𝐤𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟗 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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Nachdem ich etwa um die Mittagszeit aufgewacht bin, haben sich meine Gedanken fast ausschließlich um May gedreht. Mir ist es auch nicht mehr unangenehm und ich fühle mich auch nicht mehr so verwirrt, wie am gestrigen Tag noch. Doch ob ich wirklich in die braunhaarige Frau mit den honigbraunen Augen verliebt bin, weiß ich auch nicht. Aber vor allem das Zittern in meinen Händen und die Wärme in meinem ganzen Körper, wenn ich May gegenüberstehe, könnten auch dafür sprechen.
Schon vor dem Frühstück sitze ich um die Mittagszeit mit meinem Handy in der Hand auf der Terrasse und merke das erste Mal, nachdem meine Mutter und ich hier angekommen sind, dass es keine wirkliche Internetverbindung gibt. Aber stören tut mich das nicht. Eher, ganz im Gegenteil. Ich sitze mit meinen Kopfhörern in den Ohren auf einem der Holzstühle auf der Terrasse und sehe auf die Bäume und das Gras vor mir und den etwas weiter entfernteren, blau glitzernden See.
-"Delia, kommst du?", höre ich auf einmal meine Mutter und sofort ziehe ich mir meine Kopfhörer aus den Ohren und stoppe die Musik auf meinem Handy. Meine Mutter steht in T-Shirt und Jogginghose im Türrahmen der Haustür und sieht mich an.
"Ja, klar ...", stottere ich ein wenig und meine Mutter geht nur mit einem ernsten Gesichtsausdruck wieder nach drinnen.
-"Gibt Frühstück", höre ich nur noch von drinnen, als ich aufstehe und durch die Tür in das Haus gehe.
In der Küche setze ich mich sofort an die Stirnseite des kleinen Holztisches, auf dem sich ein leerer Teller auf meinem Platz befindet und zwei große Brötchentüten, sowie eine große Flasche Orangensaft stehen. Lächelnd greife ich zur Brötchentüte und nehme mir eines der Brötchen, während meine Mutter sich ebenfalls lächelnd an den Platz mir gegenüber setzt. Ich schneide mein Brötchen auf und schenke mir ein bisschen Orangensaft in das kleine Glas vor mir.
-"Irgendwie bist du heute so....", meine Mutter sieht mich an und versucht sichtlich nach den richtigen Worten zu suchen.
-"Du bist so euphorisch", sagt sie schließlich und sieht mich wissend und lächelnd an. Ich weiß nicht so wirklich, ob ich lächeln soll, denn May kommt mir wieder in den Kopf und mir fällt auf, dass ich wegen May so gut wie durchgängig lächle. Dann reißt meine Mutter mich wieder aus meinen Gedanken.
-„Aber ich finde es gut...", beginnt meine Mutter, nachdem sie von ihrem Brötchen abgebissen hat.
"Ja... finde ich auch...", sage ich einfach, während sich meine Gedanken wieder um May zu drehen beginnen. Ich denke wieder an unsere kleinen Gespräche und die vielen Blickkontakte am vorherigen Abend. Dann merke ich erst, dass meine Mutter mich fragend ansieht und schließlich wieder zu reden beginnt.
-"Und in den Ferien muss man auch mal alles andere vergessen können...", antwortet sie mir, seufzt und sieht dann wieder von mir weg. Ich weiß, was sie mit 'Allem' meint. Sie hat, genauso wie ich, gerade an meinen Vater gedacht. Der ist im Herbst dieses Jahres schon seit drei Jahren weg und gesehen habe ich ihn sehr lange nicht mehr. Und ich weiß, wahrscheinlich ähnlich wie meine Mutter, nicht, wie ich mich fühlen soll und was genau ich denken soll. Einen Moment später soll ich recht gehabt haben, als meine Mutter mich wieder ansieht und mich fragt.
-„Hat er dir an deinem Geburtstag geschrieben?", fragt sie etwas unsicher und sieht mich an. Seltsamerweise merke ich, dass es meiner Mutter ziemlich wichtig ist - ob mein Vater sich bei mir meldet.
„Nein....", antworte ich ihr nur kurz und rede dann weiter.
„Ich glaube auch, dass er es nicht mehr tun wird...", bin ich ehrlich und sehe aus dem Fenster neben mir, nachdem ich nochmal von meinem Brötchen abgebissen habe.
"Er ist irgendwo..."., flüstere ich dann noch auf meinen vorherigen Satz bezogen und sehe wieder zu meiner Mutter. Die starrt mich nur ernst an.
-„Delia ... bitte ... ", höre ich schließlich meine Mutter seufzen.
-„Wir wollen es einfach vergessen, wie er vor zwei Jahren einfach mitten in der Nacht weggefahren und nie wiedergekommen ist... Und wir wollen ihn vergessen", sagt meine Mutter mit fester und ernster Stimme. Ich atme tief ein und aus. Daran will ich mich wirklich nicht erinnern, aber ich merke, dass ich ein wenig wütend werde, denn für mich fühlt es sich so an, als wäre meine Mutter dafür, ihn aus unseren Gedanken und Gesprächen auszuradieren. Denn trotz seines Verhaltens früher bin ich nicht dafür, ihn als Person einfach so zu vergessen. Er hat uns nie etwas getan und ist vor allem, was bei mir die Astronomie betrifft, immer ein offener und freundlicher Mensch mit viel Wissen gewesen.
"Ich will auch so einiges vergessen", traue ich mich schließlich mich einzumischen und bevor meine Mutter noch etwas hinzufügen kann, rede ich weiter.
"Aber ich bin nicht dafür, ihn einfach so zu vergessen", sage ich entschieden und meine Mutter sieht mich ernst an.
-"Ich habe nicht gesagt, dass wir ihn einfach so vergessen wollen", meint meine Mutter ziemlich ernst und laut und bevor ich etwas sagen kann, redet sie weiter.
-"Ich will mich aber nicht an diese Zeit vor drei Jahren erinnern und du willst es sicherlich auch nicht", ist meine Mutter sich sicher und ein wenig kann ich ihr zustimmen. Denn daran will ich mich wirklich nicht erinnern. Ich will mich einfach nicht daran erinnern, wie ich am Tag, nachdem mein Vater einfach abgehauen ist, in der Schule geweint hatte, weil ich zu spät kam. Und ich will einfach nur vergessen, wie ich nur dafür mal wieder aus dem Unterricht geworfen wurde. Und das ist vor allem in der Zeit der achten und neunten Klasse nicht gerade selten vorgekommen. Weder meine Mutter, noch jemand anderes weiß davon, denn sowohl sie als auch alle anderen Menschen wollen nichts mit so einem emotionalen Chaos wie mir zu tun haben. Und während ich mich langsam in Rage darüber befinde, dass meine Mutter offenbar will, dass ich meinen Vater vergesse, auch wenn sie das verneint, denke ich an May. Aber meine Mutter ist mit dem Reden noch nicht ganz fertig. Und in Rage ist sie genauso, wie ich.
-"Sei nicht so frech, wenn wir über deinen Vater reden... Irgendwann schaffen wir es, ihn zu vergessen...", meint meine Mutter mit lauter Stimme und sieht mich böse an. Ich hingegen fasse schnell einen Entschluss und stehe auf, nehme meinen Teller mit zur Spüle und sage meiner Mutter nur: "Ich will Papa aber nicht vergessen", bevor ich mir meine Schuhe anziehe und durch die Tür nach draußen verschwinde. Meine Mutter tut nichts, sondern bleibt nur nachdenklich in unserer Hütte zurück, während ich leicht überfordert vor unserer Hütte neben dem Auto meiner Mutter stehe. Ich atme tief durch. Und plötzlich denke ich an May, doch lächeln will ich in dem Moment trotz des Gedanken an die interessante Frau mit dem liebevollen Blick aus den braunen Augen nicht. Aber ich gehe los und mache mich den Kiesweg entlang auf den Weg in Richtung des Sees, den ich gute fünf Minuten später erreiche. Und nachdem ich leicht verwirrt festgestellt habe, dass alle Türen und Fenster von Mays Haus geschlossen sind und keiner auf der Terrasse sitzt, finde ich am See die Antwort. Denn als ich mich dem Steg nähere und mit vorsichtigen Schritten über das alte Holz gehe, erkenne ich die Gestalt, die am Ende des Steges sitzt, immer besser. Es ist eine Frau mit dunklen Haaren, die zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden sind und ich kann erkennen, dass sie, May, dasselbe gelbe Oberteil trägt, wie am Tag davor. Und jetzt in der Nachmittagssonne, die eine Temperatur von knappen dreißig Grad im Schatten beträgt, frage ich mich ein wenig, ob ihr gar nicht zu warm in dem dünnen Pullover ist.
Langsam nähere ich mich ihr und schaffe es, mich vorsichtig mit etwas Abstand neben sie zu setzen, ohne sie in irgendeiner Form zu erschrecken. Kurz beobachte ich May beim Lesen eines Buches, welches sie in der Hand hält. Es sieht alt, aber interessant aus. Dann entscheide ich mich dazu, sie zu begrüßen, denn ich bin mir sicher, dass sie mich bemerkt hat.
"Hey", begrüße ich sie einfach nur und nachdem May kurz verwirrt zu mir gesehen hat, treffen sich unsere Augen wieder und ich muss lächeln.
"Hey...", flüstert May schon fast und sieht mich auch nach ihrer Begrüßung ununterbrochen aus ihren honigfarbenen Augen an.
May sieht mich an und ich kann an ihrem leicht verwirrten, aber freundlich lächelndem Gesicht ablesen, dass sie nicht genau weiß, wie sie auf mein Auftauchen reagieren soll. Ich frage mich, ob sie sich freut, mich wiederzusehen, oder ob das nur ein Gedanke ist, den ich habe, weil ich mir vor allem in diesem Moment wünsche, dass es so wäre. In der Zeit dieser seltsamen Stille verschwindet augenblicklich das Lächeln aus dem Gesicht der Frau vor mir und ich komme wieder in der wirklichen Welt an. Auch ich muss sie ziemlich komisch ansehen, denke ich schließlich nach, als sie wieder versucht, zu lächeln.
-„Setz dich...", bietet sie mir ruhig an, rückt auf dem alten Holz des Stegs ein bisschen zur Seite. Dankend lächle ich kurz und ich gehe langsam auf sie zu und setze mich vorsichtig links neben sie. Ich spüre sofort ihre Wärme und habe fast schon ein wenig Angst davor, dass das komische, aber wohlige Schwebegefühl vom Vorabend zurückkehren könnte. Das ist zwar bis jetzt nur gekommen, wenn ich in ihre Augen gesehen habe, aber möglich ist alles, da bin ich mir irgendwie sicher. Zumal ich die Wärme des Körpers der Person neben mir spüren kann, trotzdem ist bestimmt ein halber Meter Abstand zwischen uns. Wir schweigen eine Weile, während May in ihrem Buch weiterliest. Ich sehe auf das in der Sonne glitzernde Wasser hinunter, über dem, wie gestern schon hunderte von Mücken herumschwirren. Bis jetzt schlage ich mich ziemlich gut darin, nicht von einer von ihnen gestochen zu werden, denke ich leise, mit einem triumphierenden Lächeln und sehe weiter auf den See hinaus.
-„Wie geht es dir?", fragt May schließlich und ich sehe sofort zu ihr. Ihre Augen sehen mich interessiert und warm an und fast kommt das Schwebegefühl in meinen Körper zurück, doch nach ihrer Frage hört May auf, zu lächeln und sieht etwas traurig auf den See.
„Okay", lüge ich einfach schnell. Ich kann mir selber nicht abkaufen, was ich gesagt habe und vor allem der etwas traurige, bedauernde Unterton in meiner Stimme verrät, dass ich nicht ganz die Wahrheit gesagt habe. Und auch May scheint mir meine Aussage nicht ganz abzukaufen, denn sie legt ihr Buch zur Seite und wendet sich mir vollkommen zu.
-„Wirklich Okay, oder das 'Ich möchte nicht darüber reden-Okay′ ?", erkundigt sich May mit besorgter Stimme und einem trotzdem warmen Lächeln. Ich aber versuche, ihre Frage so gut wie es geht zu umgehen und zu lächeln, damit May mir nichts anmerkt und mich nicht darauf anspricht. Denn ich wüsste nicht, wie lange ich bei dem Thema Mein Vater durchhalten könnte, ohne einzuknicken und wütend zu werden oder gar zu weinen. Und ich weiß nicht, wie May auf Emotionen dieser Art reagieren würde, weswegen ich lieber nicht zu viel sagen will. Ich kann mir zwar vorstellen, dass sie nicht so negativ auf Trauer und Angst und Erinnerungen reagieren würde, wie meine Mutter beispielsweise, aber May kennt mich noch nicht lange. Sie wäre sicherlich ein wenig verwirrt, würde ich auf einmal über mein genaues Leben auspacken und dabei heulen.
Erst jetzt bemerke ich, dass die Stille fast unangenehm geworden ist und ich sehe May von der Seite an. Ihre dunkelbraunen Haare beginnen sich aus dem unordentlichen Dutt zu lösen und immer wieder fallen ihr vereinzelte Strähnen in ihr mittlerweile ernstes Gesicht.
„Weiß ich nicht...", beende ich einfach ihre Frage und hoffe, dass sie weiß, dass ich nicht weiter darauf eingehen will.
„Und... Wie geht's dir?", beginne ich und beiße mir angestrengt auf die Lippe. May sieht mich an und schon nach einer Sekunde treffen wieder ihre honigfarbenen, warmen Augen auf meine, die vermutlich kühl grünblau wirken müssen. May scheint zu zögern. Aber ich will wissen, wie es ihr geht, was sie macht, wie alt sie ist und warum in aller Welt sie mir irgendwie so verdammt bekannt vorkommt. Und irgendwie will ich auch wissen, was sie über mich denkt.
-„Gut...", kommt als knappe Antwort. Ihr Blick bleibt aber weiter vor allem an meinen Augen hängen und ich erwische mich dabei, wie ich abwechselnd zwischen den leuchtend braunen Augen und den rosafarbenen Lippen meines Gegenübers hin und her sehe. May scheint dies irgendwie zu bemerken, entfernt sich ein paar Zentimeter von mir, räuspert sich und lächelt mich an. Kurz sieht sie wieder weg, bevor sie sich komplett von mir abwendet und wieder auf den See sieht, der immer noch im Licht der bereits tiefer stehenden Sonne glitzert.
Und so sitzen wir da und schweigen und starren auf den blauen See vor uns. Ein leichter Wind weht, der mir vor allem auf meinen Armen eine ziemliche Gänsehaut bereitet. Aber stören tut mich das nicht, denn es fühlt sich tausendmal besser an, als mit meiner Mutter in der engen Hütte zu sitzen und sich ihre Kommentare über meinen Vater anhören zu müssen. Denn die kann ich mir nicht anhören. Ich will ihn nicht vergessen, egal, wie schlimm es gewesen ist, als er von einem auf den anderen Tag einfach weg war.
Ich bemerke, dass ich bei dem Gedanken daran meine Nase hochziehen muss und mich zusammenreiße, nicht zu heulen. Keine Ahnung, wie May darauf reagieren würde und außerdem wollte ich nicht diese hohe Energie aufwenden, die das Heulen mich kostet.
-„Alles gut?", hakt May sofort nach, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich starre zu ihr und schulde ihre Frage meinem etwas verzweifeltem Schniefen davor. Mays braune Augen leuchten immer noch, wenn auch in einem besorgten Blick und mit einem emotionalen Glitzern. Wohl kaum würde sie gleich selber weinen, denn nicht einmal ich tue es wirklich. Trotzdem sehe ich in ihren Augen Besorgnis, insbesondere um mich.
„Ja... Klar...", flüstere ich auf ihre Frage vorhin bezogen und weiß, dass ich wieder gelogen habe.
Wieder scheint May mir meine Aussage nur schwer abzukaufen, denn ihr besorgtes Lächeln wandelt sich schnell zu einem wissenden Gesichtsausdruck und ein bisschen scheint es so, als könne sie Gedanken lesen. Denn sie sieht mich ununterbrochen an und beginnt, wieder zu reden.
-"Na dann...", antwortet sie mir, aber hören, dass sie es mir nicht abkauft, kann ich trotzdem. Immerhin hatte ich auch nicht die komplette Wahrheit gesagt, aber vor einer eigentlich fremden Person zu sehr über die eigenen Sorgen und Probleme auszupacken, wäre zu seltsam. Deswegen sage ich darauf nichts, sondern sehe wieder auf den See. Die Person neben mir tut genau dasselbe.

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