𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟐𝟑 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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(Sorry, dass es so lange gedauert hat... Das nächste Kapitel kommt schneller 🙏🏼)

Am nächsten Morgen werde ich viel später wach, als an den vorherigen. Ich kann es mir nicht direkt erklären, aber ich habe schon kurz nach dem Aufstehen ein seltsames Gefühl. Nicht zwingend ein schlechtes, aber eines, welches ganz klar mit May zusammenhängt. Während mein Blick an der Zimmerdecke haftet, denke ich nach. Langsam kann ich mich wieder an meinen Traum von heute Nacht erinnern. Doch ob er wirklich so in meinem Kopf vorgegangen ist, während ich geschlafen habe, oder ob der Inhalt eher einem Wunsch in dem Moment entspricht, kann ich nicht genau einordnen. Schließlich wären beide Optionen für die Erklärung meines Traumes möglich.
Ich saß wieder am Steg. Dieses Mal aber im Regen und mir war unwahrscheinlich kalt. Trotzdem wollte ich nicht nach Hause, nicht zu meiner Mutter. Tränen flossen gemeinsam mit kalten Regentropfen über mein Gesicht und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich schluchzte und ich zitterte unwahrscheinlich. Nicht nur aufgrund meiner emotionalen Verfassung, sondern auch wegen der plötzlichen eisigen Temperaturen. Ich versuchte, mir meine Tränen wegzuwischen, doch schon im nächsten Moment bemerkte ich eine Person, welche sich neben mich setzte und diese Aufgabe zaghaft übernahm. May war es, die dort in einem orangeroten Wollpullover, einer langen Hose und einer dicken Winterjacke saß und mit ihren Fingerspitzen vorsichtig meine Tränen trocknete. Dabei hatte sie die ganze Zeit ein ermutigendes, aber gleichzeitig unwahrscheinlich sorgenvolles Lächeln auf den Lippen und ihre warmen Finger fühlten sich auf meiner deutlich unterkühlten Haut fast schon heiß an. Vorsichtig entfernte sie jede einzelne Träne, die meine Wangen entlang rollte, mit ihren Fingerspitzen und schließlich sah May mich nur an und meinte: "Hey, das ist doch okay... Ich bin doch für dich da, Delia...". Daraufhin nickte ich und langsam nahm May mich in ihre Arme. Ich vergrub meinen Kopf an ihrem Oberkörper und fühlte die Wärme ihres Körpers, welche durch das Material des orangeroten Pullovers hundertmal präsenter war, als ohnehin schon. Beruhigend hielt May mich mit beiden Armen fest und ich fühlte mich vollkommen sicher bei ihr...
Ich habe mir meinen Traum sofort notiert, nachdem ich um die Mittagszeit wach geworden bin. Mein Traum verwirrt mich einerseits sehr, andererseits auch kein bisschen, denn schließlich bindet er klar Elemente meiner Gedanken mit ein. Jedoch muss ich zugeben, dass mir dieser Traum einen Eindruck vermittelt hat, den ich vorher noch nicht hatte und bei dem ich mir zudem nicht sicher bin, ob er in der Realität so sehr der Wirklichkeit entsprechen würde. Denn auch, wenn es in den letzten Tagen diverse kleine Berührungen zwischen May und mir gegeben hat, bin ich mir nicht sicher, ob sie der Distanz aufs Äußerste aus dem Weg gehen würde. Ich bin mir nicht sicher, ob sie akzeptieren würde, würde ich mich in einer passenden Situation einfach in ihre Arme fallen lassen. In den Vorstellungen, die ich mir innerlich davon mache, fängt sie mich dann mehr oder weniger auf und wir halten einander fest im Arm, spüren die Wärme der jeweils anderen Person. Doch die Realität dürfte anders aussehen, stelle ich im selben Moment etwas enttäuscht fest, muss mir aber gleichzeitig wieder bewusst machen, dass May selbst kaum so stark ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Mir ist klar, dass sie eine erwachsene Frau ist, die etwas mit dem Leben anzufangen weiß, aber wenn es zu dem Punkt kommt, an dem es um emotionale Kraft geht, dann glaube ich, dass auch sie ihre Grenzen hat. Ich bin mir sicher, dass diese sehr wohl existieren dürfen, vor allem, wegen der Gedanken und Gefühlen rund um das Burnout-Thema. Denn wenn ich mir mein weniges Wissen über dieses und die entsprechenden Zeichen von diesem ins Gedächtnis rufe, dann wird mir immer mehr bewusst, was May betrifft. Sie versucht, für andere und im Moment scheinbar insbesondere für mich unwahrscheinlich stark und fürsorglich zu sein, was einerseits nicht schlecht ist, da es nicht nur mich beruhigt und mir hilft, sondern scheinbar auch irgendwie ihr. Andererseits habe ich aber auch die starke Befürchtung, dass sie durch ihre Fokussierung auf das sanfte Behandeln meiner Emotionen ihre eigenen vernachlässigt. Meine größte Angst ist es, mache ich mir in dem Moment bewusst, dass May ihre eigenen Probleme und Gefühle wegdrückt, um mir irgendwie zu helfen und dass es dadurch bei ihr nur noch stressiger und anstrengender wird. Dabei will gerade ich doch, dass dies nicht der Fall ist. Ich seufze und sehe aus dem Fenster in meinem kleinen Zimmer. Draußen ist es warm, jedoch kaum sonnig und der Himmel ist eher grau, statt blau. Ein Tag perfekt gemacht für Gewitter, stelle ich fest. Ich hasse Gewitter.

Später sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer. Sie erzählt mir seit fünf Minuten ohne einen wirklichen Kontext von einer Freundin von ihr, die nur ein paar Minuten von dem Ort, an dem wir sind, entfernt wohnt und dass sie sie gerne besuchen würde. Ich komme mir schlecht dafür vor, mich so gelangweilt zu fühlen, wenn meine Mutter etwas erzählt, aber mein Kopf kann schon seit dem Aufwachen an nichts anderes mehr denken, als an May. Mein Kopf denkt nur noch an den Traum, daran, wie real sich die Berührungen und die Emotionen angefühlt haben und schon fast drifte ich gedanklich ab, als meine Mutter mir eine Frage stellt.
-"Ich fahre gleich zu Jolene in die Nachbarstadt... Das ist mit dem Auto nur ungefähr zehn Minuten entfernt von hier... Sie und ich haben uns lange nicht mehr gesehen und wir wollen abends essen gehen, weswegen ich erst etwa um 23 Uhr wieder da sein werde... Kriegst du es hin, auf das Haus aufzupassen, Delia?". Diesen Schwall an Informationen wirft meine Mutter mir in schnellstmöglicher Art und Weise entgegen. Und während ich erst schon unsicher wie immer damit antworten will, dass ich mir selbst nicht zutraue, ganz alleine im Dunkeln auf das Haus aufzupassen, denke ich plötzlich wieder an May. Wir könnten uns wieder sehen und dieses Mal viel länger und bis viel später in den Abend als vorher. Mir wird ein bisschen warm und ich merke, wie mein Herz ein wenig schneller schlägt.
"Ja... Bekomme ich schon hin...", versichere ich meiner Mutter, trotzdem aber scheint meine leichte Nervosität nicht an ihr vorbeizugehen.
-"Wirklich?", hakt sie ernsthaft fragend nach, aber ich nicke, scheinbar mit genug Zuversicht.
Nachdem sie mir alles gesagt und alle möglichen Szenarien eines Einbruches in die Hütte geschildert hat, überlässt sie mir den Zweitschlüssel. Um Punkt 16 Uhr beobachte ich nur noch, wie meine Mutter in ihr Auto steigt und langsam den Weg entlang hinunter vom Platz fährt. Ich bleibe mit dem Zweitschlüssel für die Hütte in der Hand alleine zurück und nachdem ich mich mehrmals über den laufen Donner draußen erschrocken habe, beschließe ich, zu May zu gehen. Ich erwarte kaum, dass sie bei diesem Wetter am Steg sitzt und hoffe es auch nicht, denn wenn ja, würde ich mir ziemliche Sorgen machen. Ein Gewitter ist schließlich nicht gerade ein ungefährliches Naturschauspiel und noch dazu eines meiner Ängste. Nicht, dass ich mich nicht ans Fenster traue und mich wie bei anderen Ängsten und Phobien in einer einsamen Ecke verkrieche und warte, bis es vorbei ist, aber ich erschrecke mich häufig, zucke zusammen, wenn es ein Gewitter gibt. Außerdem rät mein Unterbewusstsein meinem Gehirn und meinen Körper eher davon ab, bei Unwetter und ähnlichem Wetter nach draußen zu gehen. In diesem Fall aber sagt mir vor allem mein Herz, dass es zu May will, wissen will, wie es ihr geht. Und das lasse ich mir nicht zweimal sagen, weswegen ich um 16:19 Uhr mit meiner alten grauen Regenjacke die Hütte verlasse, den Schlüssel in meiner Hosentasche verstaue, tief durchatme und dann das Haus verlasse, um zu May zu gehen.

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