Ich stehe auf und gehe mit etwa einem Meter Abstand neben Delia her. Sie sieht meine Hütte für eine Weile an, während ich nicht anders kann, als lächelnd zu der jungen Frau neben mir zu sehen. Wir gehen wortlos nebeneinander den Weg entlang und seltsamerweise fühlt es sich für mich nicht so an, als würden wir uns kaum eine Stunde lang kennen. Es fühlt sich ganz anders an.
-"Ich bin da hinten", erklärt Delia und zeigt kurz auf eine der weiter entfernteren Hütten, zwischen denen jeweils Kieswege wie der auf dem wir gehen entlanglaufen. Ich sehe wieder lächelnd zu ihr und kurz treffen sich unsere Blicke wieder. Und das Lächeln in Delias Gesicht verschwindet, als sie in meine Augen sieht. Und es wirkt nicht, als hätte sie mein Anblick vom Lächeln abgebracht, sondern eher so, als würde sie sich auf etwas konzentrieren. Auf meine Augen wahrscheinlich. Und so konzentriere ich mich auch auf ihre. Eigentlich will ich mich in dem Grünblau verlieren, viel zu abwegig ist die Sache. Es würde aussehen, als wäre ich in die junge Frau verliebt, von der ich nicht einmal weiß, wie alt sie genau ist. Ich sehe, wie sich ihre Pupillen weiten und ihre Augen glänzen ein wenig und ohne dass ich es will, spüre ich irgendwas. Und dieses irgendwas veranlasst mich in dem Moment schon wieder dazu, zu lächeln. Dann schüttelt Delia kurz den Kopf und geht weiter, ich wieder direkt neben ihr und langsam kann ich mir selbst erklären, warum ich nicht einfach weggehe und in meiner Hütte verschwinde und die junge Frau neben mir alleine die dunklen Wege entlanggehen lasse. Obwohl ich nicht einmal gezwungen bin, auf sie aufzupassen, oder sowas. Aber ich bin trotzdem da, weil ich merke, wie sie mich ansieht und um jetzt, wo es dunkler wird, bei ihr zu sein, obwohl ich nicht einmal weiß, ob ihr kalt ist, oder ob sie möglicherweise Angst im Dunklen hat. Aber irgendwie spüre ich, dass beides ein wenig der Fall ist. Oder dass sie mich einfach nur die ganze Zeit anschauen will, was mir hingegen ein wenig Sorge macht.
Schließlich gehen wir nebeneinander, der Sonnenuntergang hinter uns, vor uns der lange Kiesweg, den ich eben auf meinem Weg zum See schon entlang gegangen bin. Und dann die Hütten und hinter den paar Hütten der dunkle Wald. Wir werden noch gut zwei Minuten gehen, bis wir meine und sie ihre Hütte erreichen werden. Und bis jetzt ist diese Stille schön, das Einzige, was wir hören, sind die leisen plätschernden Wellen des Seewassers und unsere Schritte im Kiessand. Und ich nehme klar und deutlich die Atemgeräusche der Person neben mir wahr.
Ich denke über sie nach, über Delia, obwohl sie direkt neben mir geht. Ihre Blicke sind schon seit dem Moment an, in dem wir uns einander vorgestellt haben, so intensiv und tief und ich merke fast durchgängig, wie ihre Augen an mir haften. Insbesondere an meinem Gesicht und meinen Augen. Und auch, wenn ich weiß, dass Delia eine junge Frau ist, die erwachsen genug wäre, sich zu verlieben, weiß ich nicht, ob ich ihre Handlungen so deuten soll. Wir kennen uns kaum eine Stunde lang. Zwar ist das Verlieben oft ein schneller Prozess, aber ich weiß nicht, ob das, was Delia tut, überhaupt in die Richtung geht. Aber vielleicht habe ich selber einfach nur eine zu große Angst davor, dass sich jemand in mich verliebt und jemand ein paar Tage in einer tollen, warmen Welt lebt, bis es abwärts geht. Bis die Person, die sich in mich verliebt hat, sieht, was ich eigentlich bin und vor allem, wie ich eigentlich bin. Ausgebrannt und einsam - obwohl ich in meinem Berufsleben immer viele Menschen um mich herum gehabt habe. Aber alleine gelassen fühle ich mich generell, vor allem, seitdem meine Eltern gestorben sind, niemand aus meiner Familie etwas mit mir zu tun haben will und alles stressiger geworden ist. Alles.
-"May?", höre ich augenblicklich Delias leicht besorgte Stimme mich ansprechen und werde sofort aus meinen Gedanken geworfen.
"Ja?", sage ich unsicher und denke daran, dass ich noch eben darüber nachgedacht habe, wie es wäre, wenn sie sich in mich verliebt hat, obwohl das total absurd wäre. Ich werfe mich selbst aus dem Gedanken heraus. Jemand wie Delia - ein vielleicht achtzehnjähriges Mädchen - verliebt sich nicht einfach so in jemanden wie mich. Und wer weiß, vielleicht hat sie einen Freund oder so oder hat generell gar kein Interesse an mir. Was einerseits nicht schlecht wäre und nicht noch mehr Stress und Angst bedeuten würde, andererseits aber auch bedeuten würde, dass ich verwirrt zurückbleibe, was ihre Blicke betrifft. Und, dass ich mich weiter einsam fühlen würde, vor allem in dem Moment, in dem wir in der Abenddämmerung auf diesem Kiesweg stehen.
Ein unsicheres "Ähm ...", ist das Erste, was ich nach kurzer Zeit Stille von ihr höre. Ich versuche sie freundlich und vertrauensvoll auszusehen, obwohl ich Angst vor dem habe, was kommen könnte. Und mein eigentlicher Blick wahrscheinlich eher wirkt, als hätte ich mir irgendwas eingeworfen. Und dabei ist es nur meine Angst davor, was sie mir gestehen wird.
„May... Du..." sagt sie unsicher und leicht stotternd und mit tieferer Stimme, während mir langsam am ganzen Körper warm wird und ich anfange, zu zittern. Delia sieht von mir weg und sie scheint es nicht weiter zu schaffen, zu mir zu sehen. Ich beobachte Delia eine kurze Weile dabei, wie sie sich nervös in der Umgebung umsieht, um nur nicht zu mir sehen zu müssen. Ich muss tief durchatmen, denn mein Herz rast immer schneller. Dabei weiß ich nicht einmal, was genau auf mich zukommt. Delia spannt mich echt auf die Folter.
-„Du kommst mir irgendwie bekannt vor ... so als hätten wir uns schon einmal gesehen oder sogar miteinander geredet..." kommt schließlich auf einmal alles erst vorsichtig, aber dann schnell und selbstbewusst aus ihr heraus. Für einen Moment fühle ich mich wie gelähmt, aber mein Herz schlägt weiterhin doppelt so schnell, wie sonst. Mindestens.
Mir fällt erst in dem Moment auf, dass mich genau dasselbe die ganze Zeit bei ihr beschäftigt hat und dass sie mir auch bekannt vorkommt. Vor allem so, als würden wir uns schon länger als knappe sechzig Minuten kennen. Aber irgendwie kann ich nichts dazu sagen, nichts machen. Sondern ich stehe einfach da und weiß nicht, was ich sagen soll und ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.
„Das ... finde ich interessant...", sage ich nur leise und versuche nicht allzu nachdenklich zu klingen. Innerlich versuche ich mich fieberhaft zu beruhigen. Denn zittrig sind vor allem meine Hände immer noch und es dauert eine Weile, bis sich mein wilder Herzschlag wieder beruhigt hat. Und im nächsten Moment hoffe ich nur inständig, dass es nicht so wirkt, als würde Delias Aussage mich stressen. Denn sie stresste mich nicht. Nur ist der Spannungsbogen, den sie aufgebaut hat und der Fakt, dass sie meint, mich zu kennen und sie mir auch bekannt vorkommt, ein bisschen zu viel auf einmal gewesen. Zumindest für mich.
-"Es tut mir leid, wenn diese Aussage nicht so...", beginnt sie wieder und überlegt, während sie knapp an mir vorbeisieht und mit ihrer Hand durch ihre Haare geht. Sie streicht sich eine der braunroten Strähnen hinter ihr Ohr und sieht mich dann das erste Mal wieder an. Ohne Grund legt mein Herzschlag wieder ein bisschen mehr zu, als ich in Delias türkise Augen sehe. Aber es ist das eingetreten, was ich befürchtet habe, denn sie denkt, dass ihre Aussage mich gestresst oder zumindest verwirrt oder verärgert hat. Immerhin ist es eigentlich auch nicht normal, direkt so mit einer eigentlich fremden Frau zu reden, oder etwa doch? Kann man zugeben, dass jemand einem bekannt vorkommt?
-"Es tut mir leid, wenn dieser Satz nicht so angebracht war..." sagt sie schließlich ehrlich und sieht für eine Sekunde lang ziemlich traurig aus. Das hingegen sticht bei mir irgendwo in der Seele. Vor allem, weil genau das eingetreten ist, was ich kurz befürchtet habe - dass sie aufgrund meiner Nervosität vor ihrem Geständnis denkt, dieses hätte mich verärgert oder gestresst oder getriggert oder sonst was.
Dann sieht sie von mir weg und wendet sich wieder der Richtung, wo die Häuser stehen zu und geht langsam los. Für höchstens drei Sekunden bleibe ich stehen und frage mich, ob ich irgendwas falsch gemacht habe, obwohl es mir eigentlich ziemlich egal sein könnte. Ich frage mich, ob sie denkt, sie hätte etwas falsch gemacht, obwohl ich das gar nicht wissen kann. Ich frage mich, ob sie denkt, dass ihre Aussage mich in irgendeiner Form an etwas erinnert hat, etwas Negatives in mir ausgelöst hat, auch wenn es gar nicht so ist und ich ihr gerne die Angst davor nehmen würde. Wie immer frage ich mich wieder viel zu viel.
Kurz erschrecke ich mich, dass Delia mehrere Meter vor mir geht und ich laufe das kurze Stück in einem langsamen Tempo zu ihr.
"Warte!", rufe ich und im nächsten Moment ärgere ich mich fast über mich selbst. Denn Delia bleibt zwar stehen und dreht sich langsam zu mir um, aber sieht mich traurig an. Ich weiß, ich muss nach den richtigen Worten suchen, denn ich darf nicht noch einmal so eine nachdenklich und verärgert klingende Antwort geben. Und vor allem darf sie nicht das Gefühl haben, etwas falsch gemacht zu haben. Denn das hat sie nicht.
Kurz sehe ich auf den sandig-steinigen Boden unter uns, bevor ich tief Luft hole.
"Nein...", fange ich an und bekomme damit immerhin wieder die Aufmerksamkeit der jungen Frau, die scheinbar etwas nervös an dem Ärmel ihres T-Shirts herumspielt. Aber Delias Blick ist immer noch traurig.
"Das ist okay zu sagen, was einem auf dem Herzen liegt", erkläre ich und ich stelle fest, dass diese Antwort wirklich nach mir klingt. Diese Antwort und dieser Satz im Allgemeinen klingt nach Mayla Lee. Und sogar nicht nach der Überarbeiteten und Ausgebrannten. Und wieder spüre ich ein warmes Gefühl, insbesondere in der Herzgegend, als Delia als stille Antwort auf meine Aussage lächelt und einen kleinen Schritt auf mich zugeht. Im nächsten Moment setzt sie selber zum Reden an.
-"Danke... ich habe schon gedacht... dass das irgendwie komisch war", erklärt sie und gestikuliert mit ihren Händen, hört dabei aber nicht auf zu lächeln. Ich sehe sie an und spüre weiterhin dieses warme Gefühl in mir, von dem ich ebenfalls nicht weiß, wie ich es deuten soll.
"Eine Sache aber noch", entscheide ich mich dazu, auch meine Sicht anzusprechen, die teilweise auch der Grund für meine Nervosität gewesen ist. Delia sieht mich wieder ziemlich intensiv an und nickt, fordert mich dadurch dazu auf, zu reden.
"Ich finde es sehr interessant, dass ich dir auch so bekannt vorkomme", sage ich schließlich etwas lauter, obwohl ich das 'auch' fast geflüstert habe. Ich sehe zu Delia, die lächelt und versuche wieder Vertrauen und Selbstbewusstsein in meine Stimme und Erscheinung zu legen, obwohl mir danach nicht so zumute ist. Trotzdem kann ich ebenfalls lächeln, wie mein Gegenüber. Und das warme Gefühl in meinem Brustkorb ist immer noch da und ich habe den leisen Eindruck, dass es sich verstärkt.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...