𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟕 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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Ich habe mich so unwahrscheinlich schuldig gefühlt, als ich May gesagt habe, dass ich schon morgen wieder von hier verschwinden werde. Eigentlich ist es nichts Schlimmes, doch Mays Blick war eindeutig verletzt und als Reaktion hatte sie nur genickt.
Mittlerweile steht die Sonne etwas höher, es ist kurz nach acht Uhr morgens und meine Mutter ist seit knapp zehn Minuten wieder da. Nachdem sie mich etwa vier Minuten lang gefragt hat, ob ich den Haustürschlüssel auch nicht verloren und abgeschlossen habe und die ganze Nacht über hier drinnen gewesen bin, hat sie mir von der Freundin erzählt, die sie besucht hat. Ich weiß, dass sie sich von früher kennen und dass diese Freundin auch eine Tochter in meinem Alter hat, aber kennengelernt habe ich diese irgendwie noch nie. Ich bin aber auch nicht besonders scharf auf neue Bekanntschaften. Außer vielleicht in dem Moment, als May und ich vor wenigen Tagen das erste Mal miteinander geredet haben. In dem Moment sehe ich an mir hinab und bemerke, dass ich immer noch den bunten Pullover trage, den May mir gegeben hat und ein wenig wundere ich mich, dass es meiner Mutter nicht aufgefallen ist. Schließlich ist es noch nicht gerade selten passiert, dass ihr etwas, was ich trage, nicht passt und sie will, dass ich etwas schlichteres, mehr feminines trage. Bei dem ersten Punkt verstehe ich nicht, was sie meint, denn schließlich sind meine Oberteile größtenteils unauffällig einfarbig und meine Jeans blau oder schwarz. Ich kann zwar an meinem Aussehen erkennen, was meine Mutter meint, was femininer sein soll, denn auch wenn ich lange Haare habe, damit ein typisches Mädchen bin, scheue ich mich davor, unbequeme Dinge wie Kleider und Röcke zu tragen. Ich bin eher eine Person für oversized T-Shirts und eher weite Jeanshosen.
Im nächsten Moment bemerke ich, wie sich meine Mutter an den Frühstückstisch setzt. Ich sehe sie an. Ihr Blick mustert mich interessiert, aber zwischendurch muss sie immer wieder lächeln, sofern man die leichte Krümmung ihrer Lippen als ein Lächeln bezeichnen kann. Sie wirkt trotzdem misstrauisch.
-"Du hast heute Nacht auch abgeschlossen, ja?"
"Ja, natürlich... Du weißt, ich habe Angst im Dunkeln"
-"Aha..."
"Ich verspreche dir, ich war die ganze Nacht hier und es ist alles normal gewesen"
-"Du wirkst aber irgendwie anders...". Ein kühler Schock durchfährt mich für eine Sekunde. Was ist ihr aufgefallen? Meine Stimme? Meine Ausstrahlung? Etwas in meinen Augen? Oder ist es doch der Pullover?
-"Delia, du bist einfach verändert, zum Beispiel sind deine Pupillen unendlich geweitet... Was ist los?" Die Stimme meiner Mutter wird während des Sprechens lauter und kein bisschen besorgt, sondern eher genervt. Ich sehe von dem Frühstückstisch auf in die giftgrünen Augen meiner Mutter.
"Ich...", beginne ich nur, aber meine Mutter unterbricht mich direkt.
-"Ich sehe, dass du anders bist, als vor ein paar Tagen noch... Was ist mit dir los, Delia?". Ich zucke mit den Schultern, weiß, dass das nichts bringt. Und eigentlich macht es diese Geste nur noch schlimmer.
-"Du musst es doch selbst wissen, Mensch". Irgendetwas daran, wie meine Mutter wieder einmal mit mir redet, stellt mich so sehr unter Spannung, dass ich das Reden verlerne. Deswegen stehe ich wortlos auf und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Dabei spüre ich den bohrenden Blick meiner Mutter in meinem Rücken.
-"Jetzt renne nicht weg, sondern sage mir, was mit dir los ist, Delia!". Dass sie nun schreit, belastet mich noch mehr und schnell flüchte ich mich in mein Zimmer und drücke hinter mir die Türklinke zu. Seufzend setze ich mich auf mein Bett. Ist das der Preis dafür? Dafür, dass ich meine Mutter durchgehend anlüge, weil ich ihr nicht sagen kann, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, die fast doppelt so alt ist, wie ich und mit der heute schon zwei Küsse stattgefunden haben? Ich meine, ich wäre doch sicherlich einen Kopf kürzer, wenn ich meiner Mutter erzähle, dass ich etwas mit einer Frau angefangen habe, die gerade einmal zehn Jahre jünger sein dürfte, als sie selbst. Schon bei Grace war sie skeptisch, weil diese zwei Jahre älter war, als ich - ich sechzehn und sie achtzehn. Ich muss mich zusammenreißen, nicht in ein unwohles Gefühl der Panik zu versinken, weswegen ich mich dazu entscheide, mich einfach auf mein Bett zu legen, die weiche Bettdecke bis zu meinem Kinn zu ziehen und zu atmen. Immerhin bringt mich das bewusste Atmen auf andere Gedanken.
Dass ich eingeschlafen bin, merke ich im ersten Moment gar nicht, aber als ich mich in meinem Zimmer umsehe und das komische Gefühl in mir aufkommt, dass Zeit vergangen ist, ohne dass ich es gemerkt habe, realisiere ich es auch. Kurz zucke ich deswegen zusammen und muss auch daran denken, dass May und ich uns am Abend noch treffen wollen und ich dieses Treffen keinesfalls verpassen kann. Ich drehe mich um und sehe an die hölzerne Wand. Mit der Bettdecke ist mir ziemlich warm geworden, vor allem mit dem Pullover von May, den meine Mutter glücklicherweise immer noch nicht bemerkt hat. Aber dieses Kleidungsstück will ich jetzt nicht ausziehen und es nicht gegen ein luftigeres T-Shirt wechseln. Denn es ist nicht nur so, dass ich Angst habe, dass meine Mutter es dann in meinem Zimmer entdecken und dann hinterfragen könnte, sondern auch so, dass ich es May eigentlich noch zurückgeben muss. Ein wenig wundert es mich trotz unserer seit heute Nacht so engen Bindung, dass sie nichts gesagt hat, als ich mit ihrem Pullover an heute Morgen einfach gegangen bin. Schließlich setze ich mich auf und nehme mein Handy. Es wundert mich, dass meine Mutter dieses noch nicht weggenommen hat, denn laut ihr kommen alle meine 'seltsamen Verhaltensweisen' von dem kleinen Gerät. Dabei liegt meine Bildschirmzeit seit Wochen unter zwei Stunden pro Tag und ich treibe mich im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen, die ich kenne, nicht auf Instagram und Snapchat, sondern auf Internetseiten von Wissenschaftsmagazinen herum.
Es ist kurz nach 13 Uhr, als ich auf mein Handy sehe. Für den Abend sagt die Wettervorhersage einen wolkenlosen Himmel voraus, für später eine sternklare Nacht. Morgen Früh soll es allerdings zu 80 % Wahrscheinlichkeit wieder regnen, wahrscheinlich sogar gewittern. Dem mittlerweile eher ockerfarbenen Gras vor der Tür unserer Hütte würde das guttun, stelle ich fest und lege mein Handy dann wieder zur Seite. Eine Fehlentscheidung, denn wenn ich nichts habe, um mich abzulenken, muss ich unwillkürlich an May denken und mich fragen, was sie gerade tut und was sie denkt und fühlt. Und darauf folgen die Gedanken an die Worte meiner Mutter und daran, wie böse sie heute Morgen auf mich war, nur weil sie den Eindruck hatte, ich sei verändert.

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