𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟓 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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(Schon mal eine Vorwarnung - Das ist das letzte wirkliche Kapitel... Ich hoffe, das Ende kommt nicht zu abrupt 😅)

In der lautlosen Stille des Morgens stehe ich mit dem bunten Pullover, den May mir am gestrigen Morgen gegeben hat, in der Hand am Fuße des Stegs. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich, als könnte ich das hölzerne Gebilde nicht betreten können. Wahrscheinlich erinnert es mich zu sehr an die ersten Abende, die ich hier verbracht habe - die ersten Abende mit May. Als hätte diese wunderschöne Frau meine Gedanken gehört, höre ich plötzlich Schritte hinter mir und weiß sofort, dass es sich dabei um May handelt. Langsam drehe ich mich um und sehe die große braunhaarige Frau im Licht des Sonnenaufgangs.
"Hey...", flüstert sie und betrachtet mich ganz genau. Sie ist knapp drei Meter von mir entfernt, aber ihr einfacher Anblick treibt mir die Tränen in die Augen. Langsam wandert ihr Blick von meinem Gesicht weg und an meinem Körper hinunter. Ich folge diesem und sehe auf meine vor Kälte komischerweise zitternden Hände, in welchen ich immer noch den bunten Pullover von May halte.
"Den wollte ich dir zurückgeben... Ich klaue schließlich nicht die Kleidung von anderen Menschen...", erkläre ich mich und merke, wie mein Blick in dem Moment, in dem ich May den Pullover in ihre Hände legen will, deutlich verschwimmt. Ich kann es nicht mehr lange aushalten, bis meine Tränen ungehindert aus meinen Augen fließen.
-"Bitte behalte den... Wenigstens ist dann irgendetwas von mir bei dir...". Mays Stimme klingt zitternd und belegt, weswegen ich vermute, dass sie ebenfalls den Tränen nahe ist. Bei uns beiden ist dies nämlich mehr als nur verständlich.
"Ich-, Nein... Also... Ja... Danke...", stottere ich, weil ich leicht beschämt merke, dass ich keinen vernünftigen Satz herausbringen kann, doch May lächelt einfach nur, während sich ihr wunderschönen braunen Augen mit glitzernden Tränen füllen.
-"Wenn du mich irgendwann mal zu sehr vermisst... Dann kannst den Pullover einfach ganz dicht an dich drücken...", flüstert May einfach und ich weiß nicht, ob diese Worte mein Herz so sehr erwärmen, als würde es eine Umarmung der großen braunhaarigen Frau ersetzen, oder ob die Vorstellung in meinem Kopf es in Hunderte Einzelteile zerspringen lässt. Schließlich habe ich ein genaues Bild vor Augen - ich, alleine in meinem Bett zu Hause, breche in mich zusammen und das einzige, was ich in dem Moment von May, meiner einzigen Quelle der Ruhe habe, ist ihr verdammter Pullover. Es ist mehr als nichts, das auf jeden Fall, aber die Vorstellung tut mir sehr weh und bringt mich nur noch mehr zum Zittern. Langsam beginnen die kalten, salzigen Tränen aus meinen Augen zu tropfen und nachdem ich für eine Schrecksekunde vergessen habe, wie man atmet, scheint May meine Emotionen nicht nur oberflächlich mit ihrem Verstand zu realisieren, sondern auch mit ihrem Herzen. Vorsichtig legt sie ihre linke Hand auf meine rechte Schulter und sofort lässt die Kälte in meinem Körper nach. Fast wirkt es, als würde ihre eigentlich so kleine Berührung an meiner Schulter meinen ganzen Körper mit Liebe und Wärme ausfüllen. Wie soll ich es nur ohne sie aushalten?
-"Ist dir kalt?", flüstert May besorgt und sie mich an, während sie meine Hände in ihre nimmt, deswegen wahrscheinlich merkt, wie meine unfassbar stark zittern. Dabei ist es nicht kalt, jedenfalls nicht so kalt, dass meine Hände zittern würden. Eher unwahrscheinlich, dass es daran liegt. Vielleicht ist der Grund meine Angst vor dem Abschied und Mays Sorge, die ich in ihren Augen sehe. Schließlich nicke ich, denn sie hat es richtig erkannt. Mir ist kalt. Wahrscheinlich nicht einmal unbedingt körperlich. Schließlich haben wir Ende Juli und es dürfte mindestens schon 16 Grad warm sein. Mein ganzes Inneres ist in den letzten Tagen aber so sehr durcheinander gekommen, dass es sich vor allem nach den Worten meiner Mutter gestern selbst in eine Eiszeit versetzt hat. Ich spüre, wie die Tränen weiterhin aus meinen Augen fließen, kann dabei nur erahnen, wie May mich ansieht - ebenfalls emotional, mit feuchten Augen, aber einem stets besorgten Blick. Auf ihre Frage nicke ich und schon eine Millisekunde nach dieser Handlung bekomme ich eine sanft geflüsterte Rückfrage.
-"Wir wissen ja beide sehr gut, was dagegen hilft...". Ich meine, dabei erkennen zu können, wie May kurz lächelt und dabei ihre Augen schließt, vielleicht ist es aber auch nur eine Art Einbildung gewesen. Trotzdem gehe ich langsam ein paar Schritte auf May zu, bis zwischen uns allerhöchstens ein Blatt Papier passen dürfte. Mein gesamter Oberkörper berührt ihren, der in dem Moment so unwahrscheinlich warm und weich wirkt, dass er mein Herz schon fast dazu einladen will, meine Arme um May zu schlingen und mich an sie zu kuscheln. Dieser Wunsch wird immer größer, breitet sich warm und wundervoll von meinem Herzen ausgehend in meinem Brustkorb aus. Und schließlich lege ich einfach meine Arme um Mays Körper. Sofort erwidert sie die Umarmung, legt ihre rechte Hand auf meinen unteren Rücken, ihre linke Hand wieder beschützend auf meinen Kopf. Ich weiß nicht, welche meiner tausend Emotionen es ist, die mich gerade überkommt, aber plötzlich kann ich mich nicht mehr zurückhalten und schluchze, wie schon lange nicht mehr. Ich glaube, dass ich sogar nach meinem Albtraum vorletzte Nacht so sehr geweint habe. Meine Schluchzer, welche wahrscheinlich ziemlich laut und noch herzzerreißender klingen würden, würde ich mein Gesicht nicht in Mays warmer fliederfarbenen Fleecejacke vergraben, schütteln meinen ganzen Körper und rauben mir meine Energie, das weiß ich.
-"Shhhh....", flüstert May immer wieder und streicht dabei beruhigend mit ihrer rechten Hand über meinen Rücken. Ich befürchte schon fast, dass ich, wenn ich mich in ein paar Minuten, einer gewünschten Ewigkeit, von ihr löse, ihr ganzes Oberteil nass von meinen Tränen sein wird. Ich bemühe mich, tief durchzuatmen, aber es will mir nicht wirklich gelingen.
Die letzten Sekunden danach ist es unwahrscheinlich still gewesen, denn außer unsere leisen Atemgeräusche habe ich nichts gehört und sowohl May als auch ich haben nicht geredet. Mein Schluchzen hat sich langsam wieder beruhigt, denn mehr als eine Minute hätte ich es auch nicht ausgehalten.
-"Heyyy... Es ist alles gut...", meint May selbst mit zitternder Stimme und langsam löse ich mich von ihr. Ich versuche, zu nicken, auch wenn ich ganz genau weiß, dass unsere Trennung voneinander schon in wenigen Minuten bevorsteht.
Es ist still zwischen uns und wir sehen einander tief in die Augen. Im Licht der Morgensonne wirken ihre braunen Augen ebenso wie in der Abendsonne golden, dieses Mal aber mit einem kleinen bläulichen Touch. Ich halte Mays warmen Hände immer noch in meinen und nachdem wir uns bestimmt eine Minute lang einfach nur angestarrt, in den Augen der anderen versunken sind, beginnt May nach einem Räuspern und einem tiefen Atmen wieder zu reden.
-"Ich... Wollte dich noch fragen... Weil, damit wir in Kontakt bleiben können... Also...", stottert sie und bricht am Ende ab und sieht auf den sandigen Boden unter uns. Ich lege meinen Kopf schief. Mittlerweile passiert diese Handlung schon fast von alleine.
"Meine Telefonnummer gebe ich dir sehr gerne", sage ich ihr schließlich, um sie aus dieser stockenden Aussage zu holen, die sie trotz dessen, dass wir am vorherigen Morgen schon kurz über das Thema geredet haben, hat. Ich sehe, dass May mich dankbar anlächelt, bevor sie irgendeinen Stift aus der Tasche ihrer Fleecejacke zieht. Aus irgendeinem Grund entfährt mir ein Kichern.
-"Ja sorry... Ich habe mein Handy gerade nicht dabei...", lacht May entschuldigend, bevor sie mir den Stift gibt und mir dann ihre rechte Hand hinhält.
-"Du kannst einfach darauf schreiben... Das ist okay", meint sie und ich muss lächeln, bevor ich meine Telefonnummer, mit aller Vorsicht, die ich in diesem Moment aufbringen kann, auf ihre Hand schreibe. Als ich fertig bin, lächeln wir uns an und ich gebe ihr den Stift zurück.
"Okay... Ich melde mich dann einfach... Morgen... Zu deinem Geburtstag...", erkläre ich und sehe dabei in Mays tief braune Augen, die im leichten Sonnenlicht bläulich und golden leuchtende Akzente haben. May nickt schließlich, bevor wir einen Schritt aufeinander zu gehen und uns mehr oder weniger gegenseitig in die Arme fallen. Dieses Mal ist es aber nicht so, wie vor etwa zehn Minuten noch, als ich mich weinend an ihr festgehalten habe. Vielmehr fühlt es sich an wie eine Umarmung, die für einen Abschied steht, gleichzeitig aber signalisiert, dass man sich eines Tages wiedersehen wird.
-"Wir sehen uns wieder... Ganz bestimmt...", flüstert May und streicht dabei vorsichtig mit ihrer Hand über meinen Rücken, während ich meinen Kopf an ihre Schulter lehne. Wortlos nicke ich einfach nur stumpf.
Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie fühlt sich diese gesamte Situation für mich ziemlich unwirklich an, aber nicht zwingend schlecht. Denn auch, wenn mir klar ist, dass May und ich für eine gewisse Zeit voneinander getrennt sind, weiß ich, dass es einen Tag geben wird, an dem ich sie ebenso fest umarmen und ihre Wärme und Liebe fühlen kann, wie jetzt.

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