𝐤𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟓 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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Nach unserem kleinen Gespräch sehe ich wieder aufs Wasser. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, oder bilde ich mir das nur ein? Denn irgendwie mag ich sie und ich muss mir direkt selber erklären, dass ich mich an dieser Stelle nicht in sie verlieben werde. Denn sie ist definitiv älter, als ich und noch dazu ist das nicht der richtige Kontext dafür. Außerdem weiß ich doch gar nicht, ob sie auf Frauen steht. Und egal ob ja oder nein, muss eine so hübsche und freundliche Person wie sie sicherlich eine Partnerin oder einen Partner haben. Noch dazu ist die sicherlich über 20, obwohl das wieder dafür sprechen müsste, dass ich mich auch nach Grace nicht besonders stark geändert habe. Aber ich wäge meine Überlegungen ab, denn ich kenne May seit gut zehn Minuten, was aber nicht dagegen sprechen würde, dass ich doch irgendwas für sie fühle. Aber das ist der falsche Ort, denke ich und dennoch wage ich genau in dem Moment einen Blick in ihre Richtung. Sie sieht mich nicht an, sondern sieht nach unten auf das Wasser, welches kontinuierlich in kleinen Wellen gegen die Pfeiler des Stegs schwappt. Mit meinem Blick mustere ich die Frau neben mir von oben bis unten. Strähnen ihrer mahagonifarbenen Haare hängen ihr ins Gesicht und irgendwie sieht sie gedankenverloren und auf irgendeine Art traurig aus, aber dennoch selbstbewusst. Und sie hat etwas an sich, was sich für mich grundlos warm anfühlt. Vielleicht sind es aber auch nur ihre honigfarbenen Augen, die mir diesen Eindruck vermitteln. "Stopp", sage ich schließlich leise zu mir selbst und bemerke, dass meine Ermahnung an mich selber nicht nur in meinen Gedanken war, als May verwirrt aufsieht.
-„Ist was?" fragt sie ruhig und kaum genervt und es scheint mir, als würde sie mit ihren dunkelbraunen Augen direkt in meine Seele starren. Und so ist es mir auch schon vorher vorgekommen, als sich unsere Blicke getroffen haben und ich erschrocken feststellen musste, dass ich May irgendwie mag. Wie genau, weiß ich nicht, aber ich mag sie.
Aber ich weiß zuerst nicht, was ich auf ihre kurze Frage antworten soll. Aber sie scheint auf unheimliche Weise die Antwort darauf zu wissen, warum ich mich vorhin selber ermahnt habe.
-„Du warst in Gedanken..." sagt sie leise und es ist ein bisschen unheimlich für mich. Immerhin kommen mir schon ihre dunklen Augen, die im Licht der letzten Sonnenstrahlen wie goldener Honig wirken, so vor, als würde sie mit einem Blick durch diese meine Seele durchleuchten. Schließlich nicke ich und May sieht mich weiterhin ruhig an. Der tiefe Blick aus den dunklen Augen liegt immer noch auf mir.
-„Ist okay..." sagt sie leise und setzt sich ein paar Zentimeter dichter zu mir, während ich spüre, dass mir durch die bereits fast untergegangenen Sonne langsam kalt wird. Und erschrocken muss ich feststellen, dass mir schon durch einen Blick in die warmen und tiefen Augen meines Gegenübers wärmer wird. Sollte ich die Frage an mich selbst, ob ich mich vielleicht doch in sie verliebt habe, nochmal überdenken?
„Mhm...", murmele ich nur leise und sehe wieder zu ihr und wieder treffen sich unsere Blicke. Sie sieht mich durch ihre dunklen Augen wieder so tief an und sie blinzelt in den etwa zehn Sekunden des Blickkontakts kein einziges Mal.
Nach einiger Zeit, in der wir geschwiegen haben und die Mückenschwärme über dem Wasser tanzen, sehe ich wieder auf. Erst jetzt realisiere ich, dass es schon verdammt spät sein muss, mindestens zwanzig Uhr und dass meine Mutter mich schon sucht, weil sie schon Abendessen gemacht hat. Dabei vergisst sie oft, dass ihre mittlerweile siebzehnjährige Tochter auch selber die Fähigkeit dazu hat, sich etwas zum Essen zu machen. Aber ich bin mir sicher, dass meine Mutter mich sucht. Obwohl sie weiß, dass ich lieber für mich allein in der Natur unterwegs bin.
-„Du denkst nach..." stellt May fest, nachdem sie mich unauffällig angesehen und wohl meinen leeren, etwas besorgten Blick bemerkt hat. Ich nicke still und sehe zu ihr. Ihre dunkelbraunen Augen glitzern hell, sehen aus wie zwei Bernsteine, die im Sonnenlicht glitzern und für einen Moment fühlt es sich so an, als wäre ich komplett von dieser Welt verschwunden. Es fühlt sich ganz kurz so an, als würde ich schweben, aber gleichzeitig, als würde mich jemand fest umarmen und mich lieben. Eine solche Wärme strahlen ihre Augen aus. Und das Gefühl vom Schweben lässt nicht nach, doch dann holt May mich zurück.
-„Ist was mit meinen Augen?" fragt sie mich und ihr Lächeln ist warm und herzlich und dennoch bemerke ich irgendwie, dass sie von irgendwas geplagt wird. Von irgendwelchen Gedanken, denn etwas Trauriges ist schon mitgeschwungen, seitdem wir uns einander vorgestellt haben. Ich bemerke, dass ich ihr immer noch nicht geantwortet habe. Was soll ich nur sagen? Ich kann ihr doch kaum ein Kompliment für ihre Augen geben, denn das würde nach mehr als nur 'Ich habe mich in dich verliebt' schreien. Und ein bisschen seltsam wäre es auch. Aber May ist nun mal schön und ihr Blick, insbesondere ihr Blick zu mir ist warm und herzlich und ich merke, dass ich fast lächeln muss, als ich darüber nachdenke.
"Deine Augen sind schön...", sage ich und bereue es direkt in diesem Moment. Ich habe zwar meine innere Wahrheit ausgesprochen, aber nicht das, was sozial angemessen wäre. Doch May bedankt sich nur immer noch warm lächelnd und ich sehe sie verstohlen an.
-"Ich finde deine Augen auch schön...", sagt sie dann. Sie lächelt aber nicht und sieht mich besorgt und traurig an. Und es wirkt, als könnte sie nicht damit umgehen, wenn jemand freundlich zu ihr ist und wenn ihr jemand näher kommt. Und das ist ziemlich traurig; aber einen Grund hat es sicherlich schon. Ich weiche um einen halben Meter von ihr weg, will sie nicht weiter bedrängen oder traurig machen. Denn ihr trauriger Blick und das Glitzern in ihren Augen bei diesem machen zu viel mit mir, um es aushalten zu können. Danach schweigen wir nur noch und ich nehme wahr, dass May immer wieder traurig seufzt und es scheint sie etwas zu beschäftigen. Etwas, was zwar nicht zwangsläufig mit mir zu tun haben muss, aber ausgeschlossen, dass ihr plötzlicher Emotionswechsel mit meiner Aussage zu ihren Augen zu tun hat, ist es nicht. Auch, wenn ich nicht weiß, wie ich das deuten soll, denn schließlich macht es kaum einen Menschen traurig, ein Kompliment zu bekommen. Egal, ob dieses total unpassend und kitschig wirkt. Nachdenklich starre ich auf den See und knacke mit meinen Fingergelenken. Und obwohl es mehrere Leute gibt, die mir regelmäßig sagen, dass diese Angewohnheit stört, scheint dies bei May nicht der Fall zu sein. Oder sie ist einfach zu tief in irgendwelchen Gedanken. Ich wage einen kurzen Blick zu ihr, aber sie sieht mich nicht an, sondern wieder nach unten auf das Wasser und ich habe das seltsame Gefühl, dass diese gesamte Situation sie an etwas erinnert. Aber vielleicht sind das auch nur meine Interpretationen ihrer traurigen und gedankenverlorenen Blicke. Und dann sehe ich wieder auf den See und konzentriere mich nur auf die leichten Wellen des mittlerweile dunklen Wassers.
-„Wie spät ist es?" holt May mich aus meinen Gedanken, als ich fast schon vergessen hatte, dass sie neben mir sitzt. Kurz sehe ich auf mein Handy, als ich für einen Moment einfriere. Kurz vor einundzwanzig Uhr zeigen die Zeiger der analogen Uhr auf meinem Handy bereits.
- „Und?" kommt nur etwas leiser von May, als ich sie ansehe.
„Kurz vor neun...", sage ich nachdenklich, während ich aufstehe und wieder nervös mit meinen Fingergelenken knacke. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter nicht damit gerechnet hat, dass ich für länger als eine Stunde wegbleiben würde.
„Ich werde dann mal gehen...", murmele ich immer noch so, als wäre ich im Halbschlaf. Ich muss mir ehrlich gestehen, dass ich nur wenig Motivation aufbringen kann, mich jetzt einfach von May zu verabschieden. Auch, wenn es nicht unwahrscheinlich ist, dass ich sie in dieser Woche nochmal sehe. Ich sehe ganz kurz zu May und drehe mich dann schon um, um mit einem getrübten Blick zu gehen, als ich hinter mir etwas höre.
-„Ich komme mit dir", sagt May mit etwas lauterer Stimme und ich bleibe mitten auf dem Steg stehen, um auf sie zu warten. Ich sehe zu ihr und beobachte sie dabei, wie sie schnell aufsteht und ebenso schnell auf mich zugeht, während sie weiterhin mit mir redet und sich erklärt:
-"Es ist schon etwas dunkel, außerdem" beginnt May und sieht mich an. Sie scheint meinen nervösen aber glücklichen Blick bemerkt zu haben, denn sie redet nicht weiter. Und das erste Mal seit mehreren Minuten bekomme ich einen ebenso aufgeregten, aber freundlichen und herzlichen Blick zurück. Und dieses Mal ist dieser auch ehrlich, obwohl May sich bestimmt auch nicht ganz sicher ist, was sie von der ganzen Sache denken soll. Vor allem wird mir das erste Mal bewusst, dass ihre Verwirrung an meinen permanenten Blicken vorhin gelegen haben könnte. Aber in dem Moment sieht sie mich auch so an. Mir fällt ein, dass May ihren Satz vorhin nicht beendet hat. Ich frage nach.
„Und?-" kommt nur kurz von mir, da May ihren Satz so abrupt beendet hat. Sie räuspert sich einmal und sieht mich dann an.
-„Meine Hütte ist auf demselben Weg, es ist die da ganz vorne..." sagt sie und zeigt auf das erste kleine Holzhaus fast direkt neben dem Steg. Ich nicke und sie lächelt mich wieder herzlich an.

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