𝐤𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟐 - 𝐦𝐚𝐲

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Mayla Lee (Alexis Lemire)

Ich sitze auf der Terrasse meiner Hütte und denke nach. Die Sonne brennt ziemlich stark, aber ich lasse mich davon nicht abschrecken, schließlich ist es in dem hellen Licht dieses riesigen Sterns sowieso viel schöner, als im Schatten. Diese Meinung meinerseits kann man sicherlich gut an meiner bereits gut gebräunten Haut erkennen. Ich sehe mich um, versuchend, einfach an nichts zu denken. Zugegebenermaßen fällt mir diese einfach Sache ziemlich schwer. Auf einmal höre ich Schritte und drehe mich auf dem alten Holzstuhl etwas zur Seite.

Eine junge Frau, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, geht langsam den sandigen Weg zum See entlang, schaut sich interessiert um. Ich kann die Leute, die hier herkommen, mittlerweile gut einschätzen, immerhin bin ich schon meinen dritten Sommer hier. Und wenn sich jemand so umsieht, wie das Mädchen, dann bedeutet es entweder, dass sie das erste Mal überhaupt hier ist, oder, dass sie nach einer wirklich langen Zeit wiedergekommen ist. Irgendwie kann ich aus einem meiner nichtssagenden Gefühle heraus sagen, dass auf die letztere Deutung zutrifft.

Dann wende ich meinen Blick von der jungen Frau mit den gebundenen rotbraunen Haaren ab und schaue auf den glänzenden See. Blaugrün ist er und glitzert im Licht der heißen Sonne. Ich will an nichts denken, aber ein bisschen denke ich schon nach, mit dem einzigen Unterschied, dass ich hier auf meiner Terrasse die warme Sommerluft in meinem Gesicht spüre. Es ist wenigstens eine Abwechslung, denke ich und verschwende dabei einen knappen Gedanken an den Grund, warum ich nicht in meinem Arbeitszimmer sitze und mich mit den Sachen für meinen Beruf beschäftige.

Und für einen Moment will ich mich nicht mit der Frage quälen, ob es zu schlimm oder schwach ist, dass ich schon in so einem jungen Alter nicht mehr kann, fast ein Burnout habe.
Ich denke, dass diese Sommerferien über noch etwas passieren muss, denn ich darf nicht so bleiben. Denn nicht zu wissen, was man tun soll, wo man hin soll, ist schlimmer, als alles andere. Ich könnte hier in meiner kleinen Hütte leben, bis ich im hohen Alter einfach auf meinem kleinen Sofa einschlafe und tot bin, aber ich bin erst 30; bald 31.

Ich muss eigentlich noch etwas aus mir machen, oder etwa nicht? Und ich kann nicht einfach etwas herbeizaubern und meinen Stress von einer Sekunde auf die andere auslöschen. Ich bin 30 und ich habe jetzt schon zu viel Stress, zu viele Gedanken und muss so viele Sachen gleichzeitig bedenken, aushalten und an zu viel denken. Und noch dazu habe ich vor den Ferien in meinem Job als Lehrerin mit so einigen Sachen klarkommen müssen.

Und wenn ich daran denke, was mir meine Mentorin während meines Referendariats vor einem Jahr gesagt hat, dann weiß ich immer noch, dass sie recht hat. Sie hat gesagt, dass es kein Wunder ist, wenn man öfter, als man denkt, weinend nach Hause fährt und unter Stress leidet, auch nur bei den einfachsten Sachen. Und beides ist mir in den letzten Monaten nicht gerade selten untergekommen. Überstunden, organisatorischer Stress, mental instabile Jugendliche, mental instabile Kollegen, Angst vor Fehlern, Angst vor dem Versagen und dazu Erinnerungen an teilweise traumatische Erlebnisse. Und für einen Psychologen habe ich die ganze Zeit über nicht genug Geld gehabt und schwach wollte und will ich nicht wirken.

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ich frage mich ohne wirklichen Sinn direkt eine Frage. Wo ist dieses Mädchen hingegangen? frage ich mich und sehe den Schotterweg vor meiner Hütte entlang. Sie geht langsam den Weg zum See hinunter und die rotbraunen Haare der jungen Frau wehen ästhetisch im leichten Sommerwind. Es hat etwas an sich. Aber im nächsten Moment verbiete ich mir den Gedanken und setze mich auf den alten Holzstuhl, der auf meiner Terrasse steht. Ich weiß, dass er schon da ist, seitdem meine Eltern früher mit meiner Schwester und mir hier an den See gefahren sind.

Manchmal erinnere ich mich gerne an früher, manchmal ist das Erinnern jedoch auch Gift für mich. Und vielleicht ist auch das der Grund dafür, dass ich in diesem Jahr das erste Mal seit einiger Zeit wieder hier bin. Und ich gebe zu, dass ich ein Mensch bin, der auffällig oft vor der eigenen Vergangenheit wegrennt.

Ich lasse meinen Blick über den See schweifen. Lange bin ich nicht mehr hier gewesen, denke ich. Das letzte Mal vor etwa vier Jahren, als meine Eltern mir dieses Haus vererbt haben. Aber schön ist es nicht gewesen, denn meine Schwester ist nicht mit dabei gewesen, mein Vater hat sich wieder so kühl verhalten und bei meiner Mutter ist die Krebserkrankung schon weit fortgeschritten.

Damals haben meine Eltern zusammengelebt, bis mein Vater fremdgegangen ist und meine Mutter immer kränker geworden ist. Ich habe mit meinem Studium angefangen, als bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Und meine Schwester hat sich schon viel früher abgewendet, ungefähr ab der Zeit, in der ich gemerkt habe, dass ich lesbisch bin.

Wieder schrecke ich aus meinen Gedanken hoch, denn die leuchtende Abendsonne beginnt sich in mein Blickfeld zu bewegen. Und ein wenig tut die Sonne in meinen Augen weh, weswegen ich aufhöre, direkt in die Sonne zu sehen. Ich sehe auf den See, auf dem die Spiegelung der hellen Sonne zu sehen ist. Und ich sehe, dass langsam Schwärme von Mücken beginnen, über die Wasseroberfläche zu tanzen. Ich mag die Atmosphäre und eigentlich ist schon immer ein wunderschöner Ort gewesen, der See. Und vor allem in dieser Zeit, in der mich der Stress eigentlich bestimmt hat, wo ich Ruhe brauche und eigentlich alles zu viel ist, denke ich, dass es genau das Richtige ist. Wenn da nicht die Erinnerungen an meine Kindheit wären, in der wir häufig hier gewesen waren, vor allem in den Sommerferien.
Trotzdem ist die kleine Holzhütte, die schon seit den 80er Jahren hier stehen dürfte, ein guter Ort für mich, insbesondere in der jetzigen Zeit. Vielleicht wäre nur ein einsamer Leuchtturm an der baltischen See ein noch besserer Ort für mich; zumindest zurzeit.
Und dann denke ich an die junge Frau, die vor ein paar Minuten an meiner Hütte vorbeigegangen ist und nun sicherlich irgendwo am See herumsitzt. Und ich muss feststellen, dass ich sie noch nie hier gesehen habe. Die anderen, die hier in den Ferien und manchmal auch an Wochenenden herkommen, sind manchmal wechselnd, oft dieselben Menschen und Familien. Aber so viel Kontakt aufgenommen habe ich zu diesen auch noch nie, obwohl ich meistens ein interessierter, extrovertierter Mensch bin. Schließlich wäre ich sonst auch niemals Lehrerin geworden. Der letzte Gedanke meinerseits versetzt mir wieder einen Stich.
Ich denke schon wieder daran, wie mir die letzten Monate über der Kopf gedröhnt hat, alles zu stressig und zu viel geworden ist und ich teilweise mitten am Tag nicht mehr konnte. Dabei war das, was ich machte, selten körperlich anstrengend, mental dafür umso mehr. Und Anfang Juni habe ich zugeben müssen, dass ich nicht so weitermachen kann, denn schon seit Ende Mai haben sich bei mir die Panikattacken immer mehr gehäuft. Das ist letzten Endes dann auch der Grund dafür gewesen, dass ich nicht mehr weitermachen konnte. So habe ich es auch dem Schulleiter, meinem ehemaligen Chef erzählt. Und dann bin ich von ihm beurlaubt worden. Einfach so. Und es fühlt sich auch gut an, gut, etwas anderes zu sehen, zu denken, zu fühlen. Und es ist alles besser, als in meiner winzigen Wohnung direkt neben der Schule zu leben. Denn dort werde ich nicht nur jeden Tag daran erinnert, wo ich mal gearbeitet habe, was ich einmal war und nicht mehr bin, sondern auch ganz andere Sachen.
Aber das Wissen, dass ich nach den Ferien erstmal klarkommen muss, vielleicht in Therapie gehen muss und dann höchstwahrscheinlich an eine andere Schule versetzt werde, macht trotzdem etwas mit mir. Und ich muss noch etwas anderes feststellen. Denn wer auch etwas mit mir macht, ist die junge Frau mit den rostfarbenen Haaren von vorhin. Was sie mit meinen Gedanken davor zu tun hat, weiß ich auch nicht, schließlich habe ich sie noch nie in meinem Leben gesehen und dass sie auf die Schule geht, an der ich unterrichtet habe, ist so gut wie ausgeschlossen. Zumal sie in dem kurzen Moment, in dem ich sie angeschaut hatte, etwas zu alt gewirkt hat, um noch zur Schule zu gehen. Auf mich hat sie so gewirkt, als wäre sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt, vielleicht eine Studentin. Auch, wenn ihr Gesicht noch sehr jung gewirkt hat, noch nicht ganz ausgewachsen und vielleicht so, als wäre sie fünfzehn.

Und wenn das der Fall wäre, dann würde ich mir auch in Lichtgeschwindigkeit ein paar Gedanken, die ich mir gemacht habe, aus dem Kopf schlagen. Zum Beispiel, dass sie ästhetisch aussieht und dass ich permanent an sie denke, obwohl ich sie erst einmal für etwa zehn Sekunden gesehen habe. Das einzige gruselige, was ich in dem Moment denke, oder eher fühle ist, dass ich es bereits im Gefühl habe, dass das nicht meine letzte Begegnung mit ihr, der ästhetischen jungen Frau gewesen ist.
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