(↱Delia)
Für einen kurzen Moment habe ich es nicht einmal hinterfragt, als ich meine Hand vorsichtig auf die von May gelegt habe. Es ist ein warmes Gefühl, welches sich in mir ausbreitet, als ich mit meinem Daumen über ihr Handgelenk streiche und seltsamerweise steht für mich in dieser kleinen Bewegung etwas Beruhigendes. Genau erklären, warum das so ist, kann ich aber auch nicht.
Plötzlich bin ich aber zurück in der Realität, denn Mays Blick gilt wieder mir. Dieser starrende, tiefe, aber warme und vertrauensvolle Blick aus den dunkelbraunen Augen, die im Licht der untergehenden Sonne wie goldener Honig wirken. Ich sehe sie auch an und realisiere erst in dem Moment, dass meine Hand immer noch auf ihrer liegt, ich immer noch diese kleine und sanfte Bewegung meines Daumens an ihrem Handgelenk fortführe. Kurz will ich damit aufhören und versuche so viel Entschuldigung wie nur möglich in meinen Blick zu legen, aber May lächelt. Und ihr Lächeln ist echt und herzlich und irgendwie auch ansteckend, denn während ich merke, dass sich mein Gesicht wieder erhitzt und mein Blick nur den Augen meines Gegenübers gilt, muss ich auch lächeln. May sieht glücklich aus, denke ich im Stillen und mustere ihr Gesicht ganz genau. Ihre dunkelbraunen Haare, die sie zu einem lockeren Knoten gebunden hat, fallen ihr in feinen Strähnen in das gebräunte Gesicht. Ihre Augen sind auf mich fixiert und erscheinen mir im Licht der tief stehenden Sonne wie glänzendes Gold. Ich beobachte jeden Zentimeter ganz genau. Jede Nuance und komme mir dabei nicht einmal komisch vor. Die leichten Sommersprossen, die auf ihrer Nase gesprenkelt sind und dunkles Mal unter ihrem rechten Auge erlangen auch für einen kurzen Moment meiner Aufmerksamkeit, bis mein Blick weiter zu ihren vollen, rosafarbenen Lippen wandert. Dann sehe ich wieder in Mays Augen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, ohne dass eine von uns etwas gesagt hat, aber ein paar Sekunden der Stille sind bestimmt zusammengekommen. Zurück in der Realität bin ich erst, als May tief seufzt. Auch wenn sie immer noch leicht lächelt, klingt sie nicht besonders glücklich. Aber wäre es zu viel, nachzufragen?
-"Nein, alles gut", kommt von May, ohne dass ich überhaupt irgendwas gesagt habe. Für einen Moment bin ich verwundert und verwirrt, aber erkläre mir ihre Aussage mit dem besorgten Blick, den ich wahrscheinlich gemacht haben muss. Oder vielleicht hat es auch einfach schon gereicht, dass ich aufgehört habe zu lächeln, als mir ihr leicht verzweifeltes Seufzen aufgefallen ist. "Okay", antworte ich einfach nur und sehe wieder weg. Auf dem See ist ziemlich viel los, was nicht gerade untypisch für einen sonnigen späten Nachmittag Anfang Juli ist. Ich beobachte die Menschen, die in verschiedenen Booten auf dem glitzernden Wasser paddeln und ich sehe zum Horizont, einem Wald, der aufgrund der Lichteinfälle fast perfekt mit dem hellblauen Himmel verschmilzt. Erst ein paar Sekunden später bemerke ich, dass meine Hand immer noch auf der von May ruht, ich zwar mit dem sanften streichen über ihr Handgelenk aufgehört habe, die Wärme aber immer noch ganz klar präsent ist. "»Okay« ist auch echt dein Lieblingswort, oder?", scherzt May plötzlich und ich muss ebenfalls lachen, wodurch ich meine Hand von ihrer löse. Ich weiß nicht, was an ihrer Aussage mich so sehr zum Lachen gebracht hat, aber wahrscheinlich ist das so, weil diese so aus dem Nichts kam. "Und dein Lieblingswort ist "alles gut" oder was?", lache ich und sehe May an, die ebenfalls lachen muss, sich aber schnell wieder fängt. -"Das ist kein Wort, Delia...", sagt sie gespielt ernst, als wäre ich ein kleines Kind, welches gerade sprechen lernt. Schnell lächelt May, die immer noch dicht neben mir sitzt auch, sagt dann aber doch etwas ernster: "Ich muss das wissen, ich habe den Kram studiert". Ich sehe sie an. Ich komme mir zwar wahnsinnig dumm vor, aber trotzdem frage ich nach. "Wie meinst du?". May atmet tief durch.
-"Englisch, Literatur und Geographie... Das waren meine Studienfächer...", erklärt sie mit ruhiger Stimme, sieht mich aber nicht an. "Das klingt doch interessant", meine ich ehrlich und May muss für eine Sekunde lächeln, doch sie wird schnell wieder sehr ernst.
-"Ja, ist es... Nur nicht, wenn man sich dann selber überarbeitet und irgendwann nicht mehr kann", meint sie stumpf und kühl und sieht mich dabei nicht an. Für mich sind das viele Informationen auf einmal. Schon fast zu viele, aber einfach weggehen kann ich jetzt nicht. Das wäre einfach nur verdammt unhöflich. Ich versuche irgendwas zu sagen, aber in dem Moment fühlt es sich für mich so an, als wären meine Stimmbänder gelähmt. "Das tut mir sehr leid", rutscht es mir nach ein paar Sekunden einfach nur heraus und ich erlange wieder einen Blick von May. Sie sieht ein wenig traurig aus und ihre Augen glänzen nicht mehr so stark, wie vorhin noch. Dennoch scheint es für mich so, als würde sie sich krampfhaft zu einem Lächeln zwingen. Kurz darauf passiert auch genau das. May lächelt gezwungen und sagt einfach nur ruhig: "Ist schon okay, Delia", während sie mir wieder in die Augen sieht. Mir wird zwar wieder warm und wieder ist dieses Gefühl in meinem Brustkorb, welches den Eindruck bei mir auslöst, als würde ich schweben. Aber etwas ist anders, als in all den anderen Momenten, in denen ich May schon in die Augen gesehen habe. Etwas ist tiefsinniger und vor allem trauriger. Eigentlich muss das die Stimmung zerstören, aber das tut es nicht. Auch, wenn ich mich frage, was mit May los ist. Aber wenn sie sich, so wie sie es nennt, selber überarbeitet hat, dann will sie wahrscheinlich auch kaum darüber reden. Zumindest würde ich es nicht wollen, denke ich, obwohl ich mich nicht in die Lage hineinversetzen kann, da ich nie studiert, geschweige denn irgendeinen Beruf ausgeübt habe. Vor allem habe ich keine Ahnung, was für eine Art von Beruf sie ausgeübt hat, denn das würde mich schon interessieren.
Nachdem ich meinen Blick für ein paar Sekunden von May abgewendet habe, sehe ich sie wieder an und frage: "Und... Was hast du so gemacht?... Ich meine... Mit Englisch, Literatur und Geographie?". May sieht mich für einen Moment einfach wortlos an. Ihren Blick kann ich nicht definieren. Er ist traurig, aber gleichzeitig erkenne ich auch ein Lächeln dahinter. Aber kein fröhliches Lächeln. Eher eines, welches mir signalisieren soll, dass ich mir keine Sorgen wegen der Dinge machen soll, die sie mir vorhin mehr oder weniger anvertraut hat. Als ich nicht aufhöre, sie anzusehen, seufzt sie tief und sie fängt an, zu reden. -"Ich bin oder eher war Lehrerin... Geographie und Englisch...", beginnt sie ihren Satz ziemlich traurig, sieht mich dabei aber immer noch ununterbrochen an. In Mays dunkelbraunen Augen ist in dem Moment erschreckenderweise kaum noch etwas von der wunderschön leuchtenden Wärme von vor ein paar Minuten zu erkennen. Ein zweites Mal seufzt sie traurig, schließt ihren Satz dann aber wieder ziemlich trocken und sachlich: "Tja, aber Burnout ist unter Lehrkräften ja leider ein weit verbreitetes Phänomen... Und ich bin, warum auch immer, anscheinend ziemlich anfällig dafür". Wieder weiß ich nicht genau, was ich dazu sagen soll. Am liebsten würde ich wieder sagen, wie sehr es mir leidtut, dass einer tollen Person wie May alles zu viel geworden ist. Und noch lieber würde ich die Frau mit den braunen Haaren und den dunkelbraunen, fast schwarzen Augen einfach umarmen. Ich kann mir schlecht erklären, wie der letzte Gedanke zustande gekommen ist und ich würde mich am liebsten selber dafür ermahnen, aber es entspricht der Wahrheit. In dem Moment kann nichts mich davon abhalten, genau das zu denken.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...