Ich wusste schon eben ganz genau, dass es schwer wird, diese junge Frau aus meinem Kopf zu bekommen. Ich darf nicht an belanglosen Kram denken, nicht irgendwelche jungen Frauen ästhetisch finden und mir vor allem keinen Stress machen. Denn Stress habe ich in den letzten Monaten definitiv genug gehabt. Und dann ist wirklich die Zeit gekommen, in der ich jeden einzelnen Tag weinend nach Hause gefahren bin. Und dabei ist nicht einmal etwas Schlimmes passiert, sondern es ist einfach nur alles zu viel gewesen. Ist das eine Schwäche, frage ich mich. Ich halte meine Gedanken daran kaum noch aus, weswegen ich mich schließlich entscheide hinunter zum Steg zu gehen, vielleicht kann ich da ein bisschen Ruhe oder sowas Ähnliches finden, mache ich mir Hoffnung. Ich gehe den sandigen Weg hinunter und sehe geradeaus. Mitten auf dem Steg liegt die filigrane Gestalt des rothaarigen Mädchens. Sie sieht glücklich in den Himmel und ihre rotbraunen Haare liegen auf dem alten Holz des Stegs. Während ich auf diesen zugehe, beobachte ich die junge Frau kurz. Es ist ein schöner Anblick, bei dem ich mir wünsche, wieder jugendlich zu sein. Und vor allem ist es ein Anblick, der mich an mich selbst erinnert, als ich klein, kaum älter als zehn Jahre war und wir jeden Sommer hier waren. Aber jetzt wünsche ich mir nur, keine Sorgen zu haben.
Ich muss ziemlich gedankenverloren dort hingestarrt haben, die dünne Gestalt des Mädchens beinahe mit meinen Augen fixiert haben. Wie seltsam wäre es gewesen, hätte sie mich gesehen, wie ich sie mindestens eine Minute lang angestarrt habe? Ich versuche besonders leise und langsam über die hölzernen Platten des Steges zu gehen, um sie nicht zu sehr zu erschrecken. Ich weiß nämlich, wie es sich anfühlt, wenn man von irgendeinem Geräusch oder irgendeinem Menschen aus seinen Gedanken gerissen wird und bis jetzt scheint sie mich nicht zu bemerken.
Dann knackt einer der alten Holzbalken unter meinen Füßen, ich erschrecke mich leicht, erwarte jedoch nicht, dass die Konstruktion gleich einstürzt, denn dazu ist der Steg noch viel zu neu. Schnell gehe ich weiter, froh, dass ich mich nicht allzu sehr erschrocken habe. Aber sie, das rothaarige Mädchen fährt für einen Moment in sich zusammen und rappelt sich dann auf. Ich kann sehen, dass sie heftig atmet und mich verwirrt ansieht. Ich lege für einen Moment meinen Kopf schief und versuche eine Form von Entschuldigung in meinen Blick zu bringen. Aber die junge Frau sieht weg. Und ich bin mir sicher; sie muss trotz ihres lächelnden Blickes über etwas wirklich Tiefes und Ernstes nachgedacht haben, dass sie so erschrocken ist. Oder sie hat wegen ganz anderen Tatsachen eine grundsätzliche Schreckhaftigkeit. Dann schüttle ich den Kopf. Sowas weiß ich gar nicht. Und nur, weil ich mich selber häufig erschrecke und das auch aus Gründen, die länger zurückliegen, heißt es nicht, dass sie es auch tut. Aber schon wenn ich die junge Frau vor mir sehe, wie sie heftig atmet, dann erinnert sie mich total an mich, wenn ich mich erschrecke. Und das passiert schon bei den einfachsten Dingen. Ich gehe langsam auf sie zu und knacke aufgeregt mit meinen Fingern.
"Entschuldigung... Ich wollte dich nicht erschrecken...", sage ich und zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln. Ich lächle immer, immer und überall. Denn das ist die einzige Maske vor meinen sorgenvollen Gedanken und meinen Erinnerungen an mich selbst, die ich schnell bei ein paar Menschen habe. Aber das Gute an dieser Maske der Fröhlichkeit ist, dass jeder, wirklich jeder sie mir abkauft. Das Mädchen scheint, meinen ernsten Blick und mein trotzdem durchgehendes gefälschtes Lächeln zu bemerken, denn sie steht schnell auf und sieht mich interessiert an. Sie mustert mich von oben bis unten, bis sie anfängt, zu reden.
-„Ist nicht schlimm... Sie haben mich zwar ein bisschen erschreckt, aber das liegt an mir...", unterbricht sie die Stille und während ich am Anfang noch mein falsches Lächeln aufrechterhielt, es fast zu einem echten wird, verschwindet es zum Ende ihres langen Satzes. Diese Worte, es liege an ihr. Ich weiß ganz genau, dass das nicht stimmt. Wobei ich selber so bin. Schreckhaft und irgendwie schwach und gleichzeitig ein Mensch, der sich unbegründete Sorgen macht und manchmal auch den Willen hat, Menschen zu beschützen. Die junge Frau sieht mich wieder an und scheint zögernd zum Reden ansetzen zu wollen.
-„Sie... können sich ja auch hier hinsetzen... ich bin auch leise und gehe gleich auch wieder...", ihre Stimme klingt beinahe gebrochen in einer sarkastischen Art und Weise. Geht sie davon aus, dass alle Erwachsenen, die älter sind, als dreißig sofort genervt von ihr sind? Ich meine, diese Menschen mag es geben, aber ich gehöre nicht mit dazu. Sonst wäre ich nicht Lehrerin geworden, wenn ich von jeder Person unter dreißig genervt wäre.
"Klar...", sage ich etwas gedankenverloren, meine es aber nicht auf den letzten Satz bezogen, denn dieser verletzte mich ein wenig. Die junge Frau mit den interessanten roten Haaren hat keinen Grund zu denken, dass ich denke, sie könnte mich nerven. Und Dinge in dieser Form denke ich öfter mal, fällt mir auf. Andere denken, dass ich denke, dass andere etwas denken könnten. Ich seufze und setze mich neben sie auf den Holzsteg. Ich bemerke ihren Blick in Richtung des Himmels und auch ich sehe nach oben. Der Mond scheint fast voll und hell am wolkenlosen Himmel, der lila bis orange gefärbt ist.
-"Die Sterne sind schön..." unterbricht sie flüsternd die Stille und ich sehe wieder mit einem festgefahrenem Lächeln zu ihr, denn ich weiß gar nicht, auf welche Art ich sonst auf ihre Aussage reagieren soll. Ich erkenne nämlich mein etwa vierzehnjähriges Ich in ihrer Aussage wieder. Denn ich saß früher nicht gerade selten an diesem Steg und habe mir den Nachthimmel, die Sterne angeguckt, bis einer meiner Eltern mich gerufen hat, ich solle ins Haus kommen, weil es schon spät ist.
-„Sorry..." beginnt die junge Frau nun und sieht wieder zu mir.
-„Ich... führe manchmal Selbstgespräche... tut mir leid...." sagt sie zerknirscht und unsicher und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Diese Unsicherheit kenne ich nämlich auch von mir.
-„Ich... manchmal auch... mach dir keine Gedanken deswegen...", sage ich leise und sehe sie an, während ich versuche, möglichst freundlich zu wirken, denn dass sie geht, will ich nicht gerade bewirken. Und das erste Mal will ich nicht bewirken, dass mir jemand vertraut und mich direkt auf den ersten Blick als jemanden ansieht, dem man alle Probleme anvertrauen will. Obwohl mir schon häufiger gesagt wurde, dass ich vor allem für jüngere Menschen danach aussehe. Zumindest haben meine Kollegen es mir oft in Bezug darauf gesagt, dass ich mich gut als Vertrauenslehrerin an der Schule gemacht hätte, obwohl ich noch so jung bin. Ich bin offen und der Meinung, dass jeder mir seine Probleme mitteilen kann, was irgendwie stimmt, aber dennoch habe ich Angst, dass mir jemand vertraut. Genau, weil es vor allem in Bezug auf meinen Beruf oft von Kollegen erkannt worden ist und ich unter anderem deswegen überfordert gewesen bin. Mit den mental instabilen Kollegen, insbesondere aber mit den mental instabilen Schülerinnen und Schülern. Nach einiger Zeit habe ich dadurch gedacht, dass ich allen helfen könnte, jede verlorene Seele irgendwie retten könnte. Aber das geht nicht - und vor allem geht das weit über meine Aufgabe als Lehrerin hinaus. Zurück in der Realität blicke ich gedankenverloren nach unten auf das grünblaue Wasser.
-„Ich... glaube nicht, dass ich verrückt bin oder so...", beginnt sie ihren Satz wieder mit einem sarkastischen Unterton, aber dann antwortet sie leise: „Aber ich verstehe das... mit den Selbstgesprächen...". Danach ist es still zwischen uns. Ich muss ihren Satz erstmal verdauen können. Dann wage ich einen Blick zu ihr. Und ohne es zu wollen, treffen unsere Augen aufeinander und der Abstand von etwa einem Meter zwischen uns scheint auf einmal nicht existent, denn ich habe das Gefühl, jede einzelne Nuance ihrer grünblauen Augen erkennen zu können. Jede einzelne Farbe, die darin vorkommt. Und dass ihr Blick auch nach über einer Sekunde nicht von mir abweicht, sagt etwas aus. Ich weiß nicht was, denn ich schließe vor allem anhand unseres kurzen Dialoges eher aus, dass sie sich gerade in mich verliebt. Außerdem ist es sowieso wahrscheinlicher, dass sie nur auf Jungen steht. Aber ihr Blick ist da und ihr Blick trifft genau auf meine Augen, die so viel langweiliger sein dürften, als ihre. Und ich weiß, es kann nicht weiter bei diesem wortlosen Anstarren bleiben, denke ich und entschließe mich dann dazu, mich ihr vorzustellen.
„Ich bin May...", sage ich überraschend selbstbewusst und entscheide mich bewusst dazu, mich ihr mit der Kurzform meines Namens vorzustellen. Denn Mayla klingt nicht nach mir. Nicht nach einer Person, die schon in jungen Jahren mental am Ende ist und beurlaubt wurde, damit sie kein Burnout bekommt.
-„Ich bin Delia..." sagt sie wieder so leise und sieht weg, als sie mit mir redet. Und irgendwie redet sie immer noch etwas unsicher und ein wenig wünsche ich mir schon, ihr diese Unsicherheit wegnehmen zu können, ihr stattdessen Sicherheit zu geben. Aber wer wäre ich schon gewesen, das zu tun und vor allem, wie hätte ich es angestellt?
Ich sehe wieder auf das stille Wasser des Sees, es wird langsam dunkel und dennoch spüre ich irgendwie, dass das nicht mein letztes Gespräch mit Delia war.
DU LIEST GERADE
Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...