𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟗 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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"Du bist wirklich schön, May... Vor allem mit den leichten Sonnenstrahlen im Gesicht...". Ich merke erst, als ich Mays Blick sehe, dass ich meine Gedanken in dem Moment laut und ohne zu zögern ausgesprochen habe. Sofort setzt ein warmes Zittern in meinem gesamten Körper ein, während ich Mays Blick genau analysiere, oder es immerhin versuche. Meine einzige Hoffnung ist, dass sie mich nun nicht als seltsam abtut. Ich beruhige mich aber damit, dass sie mir erst vor nicht einmal einer halben Stunde ein ganz ähnliches Kompliment gemacht, mich als eine hübsche junge Frau bezeichnet hat. Mays Blick badet förmlich in meinen Augen, so ähnlich wie meine in ihren. Sie sind so faszinierend und geheimnisvoll dunkel, ebenso aber auch vertraut und warm leuchtend. Ich sehe sie, die sich auf ihre Ellenbogen gestützt rechts neben mir in einer Art Rückenlage befindet, an und starre ihr ohne aufzuhören in die Augen.
-"Danke...", flüstert May schließlich stotternd und ich bemerke die leichte Röte in ihren Wangen, die mich ziemlich zum Lächeln bringt. Es ist schon fast verdächtig, wie unsicher, aber glücklich es sie macht, wenn man ihr ein Kompliment macht, stelle ich fest und sehe dabei weiterhin zu May, hebe meinen Blick in ihre Richtung. Sie sieht liebevoll lächelnd auf mich hinab, scheint trotzdem aber noch ziemlich nervös zu sein, denn ich kann erkennen, dass sie leicht zittert und ihr Blick in meinen Augen nicht einen komplett fixen Punkt fokussiert. Trotz aller Freude und aller guten Gefühle, habe ich trotzdem die leise Ahnung, dass May vor irgendetwas Angst hat, oder sich immerhin bezüglich auf eine bestimmte Sache unsicher ist. Und dass es sich bei dieser um dieses Kompliment von mir handelt, ist nicht einmal allzu abwegig, stelle ich fest und entscheide mich deswegen dazu, etwas zu sagen.
"Also... Das eben... War nicht so gemeint... Also weißt du... Nicht so", versuche ich, May über das aufzuklären, was ich eben meinte. Doch im nächsten Moment befragt mich mein Herz schon danach, ob das überhaupt der Wahrheit entspricht, denn schließlich ist May wirklich eine wunderschöne Frau und das nicht nur in einem allgemeinen Sinne. Obwohl ich sie kaum eine Woche lang kenne, kommt es mir nämlich nicht nur so vor, als würde ich sie schon seit mehreren Jahren kennen. Sondern irgendwie auch so, als würde ich jeden Zentimeter ihres Körpers und jeden Zentimeter ihrer Seele auswendig kennen. Dabei tue ich das keinesfalls. Jedenfalls weiß ich aber, dass sie nicht nur im allgemeinen Eindruck wunderschön wirkt, sondern auf so vielen anderen Ebenen auch. Körperlich, seelisch, ihr ganzer Charakter hat etwas Schönes und beinahe schon atemberaubendes an sich. So definiere ich es immerhin für mich selbst. Und als ich in dem Moment zu May sehe und ihren tiefen, faszinierten in meine Augen entdecke, stelle ich fest, dass dieses Gefühl wahrscheinlich nicht einseitig ist. Das bringt mich noch einmal mehr zum Lächeln. Dann ist es wieder May, die das Wort ergreift, dieses Mal wirklich ein paar vermeintliche seltsame Dinge sagt, aber aus irgendeinem Grund nicht mehr so nervös wirkt, wie davor.
-"Weißt du, Delia... Ich weiß nicht, warum, aber immer, wenn ich in deine Augen sehe... Fühlt sich das so besonders an... Wie ein endloses, warmes, sicheres Meer, in dem ich schwimme". Ja, sie hat sich in mich verguckt, da bestehen bei mir mittlerweile keine Zweifel mehr, stelle ich im selben Moment fest und muss irgendwie lächeln. Gleichzeitig muss ich über ihre Worte nachdenken. Meine Augen wirken also wie ein endloses, warmes, sicheres Meer, in dem May schwimmt. Vorstellen kann ich es mir, so wie sie mich ansieht. Doch ich habe meine blaugrünen Augen bis jetzt immer als eher normal und langweilig empfunden.
"Das klingt wunderschön, May...", antworte ich ihr und lächle sie, die mit ihrem Kopf kaum einen Meter von mir entfernt liegt, an. Danach sehen wir beide wieder in den Himmel und nachdem ich bemerkt habe, dass es allmählich wieder kälter und somit wieder angenehmer wird, sehe ich wieder zu May.
Nachdem wir uns bestimmt eine weitere halbe Stunde lang noch über alles Mögliche unterhalten haben, schaue ich das erste Mal wieder auf die Uhr. Es ist kurz nach 16 Uhr, stelle ich fest und kann mich komischerweise nicht mehr daran erinnern, was ich meiner Mutter gesagt habe, wie lange ich wegbleiben würde. Aber ich gebe der Sonne die Schuld und ein bisschen auch mir selbst, denn ob ich eine halbe Stunde früher oder später nach Hause komme, macht meiner Meinung nach keinen besonders großen Unterschied. Ich weiß aber ebenso, dass meine Mutter und ich in dem Punkt nicht einer Meinung sein werden.
Ich seufze einmal tief und sehe dann wieder zu May, die gedankenverloren und irgendwie auch verträumt in den Himmel schaut. Langsam stütze ich mich ebenfalls auf meine Ellenbogen und versuche May so besser im Blick zu haben. In ihren dunkelbraunen Augen spiegelt sich die Sonne und das Licht, welches von dieser ausgeht, veranlasst Mays ohnehin schon wunderschönen Augen dazu, wie glänzendes Gold oder glitzernder Honig zu wirken.
Mehrere Minuten liegen wir wortlos nebeneinander auf diesem Steg und sehen in den Himmel. Es fühlt sich für mich an wie einer der wenigen Momente, in meinem Leben, die nicht vergehen sollen. So verstanden und willkommen und einfach nur gut fühle ich mich bei May. Und ich bin mir mittlerweile sicher, dass dieses Gefühl wirklich an ihr liegt und nicht oder nicht nur an anderen, eher zufälligen Umständen, wie der abgeschotteten Lage des Sees oder dem warmen Wetter. Ich habe das Gefühl, dass es für immer so bleiben könnte, wie in diesem Moment, auch wenn ich weiß, dass das nicht gehen würde.

Etwa eine Stunde später sitzen May und ich wieder an dem Ende des Stegs, wo wir die zwei Abende vorher auch schon gesessen haben. Die Sonne ist weniger heiß und weniger stark, als vor ungefähr zwei Stunden noch und die Luft kühlt ebenfalls langsam wieder ab. Trotzdem ist es immer noch hell und das Sonnenlicht glitzert hell auf dem grünblauen Wasser des großen Sees. An diesem Tag ist nicht mehr so viel los, wie an dem zuvor. May erklärt es mir und sich selbst damit, dass Montag ist, manche Menschen wieder arbeiten müssen und teilweise erst spät nach Hause kommen, deswegen keine Zeit mehr zum Segeln oder Schwimmen mehr haben. Ich realisiere auch, dass dieser Abend mittlerweile schon mein dritter hier ist, ich May somit seit knapp drei Tagen kenne. Während die braunhaarige Frau rechts neben mir gedankenverloren auf das große Gewässer vor uns sieht, beobachte ich sie wieder einmal ganz genau dabei. Ihre dunkelbraunen, wunderschönen Augen fokussieren nie wirklich etwas, sondern starren nur auf den See und immer, wenn sich ein leichter Wind über uns legt, fliegen ihr vereinzelte Haarsträhnen ihrer braunen Haare in ihr gebräuntes Gesicht. Ich nehme wahr, wie sie leise atmet und dabei immer wieder tief seufzt. Ohne eine wirkliche Erklärung dafür kommt in meinem Unterbewusstsein, oder vielleicht eher in meinem Herzen, der Wunsch danach auf, sie einfach zu umarmen. Ich hätte keinen Grund dafür, wirklich absolut keinen, aber so, wie sie dort sitzt und wieder einmal in Gedanken verloren und auch ein bisschen traurig scheint, würde ich die große Frau am liebsten umarmen. Und ich weiß nicht, wieso.
-"Beobachtest du mich wieder?", fragt May nach einigen Sekunden lächelnd, ohne zu mir zu sehen. Ich merke, wie mir warm wird und ein bisschen kommt in diesem Moment die Angst in mir auf, dass ich wieder rot geworden sein könnte. Und als May zu mir sieht und herzlich und verständnisvoll lächelt, gehe ich davon aus, dass es wirklich wieder der Fall gewesen ist und ohne es zu wollen, habe ich das Gefühl, dass es mir dadurch irgendwie noch unangenehmer wird. Ich kann nichts anderes sagen, als nur "J-Ja... Sorry" zu stottern. May lächelt darauf immer noch und legt für einen Moment ihren Kopf schief, während sie tief ein und ausatmet.
-"Ist doch in Ordnung, Delia...", meint sie mit ruhiger Stimme und ihr Lächeln verschwindet dabei nicht, wird nach meinem Eindruck sogar eher mehr. Unterbewusst scheine ich May nähergerückt zu sein, während sie eben geredet hat und falls sie diese Handlung von mir bemerkt hat, dann ist mir auch das irgendwie ein wenig unangenehm. Schließlich frage ich mich, was sie denken muss. Vor allem, wenn ich dort sitze und an sie heranrücke, während sie redet und mir erklärt, dass es in Ordnung ist, dass ich sie eben so genau gemustert und dies über fast eine Minute lang getan habe. Aber ich sehe Mays Lächeln in ihrem Gesicht, welches von meinem kaum einen halben Meter entfernt ist. Und im nächsten Moment spüre ich eine warme Hand auf meiner, mit der ich mich unbewusst auf dem alten Holz abgestützt habe, als ich May näher gekommen bin. Wieder trifft mein Blick genau in die dunklen Augen meines Gegenübers und ich merke, wie alles in meinem Körper ein warmes und wohliges Gefühl bekommt und sich auf meinem gesamten Körper eine Gänsehaut ausbreitet. Es ist ziemlich still und dennoch habe ich das Gefühl, dass die Blicke zwischen May und mir ganze Geschichten erzählen würden, könnten sie reden. Und trotzdem frage ich mich, was mein Gegenüber von mir denkt. Denn mir ist klar, dass sie mich so anschaut, als wären meine Gefühle nicht nur auf meiner Seite vertreten, aber trotzdem ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass sie zusätzlich noch etwas anderes spürt. Und ich bemerke in dem Moment, wie May, die, wie am Vorabend schon, ihre Hand auf meine gelegt hat, vorsichtig mit ihrem Daumen über meinen Handrücken streicht. Ich sehe der jungen Frau immer noch in ihre dunklen, aber so warm wirkenden Augen und ich habe das leise Gefühl, dass in den nächsten Minuten noch irgendetwas passieren wird.

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