𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟑 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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"Wirklich 'Ganz Okay' oder 'Ich möchte nicht darüber reden Okay'?". Um ehrlich zu sein, macht es mir ein bisschen Angst, dass May so plötzlich von ihrem Thema ablenkt und mich nach meinem Gefühlszustand fragt. Schließlich bin ich ein bisschen überfordert damit. Vor allem, weil ich befürchte und gleichzeitig in einer tiefen Ecke meines Herzens auch hoffe, dass sie irgendwie gemerkt hat, dass ich nicht ganz die Wahrheit gesagt habe. Ich weiß selber, dass ich, wenn Menschen sich danach erkundigen, wie es mir geht, schnell mal jeden mit einem "Mir geht es gut" abfertige. Denn auch, wenn es schon mehrere Jahre her ist, habe ich immer noch die Worte meiner Mutter in meinem Kopf, die sie zu mir sagte, als ich vierzehn war.
"Du redest nicht über deinen Vater, nicht mit deinen Freunden, nicht mit deinen Lehrern, nicht mit sonst wem... Wenn jemand dich fragt, ob alles okay ist, sagst du immer Ja und wechselst danach das Thema... Wenn du zur Schule gehst, lässt du deine emotionale Welt zu Hause und funktionierst...".
Das hat sie mir gesagt, kurz nachdem mein Vater uns verlassen hat. Und davon, wie häufig ich in der Schule, vor allem alleine und in den Pausen in irgendwelchen versteckten Ecken zusammengebrochen bin, weiß meine Mutter immer noch nichts. Und ich bin immer noch froh darüber, dass auch nie einer meiner Lehrkräfte auf die Idee gekommen ist, zu Hause anzurufen oder meine Mutter für ein Gespräch einzubestellen. Plötzlich frage ich mich etwas. Wäre May eine Person, die das denn tun würde? Sich so sehr um ihre Schülerinnen und Schüler sorgen, dass sie bei den Eltern anrufen würde, wenn es einem von den Jugendlichen schlecht geht? Eigentlich schätze ich sie so ein, denke ich leise und sehe zu der braunhaarigen Frau neben mir, die mich von der Seite ansieht. Sie erwartet immer noch eine Antwort von mir. Und ich weiß nicht, was mit dazu bewegt, aber irgendwas an der gesamten Situation gibt meinem Verstand das Recht, die Regeln meiner Mutter zu missachten und May komplett ehrlich zu antworten.
"Um ehrlich zu sein... Eher das 'Ich möchte nicht darüber reden Okay'...", sage ich und sehe auf den blauen See. Ich bin mir nämlich irgendwie sicher, dass ich, auch wenn ich nun die Wahrheit gesagt habe, May nicht weiter in die Augen schauen zu können. Aber ob es die Angst davor ist, emotional zu werden, oder davor, dass sie mich weiter ausfragt, weiß ich auch nicht.
Nach einigen Sekunden der Stille merke ich, dass Mays Blick wieder auf mir liegt. Ich sehe von dem blauen Wasser des Sees ab und hebe meinen Blick, um in die Richtung von May zu sehen.
-"Dann musst du das auch nicht... Aber sollte es so kommen, dass du es vielleicht doch möchtest, dann kannst du gerne mit mir darüber reden... Also, falls du willst". Alles, was May in diesem Satz aussagt, klingt sehr ernst gemeint und gleichzeitig unsicher. Ich bin im ersten Moment ein bisschen überfordert damit, dass jemand mir eben angeboten hat, über meine Probleme zu sprechen. Schließlich ist mir das noch nie wirklich passiert. Ernste Gespräche habe ich zwar schon öfter geführt, beispielsweise mit meiner Mutter oder früher auch mit Freunden und gezwungenermaßen manchmal auch mit Lehrkräften oder anderen Menschen, die es als wichtig erachten, mit mir über ernste Themen zu reden. Doch mir angeboten, mich jemandem direkt anzuvertrauen, hat noch niemand jemals. In meinem ganzen Leben.
"Danke...", flüsterte ich in die immer noch warme Abendluft und sehe wieder auf den blauen See, auf dem mittlerweile weniger Menschen mit Segelbooten und Kanus unterwegs sind, als vor etwa zehn Minuten noch. Die Sonne, die sich langsam auf den Horizont zubewegt, welcher von großen Kieferbäumen versteckt wird, spiegelt sich in allen warmen Nuancen im glänzenden Seewasser. Eigentlich ist diese Situation perfekt. Immerhin ist die Landschaft schön, die Atmosphäre warm und irgendwie herzlich, das Wetter warm, mit einer frischen Brise von abendlicher Sommerluft. Und dann ist da auch noch May. Seit bestimmt einer Minute habe ich schon nicht mehr zu ihr geguckt und ich sehe sie schon die ganze Zeit über nur aus dem Augenwinkel. Obwohl auch von diesem Blickwinkel aus ihre braunen Haare, ihr gebräuntes Gesicht, die interessanten dunkelbraunen Augen und vor allem ihr leuchtend gelber Pullover unverkennbar sind. Für mich zumindest.
-"Wie spät ist es eigentlich?", fragt May nach einiger Zeit. Ihre Stimme klingt ruhig und viel entspannter, als ich es nach den Themen, über die wir vorher geredet haben, eigentlich erwartet habe. Schnell nehme ich mein Handy aus meiner Hosentasche und schaue auf meinen Lockscreen, dessen Hintergrundbild ein einfach skizzierter, aber bunter Regenbogen ist.
"Es ist 19:29 Uhr...", lese ich von meinem Handy ab, auf welches May auch kurz sieht, bevor ich es wieder wegstecke und meinen Blick über den See schweifen lasse. Ich sehe, wie May einmal kurz nickt, bevor sie tief durchatmet. Ich sehe langsam zu ihr. Sie sitzt einfach nur mit geschlossenen Augen da und scheint die klare, aber immer noch warme Luft einzuatmen. Und dabei wirkt sie so viel entspannter, als man nach dem, was sie mir bis jetzt von sich erzählt hat, vermuten würde. Immerhin würde ich mir einen Menschen, der anfällig für ein Burnout ist und schon fast eines hatte, ganz anders vorstellen. Viel gestresster und gleichzeitig teilnahmsloser, als May es ist. Aber in die hineinschauen kann ich auch nicht, mache ich mir im nächsten Moment bewusst und muss tief durchatmen. Ich weiß nicht, was in ihren Gedanken vorgeht, in ihrem Herzen. Ich weiß gar nichts. Denn vielleicht ist sie ja gestresst und ihr geht es vielleicht wirklich viel schlechter, als man denkt. Möglicherweise ist sie unruhig, ängstlich, hyperemotional und einsam, lässt es sich aber nicht anmerken und versteckt es. Hinter einem Lächeln und ihrer warmen und einladenden Aura.
"Bist du eigentlich alleine hier?", rutscht es mir nach ein paar Sekunden der Stille einfach hinaus, weil ich an meinen letzten Punkt denken muss. Ob sie einsam ist oder Ähnliches in die Richtung sie plagt. Ich sehe zu May, auch wenn ich weiß, dass die Frage irgendwie unpassend gewesen ist.
-"Ja...", antwortet sie kurz und als nach ein paar Sekunden nichts mehr hinterherkommt, sage ich einfach nur: "Und... Du fühlst dich nicht einsam?". Meine Intention ist es nicht gewesen, diese Ungläubigkeit in meine Stimme zu legen. Schließlich ist es immer noch möglich, dass diese May verunsichern könnte.
-"Nein... Meistens nicht... Manchmal, wenn es nachts ist und ich alleine in meinem Bett liege, dann schon, aber das ist schon okay", meint May einfach und obwohl ihre Worte so unwahrscheinlich traurig klingen, bleibt ihre Stimme dabei ruhig und fest. Ich will gerade etwas erwidern und sie auf ihre Worte ansprechen, als sie dazwischenkommt: "Und du, Delia?", lenkt sie bezogen darauf, ob ich alleine hier bin vom Thema ab. Erst will ich sie wieder darauf ansprechen, dass sie ihren Satz abrupt beendet und mir dann eine Gegenfrage gestellt hat, aber wieder lasse ich es einfach, weil ich nicht weiß, wie ihre Reaktion darauf sein könnte. Stattdessen versuche ich zu antworten. "Ich bin mit meiner Mutter hier... Wir machen das schon seit Jahren...", erzähle ich und muss selber wieder an die Zeit zurückdenken, in der wir jeden Sommer mit meinem Vater hierhergefahren sind und Freunde meiner Eltern mit deren Kindern in den anderen Hütten wohnten. Auch in dem kleinen Haus, in welchem May nun wohnt, hat früher immer eine Familie gelebt, mit der meine Eltern ebenfalls befreundet war. Plötzlich erinnere ich mich wie in einem Schnelldurchlauf an alle prägenden Ereignisse, die hier am See die vielen Sommer über passiert sind. Früher, als ich ganz klein war, sind es Dinge wie meine ersten Schwimmversuche im See gewesen. Später, mit zwölf oder dreizehn waren es Lagerfeuer und in der Nacht Wahrheit-Oder-Pflicht spielen am Strand mit ein paar der anderen Jugendlichen und auch das erste Mal, dass ich mehr oder weniger in jemanden verliebt war. Aber das Mädchen war nur für zwei Tage lang da und danach habe ich sie nie wieder gesehen. Und ich denke entschieden selten daran zurück. Schließlich war ich zwölf und sowas hat sowieso nichts zu bedeuten. Immerhin sind das die Worte meiner Mutter gewesen, als ich mich kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag getraut habe, ihr davon zu erzählen, dass ich mich in dieses Mädchen, Alina, mehr oder weniger mal verliebt habe. Früher fand ich es schlimm, dass meine Mutter etwas wie das gesagt hat, aber mittlerweile muss ich ihr irgendwie recht geben. Der zwei Tage lange 'crush', den ich auf Alina hatte, als ich zwölf war, ist nichts im Gegensatz zu meiner Liebe zu meiner Ex-Freundin Grace gewesen. Und auch mit den Gefühlen gegenüber May kann das zwölfjährige Ich, welches sich einfach nur ein bisschen in ein anderes zwölfjähriges Mädchen verliebt hat, nicht mithalten.
Der letzte Gedanke spannt den Bogen zurück in die Realität, in der ich schon seit Sekunden auf das Holz des Stegs starre. Ich gestehe mir ein, dass ich mehr oder weniger nur darauf warte, von May aus meiner gedankenverlorenen, in Erinnerungen versunkenen Starre zu holen.
-"Schön... Ich war früher mit meiner Familie auch immer hier...", erzählt May, atmet dann aber tief durch und macht auf mich keinen besonders glücklichen Eindruck.

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