Es ist ein seltsames Gefühl, welches ich habe, als ich Delia ansehe. Neben meinen hauptsächlichen körperlichen Erscheinungen wie dem leicht prickelnden Zittern in meinen Händen und dem beschleunigten Herzschlag spüre ich noch etwas anderes. Und zwar, dass die junge Frau, die genau links neben mir sitzt, nicht ganz die Wahrheit gesagt hat, als ich während ihres nachdenklichen Blickes in meine Richtung nachgehakt habe, ob alles gut sei. Aber was sollte sie schon großartig bewegen, werfe ich mir im nächsten Moment selbst in den Kopf. Sicherlich macht sie sich um ein paar Sachen Gedanken und ich bin auch kein Mensch, der sagen würde, dass Jugendliche nur dummes, peripheres Zeug in ihrem Gehirn produzieren. Aber dass es etwas Weltbewegendes ist, kann ich schnell ausschließen. Und nun beobachte ich sie aus dem Augenwinkel dabei, wie sie gedankenverloren, aber nicht unglücklich auf den See starrt. Auch ich wende meine Aufmerksamkeit vollkommen auf das Wasser, welches schon die ersten bunten Nuancen des nahenden Sonnenuntergangs zeigt. Eigentlich ist es die perfekte Atmosphäre zum Nachdenken und zum Philosophieren über den Sinn des Lebens. Aber ich nehme mir im selben Moment vor, einfach mal für einen Moment meinen Kopf und meine Gedanken ausschalten, obwohl ich weiß, wie oft ich mir das sage und wie selten, oder eher gar nicht, es passiert. Ich spüre, wie Delia mich wieder von der Seite aus ansieht und langsam drehe ich meinen Kopf zu der jungen Frau mit den hellen rotbraunen Haaren. Sie sieht mich nachdenklich an und gleichzeitig so, als würde sie mein Gesicht ganz genau mustern. Auch ich verliere mich für einen Moment in irgendwas und starre sie an. Und sofort fallen mir wieder ihre blaugrünen Augen auf, die mich in einem Moment nachdenklich und fragend, aber im nächsten direkt wieder freundlich und interessiert ansehen. Die paar Sekunden über, die wir diesen wortlosen Blickkontakt haben, wechselt sie stetig zwischen den zwei Emotionen hin und her, bis sie für eine Sekunde von mir wegsieht und mich dann anlächelt, als sie sich mir zuwendet. Sie scheint es zu lieben, mich anzulächeln, bemerke ich und bekomme dabei nicht nur gute Gefühle. Ein wenig sticht der Gedanke daran sogar in der Herzgegend und ich weiß nicht einmal, warum. Schließlich mag ich es, wenn ich Menschen glücklich mache und ich freue mich, wenn Delia glücklich ist. Aber neben dem Gefühl meinerseits, dass dieses Lächeln nicht komplett echt ist, habe ich auch Angst davor, mich auf irgendwas einzulassen, was mir nicht guttut. Und damit meine ich keinesfalls Delia persönlich, sondern eher das, was mich umtreibt. Vor allem das, was mit dem Verhalten gegenüber anderen Menschen und meinem Stress zu tun hat. Ich sehe der jungen Frau wieder in die Augen. Die blaugrünen Tiefen, die mich warm anleuchten, sind für mich viel zu interessant, um wegzusehen. Und ich bemerke Delias leichtes Lächeln und, dass ihr Blick langsam auch in meinen dunklen, eher uninteressanten Augen versinkt. Dabei leuchten ihre Augen immer mehr und immer blauer. Es muss etwas bedeuten. Es ist unmöglich, dass ich die Sache falsch deute. Ich glaube nicht, dass sie mit dem leuchten in ihren Augen etwas Romantisches ausdrücken will, aber ich weiß, dass es etwas zu bedeuteten hat. Es ist nämlich nicht nur bloßes angucken. Einfach dieses Leuchten in ihren Augen spricht davon, dass sie mich sieht und dass sie merkt, dass ich sie auch ansehe und auch ihre Art, wie sie mich ansieht, sagt alles. Nichts Romantisches, zumindest nicht zwingend.
Nervös sehe ich wieder von ihr ab, als ich realisiere, was ich gedacht habe. Doch sie sieht mich wieder von der Seite her an und ich entscheide mich nach einem tiefen Seufzen, das Gespräch weiterzuführen.
"Von wo kommst du eigentlich? Also ich meine... wohnst du hier in der Nähe des Sees, oder ganz woanders?", ich merke im Laufe des Satzes, wie ich immer und immer stockender werde, aber ich merke, dass Delia mich ansieht und wieder so lächelt, wie vor ein paar Augenblicken schon.
-"Ich wohne mit meiner Mutter etwa 40 Kilometer von hier entfernt... in so einer langweiligen Kleinstadt", erzählt Delia einfach nur und es klingt, als würde sie erwarten, dass ich total unbegeistert davon bin. Ironisch, sage ich deswegen. "Ach so, doch nicht aus Toronto oder Vancouver?" und die Person neben mir lacht einfach nur.
-"Nein, tatsächlich nicht... Ich glaube, das Großstadtleben wäre auch nichts für mich"
"Für mich auch nicht". Ich habe Erfahrungen mit großen Städten, denn schließlich hatte ich für ganz kurze Zeit in Vancouver, einer Millionenmetropole, gelebt. Aber wie ich es eigentlich schon von mir selber erwartet habe, bin ich schon nach wenigen Monaten nicht mehr damit klargekommen. Seitdem wohne ich in einem kleinen Dorf, welches nicht weit weg vom See ist.
Und Delia lächelt mich an. Sie sieht wieder so extrem durchdringend zu mir, dass es eine Wärme in meinem gesamten Körper und insbesondere in meinem Gesicht erzeugt. Und noch dazu geht mein Herzschlag wieder ein wenig schneller, als vorher. Delias blaugrüne Augen sind in dem Moment der einzige Fixpunkt meines Blickes und für eine Sekunde vergesse ich, was ich überhaupt sagen will und worüber wir überhaupt reden.
-„Ich... fühle mich einsam in Großstädten, verstehst du?", erklärt Delia nach ein paar bewussten Sekunden der Stille ein wenig zaghaft, aber auch fragend. Ich verstehe sie, nicke deswegen fast direkt, ohne überhaupt wirklich nachzudenken.
„Ja, ich kenne das... aber man fühlt sich manchmal nicht nur in riesigen Großstädten einsam", erzähle ich und für einen kurzen Moment muss ich erst realisieren, was ich gesagt habe. Mehr oder weniger habe ich ihr gegenüber gerade zugegeben, dass ich generell einsam bin, was natürlich nicht immer so ist, aber oft. Und auch, wenn es für mich nur für einen Moment in meinem Kopf gewesen ist, scheint Delia meinen Gedanken an das, was ich offenbart habe, durchschauen zu können.
-„Also bist du auch an kleinen Orten einsam?", fragt sie und ohne, dass wir uns überhaupt ansehen, zittere ich für ein paar Sekunden. Aber Delia will nicht sofort eine Antwort haben. Vielleicht hat sie gemerkt, dass ich auf ihre Frage sowieso nichts gewusst hätte. Deswegen wirft sie eher unbeholfen hinterher: „Sorry, ich hätte das nicht fragen sollen". Dann stottert sie noch: „Sorry, ich... das klingt so, als wenn... ich meine..." und klingt dabei immer unsicherer und so, als würde sie die eher tiefgründige Frage rückgängig machen wollen. Ich hingegen mache mich im selben Moment nicht besser. Mein Herz denkt schneller, als mein Kopf und handelt intuitiv. Irgendwie beruhigend lege ich meine linke Hand auf Delias rechte Hand, mit der sie sich auf dem Holz des Steges abstützt. Sofort reagiert sie. Sie zuckt nicht, aber sie sieht mich an. Ohne eine besondere Emotion.
„Ist okay...", flüstere ich und bringe mich selber überraschenderweise zu einem Lächeln, welches von Sekunde zu Sekunde echter wird. Meine Hand lasse ich dabei nicht von Delias ab, sondern spüre die Wärme ihrer weichen Haut. Delia sieht mich immer noch von der Seite aus an, lächelt aber auch, bevor ich langsam meine Hand von ihrer entferne. Aus dem Augenwinkel kann ich für den Bruchteil einer Sekunde erkennen, dass Delia wieder nach meiner Hand greifen will. So komisch das auch klingen mag, abwegig ist es nicht. Denn auch, wenn es meine größte Angst ist, ist es ziemlich offensichtlich, dass Delia sich in irgendeiner Art und Weise für mich interessiert. Und mehr oder weniger interessiere ich mich auch für sie, stelle ich fest und bin dabei nicht einmal allzu sehr auf das romantische aus. Aber ich mag sie und ihre tiefen grünblauen Augen, das stimmt.
-"Warum hast du das gemacht gerade eben?...", flüstert sie ihre Frage in die Abendluft und nachdem mein Herz für eine Sekunde stehengeblieben ist, schlägt es danach doppelt so schnell weiter. Für einen Moment weiß ich keine Antwort. In meinem Kopf ist dazu zwar eine ganz klare und eindeutige Aussage gefertigt, aber diese will ich Delia nicht einfach so auftischen. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich sie interessant finde und ästhetisch. Und vor allem kann ich ihr auch von dem Gefühl, dass ich mir ein bisschen Sorgen um sie mache, nicht sofort erzählen. Das geht alles nicht. Aber eine plausible Antwort müsste ich ihr schon liefern, setze ich mich selber unter Druck. Schließlich antwortete ich einfach: "Mir kam es nur so vor, als wärst du eben ein bisschen verunsichert gewesen... Vielleicht ist das aber nur ein Irrtum...". Delia sieht mich ungläubig an.
-"Nein, ist es nicht...", sagt sie einfach nur mit leiser Stimme und starrt mich dabei immer noch an. Ich versuche, zu lächeln, denn schließlich denke ich, dass ein Lächeln das ist, was einer verunsicherten Person immerhin für den ersten Moment ein bisschen Sicherheit gibt. Mein Blick fokussiert sich derweil wieder auf ihre tiefen grünblauen Augen, die immer noch ein wenig verwirrt scheinen, aber ebenso musternd, wie vorher schon. Sie sieht mich wieder direkt an, sieht mir wieder direkt in meine Augen. Zwar macht es etwas mit mir, das ist keine Frage, aber sowohl das warme Gefühl, als auch das fast schon unangenehme Herzrasen vom Vortag sind nicht mehr da. Einerseits ist das natürlich etwas Positives, da mir vor allem mein schneller Herzschlag am vorherigen Abend etwas Angst gemacht hat, andererseits kommt in mir nun die Frage auf, ob die Situation eben etwas an meinen Gedanken über Delia verändert hat. Ich merke, wie ich langsam von ihr absehe und meinem Blick dem glitzernden See gilt, auf dem gerade ziemlich viele Menschen mit kleinen Booten fahren. Und ganz kurz muss ich lächeln, bis ich eine sich langsam aufbauende Berührung an meiner Hand spüre. Schlagartig sehe ich dorthin. Vorsichtig hat Delia ihre Hand auf meiner platziert und ein warmes Gefühl breitet sich in meinem ganzen Arm aus, als ich spüre, wie ihr Daumen vorsichtig mein Handgelenk umschließt. Dann wandert mein Blick zu Delia, die mich entschuldigend ansieht und ich merke, wie der Druck um meine Hand nachlässt, aber als ich lächle, nimmt er wieder zu. Auch Delia lächelt für einen Moment und ich sehe, wie ihre Augen im Licht der Abendsonne leuchten. Es ist ganz klar, schon fast eindeutig, dass sie etwas spürt. Aber in dem Moment stelle ich auch bei mir fest, dass sie ganz klar etwas mit mir macht. Und vor allem, dass nicht nur ihre Blicke und vorsichtigen Berührungen an meiner Hand für mein Gefühl verantwortlich sind, sondern ihre ganze Art.
Einerseits kommt sie mir nämlich ziemlich unsicher vor, doch in dem Moment, in dem sie nach meiner Hand gegriffen hat, hat sie auch etwas von einer extremen Selbstsicherheit gehabt. Und das fasziniert mich.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...