit trotz allem meine, ist mein Abitur nächstes Jahr, den Umzug in eine ganz andere Stadt, die zermürbte, seltsame Trennung von meiner Ex-Freundin Grace und alle anderen Dinge, die mich sonst noch umtreiben. Und es umtreibt mich manchmal so einiges, auch wenn es mich gar nicht betreffen sollte. Aber nun habe ich erstmal sechs Wochen frei, sechs Wochen ohne den ganzen Stress, abgesehen von meiner Mutter vielleicht, denn wenn sie einen schlechten Tag hat, ist sie sogar in den Ferien stressig. Meine Mutter Mina Green, eine strenge Bürofrau, die meistens nicht einmal zu mir besonders freundlich ist, mich zwar wie eine Tochter behandelt, aber Emotionen und menschliche Probleme nur schwer dulden kann. Zwar ist es besser, seitdem sie durch den Umzug woanders arbeitet, doch trotzdem ist und bleibt sie die strenge Mutter. Aber ich weiß, auch sie versucht sich zu ändern, denn jetzt, wo wir in den Sommerferien an den See fahren, können wir endlich irgendwie versuchen, zu entspannen. Mein Vater ist weg, seitdem ich vierzehn bin. Er ist früher einfach abgehauen und mit irgendeiner reichen Frau durchgebrannt, die ich erst einmal gesehen habe und mir ist sofort etwas unwohl geworden, als ich sie gesehen und mit ihr geredet habe. Und seitdem muss meine Mutter alles alleine machen. Wir verstehen uns nicht immer, vor allem wegen des Themas - meinem Vater. Und sie ist eine eher konsequente, nicht besonders herzliche Mutter. Wenn ich Angst oder Traurigkeit zeige, weine, Albträume habe oder ähnliches, dann ist sie niemand, der mit mir redet oder mich beruhigt. Sie ist dann stumpf und manchmal sogar genervt von mir. Wir fahren über die Landstraßen, die sich in unserer Region endlos über grüne Hügel erstrecken und hin und wieder durch kleine Ortschaften führen.
Ich sehe während des Musikhörens auf die Uhr meines Handys. Es ist schon 15 Uhr und es kommt mir komisch vor. Denn die Zeit ist schon den ganzen Tag über gerast und ich kann es mir nicht vorstellen, dass ich heute Morgen noch in der Schule saß und Zeugnisse gegeben hat. Und ich nach dem nach Hause gehen meiner Mutter erst einmal erklären musste, warum ich meinen Notendurchschnitt nicht auf 2,0 gebracht habe, wie sie es von mir erwartet hat. Schließlich hat sie nach meinem 2,7 Durchschnitt im Halbjahr schon vorgeworfen, ich würde mich nicht genug für die Schule anstrengen, nur ältere Mädchen und jugendlichen Blödsinn im Kopf haben. Was sie mit dem Jugendlichen Blödsinn meint, kann ich mir nicht erklären, schließlich hasse ich Partys und war noch nie betrunken oder gar high gewesen. Aber ich weiß, was sie mit den älteren Mädchen meint. Meine Ex-Freundin Grace ist schon fast zwei Jahre älter gewesen, als ich und ich muss ehrlich zugeben, dass ich schon immer Interesse an den Mädchen beziehungsweise Frauen gehabt habe, die zwischen zwei und fünfzehn Jahren älter sind, als ich. Und ich kann mich daran erinnern, dass das vor allem ein Problem darstellte, als ich noch jünger als sechzehn war. Neben der Tatsache, dass meine Mutter anfangs ohnehin ein bisschen mit meiner Sexualität zu hadern hatte, wäre es schwer zu erklären gewesen, dass eine Vierzehnjährige für mindestens zwanzigjährige Frauen schwärmt, die sie teilweise nicht einmal in echt sehen kann. Und auch, wenn ich mich in dem Alter zwischen Vierzehn und Sechzehn fast täglich in eine andere Schauspielerin, Sängerin oder irgendeine Frau, die ich in der Stadt gesehen habe, verliebte, bin ich über eine Sache froh. Ich bin froh, dass ich mich bis zum heutigen Tag nie in die Mutter von einem meiner Freunde oder in eine Lehrerin verliebt habe. Zum Glück. Denn es gibt genügend solcher Geschichten. Schwärmereien, aus denen sowieso nichts wird, sind dabei nur die Oberfläche. Aber was weiß ich schon, denke ich.
Meistens mag ich es, zur Schule zu gehen, obwohl ich eher eine Einzelgängerin bin. Ich gehe in die 11. Klasse, nach den Ferien in die 12. Dann habe ich nur noch ein Jahr vor mir, bis ich studiere. Ich werde vielleicht Astronomie studieren, auch, wenn dieser Berufswunsch nicht sehr zu meiner Generation passt und erst recht nicht zu meinem Aussehen und Erscheinungsbild. Die Sterne und Galaxien. Das sind Sachen für alte Männer mit Teleskopen im Garten. So haben immerhin meine Freunde mich betitelt, als ich ihnen von meinen Plänen nach dem Abschluss erzählt habe. Und wenn ich an dieses Studium denke, dann denke ich auch immer daran, dass ich meinen Notendurchschnitt verbessern muss, für meinen Abschluss lernen muss, der in genau einem Jahr ansteht. Aber bis dahin ist Zeit, beruhige ich mich selber, sehe aus dem Fenster des Autos und verwerfe den Gedanken an die Schule für einen Moment. Schließlich sind Sommerferien. An die Astronomie denke ich aber trotzdem weiterhin. An dem See, an den meine Mutter und ich fahren wollen, soll es vor allem jetzt, im Juli, viele Sternschnuppen geben. Noch dazu habe ich in dem Moment, in dem ich im Auto sitze und die Sonne bereits etwas tiefer steht, die Hoffnung, an dem einsamen See einen besseren Blick auf die Sternbilder und die Planeten haben zu können, als in der Großstadt. Um kurz nach 17 Uhr kommen wir an dem See an. Dort stehen mehrere Blockhütten aus Fichtenholz mit ein bisschen Abstand zueinander. Wir halten mit unserem Auto neben einer dieser Blockhütten.
-„Delia, hilf mir mal bitte!", ruft meine Mutter vom Kofferraum aus, als ich noch vorne sitze, meine Kopfhörer aus den Ohren ziehe und meine Musik ausschalte.
„Komme!", gebe ich Bescheid, steige aus dem Auto aus und gehe zum Kofferraum, um die Taschen meiner Mutter und mir zu nehmen und in die kleine Hütte zu tragen.
Später haben wir uns ein wenig eingerichtet und ich stehe am Fenster des winzigen Wohnzimmers und sehe mich um. Ich war schon einmal hier, da war ich allerdings um einiges jünger und wahrscheinlich um die zwölf oder dreizehn Jahre alt. Früher waren meine Mutter und ich auch noch mit meinem Vater hier, obwohl er zu dem Zeitpunkt auch schon seltsam gewesen ist. Und nach dem Urteil meiner Mutter schon da mit seiner Affäre zusammen war und nur meinetwegen und meiner heilen Welt bei meiner Mutter und mir geblieben ist. Und ich habe keine Ahnung, wie es danach so schnell gehen konnte, aber schließlich war der Urlaub der letzte mit beiden meiner Eltern zusammen gewesen. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis und ich stelle fest, dass es hier immer noch wie vor knapp vier Jahren aussieht. Nachdem ich meine restlichen Sachen ausgepackt habe, ziehe ich mir ein dünnes graues Sweatshirt über und eine kurze Jeanshose an und mache meine Haare vor dem Spiegel in dem ebenfalls kleinen Badezimmer. Ich binde meine roten Haare, die mir sonst bis zur Hüfte gehen, mit einem schwarzen Haargummi zu einem unordentlich aussehenden Knoten hoch und lächle mich selbst kurz im Spiegel an. Immerhin sind hier keine Menschen, die mich so einfach bewerten und mein Verhalten kommentieren können, wie in der Schule beispielsweise. Obwohl es hier meine Mutter gibt, die sich auch nicht davor scheut, hin und wieder ein paar Kommentare an mir auszulassen. Um geschätzt kurz nach 18 Uhr verlasse ich die kleine Hütte und sehe mich um die Hütte, die für die kommenden fünf Tage meiner Mutter und mir gehört, um. Die vielen Kiefern, die vor vier Jahren kaum größer gewesen sind, als ich sind mittlerweile fast drei Meter hoch und ich muss generell feststellen, dass ich einiges anders wahrnehme, weil ich größer und älter geworden bin. Einiges hingegen hat sich wirklich ein bisschen verändert. Ich gehe weiter eher langsam und gemütlich den sandigen Schotterweg entlang in Richtung der anderen Hütten und dem glitzernden grünblauen See, der nicht weit entfernt vor mir liegt. Ich sehe von weitem auf das glitzernde Wasser, in welchem sich aber schon Nuancen des Sonnenuntergangs zeigen.-
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...