𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟐𝟓 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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"Ja... Noch ein bisschen... Obwohl Sommer ist, aber der Regen ist nun mal kalt". In meinem Kopf klingt diese Aussage unlogisch und ich muss von May wegsehen, um mich für das von mir Gesagte nicht zu schämen. Immerhin haben meine Worte zugegebenermaßen nicht besonders viel Sinn ergeben. Und während ich mich im Wohnzimmer umsehe, bevor mein Blick auf den dunkelbraunen Teppich vor dem Sofa fällt, bemerke ich, dass May mich ganz klar und deutlich anschaut und ich kann erahnen, dass sie nachdenkt. Kurz sehe ich zu ihr und unsere Blicke treffen sich nicht. Dafür bemerke ich, wie sie erst konzentriert auf den Boden starrt, ihr Blick dann aber meinen Körper hinauf wandert, um schließlich doch bei meinen Augen zu landen. Auch, wenn ich immer noch ein wenig zittere, da mir unter anderem auch der Regen ein ziemliches Kältegefühl gegeben hat, wird mir vor allem im Herzen sofort warm, als ich in Mays dunkelbraune Augen sehe. Ich muss unwillkürlich lächeln und auch auf Mays rosafarbenen Lippen zeigt sich ein warmes Lächeln, welches ehrlich vor Herzlichkeit und Glück sprüht, für mich damit kein bisschen nach dem wirkt, was ich eigentlich über May weiß. Denn es gibt ihren Stress, ihr Burnout ebenso sehr wie ihre vertrauensvolle, einladende und positive Seite. Sie scheint zu bemerken, dass mein Blick zu stechend wird, denn sie schaut weg, während ich mich weiter in die weiße Decke, die May mir gegeben hat, einkuschele. Generell fühlt sich diese Decke warm und nach einem wohligen Gefühl an, welches in dem Moment vor allem von meinem Oberkörper und insbesondere von meinem Bauch ausgeht. Und noch dazu habe ich schon direkt am Anfang bemerkt, dass sie nach einem ganz klaren angenehmen Geruch riecht. Es ist ein frisch herber Duft nach Sommer und der salzigen Luft am Meer. Doch ob es das Waschmittel oder das Parfüm von May ist, kann ich in dem Moment noch nicht zuordnen.
-"Willst du vielleicht einen Tee trinken oder so?...", fragt May erst ziemlich zögerlich, fügt dann ebenso stockend hinzu: "Dann ist dir vielleicht auch nicht so kalt... Und mir auch nicht". Erst will ich nachfragen, warum ihr denn kalt ist, ohne dass sie draußen im ekligen kühlen Regen gewesen ist, aber ich lasse es, gebe ihr stattdessen eine Antwort auf ihre Frage.
"Ja...", sage ich einfach nur. May lächelt mich an, dann steht sie auf und bewegt sich in die kleine Küche, die nicht anders aussieht, als die in der Hütte von meiner Mutter und mir. Für einen kurzen Moment schaut May konzentriert in den Schrank über dem Herd, sieht mich dann aber mit einem warmen Lächeln auf den Lippen an, während ihr ein paar ihrer braunen Haarsträhnen ins Gesicht fallen.
-"Dann... Ingwer-, Lavendel- oder schwarzer Tee?". May sieht mich interessiert fragend an und ich denke nach. Ich weiß, dass meine Mutter häufiger schwarzen Tee trinkt, wenn sie morgens früh wach werden muss. Und ich kann mich daran erinnern, dass meine Großmutter mir immer Ingwertee gemacht hat, wenn ich im Winter bei ihr im Norden Kanadas war. Ich entscheide mich also für den Lavendeltee.
-"Ist denn alles in Ordnung?", fragt sie mit etwas lauterer Stimme, was ich dem Brodeln des Wasserkochers im Hintergrund schulde. Ich verstehe zwar nicht, auf was genau sie die Frage bezieht, aber wenn ich nachdenke, dann ist es berechtigt, meinen Zustand infrage zu stellen. Schließlich bin ich einfach um kurz vor 17 Uhr hier bei May aufgekreuzt, habe vollkommen nasse Kleidung und Haare und habe noch nicht besonders viel geredet.
"Ich... Ich denke schon... Warum?". Ich kann mir das interessierte und leicht misstrauisch klingende Nachhaken irgendwie nicht verkneifen.
-"Nur so... Vielleicht habe ich mich auch nur ein falsches Gefühl und habe mir nur etwas eingebildet... Schließlich trinke ich meistens Lavendeltee, wenn es mir sowohl psychisch als auch körperlich schlecht geht...". Nach diesem Satz von May ist es still. Ich bin nicht nur wieder einmal verwirrt und überwältigt davon, dass sie das Gefühl hat, dass es mir nicht gut gehen könnte, bei welchem sie auch gar nicht falsch liegt, sondern auch, wie viel sie von sich selbst offenbart. Zwar dürfte der Fakt, dass sie ihren Stress und ihr beinah Burnout mir gegenüber schon zugegeben hat, etwas viel Schwerwiegenderes sein, als das, was sie mir eben eher beiläufig beim Teekochen gesagt hat, aber trotzdem. Dafür, dass wir uns eigentlich immer noch mehr oder weniger fremd sind, vertrauen wir einander nicht gerade wenig an.
Als May nach etwa fünf Minuten mit zwei bunten Keramiktassen zurück an den niedrigen Wohnzimmertisch kehrt, spüre ich ihren Blick auf mir.
-"Sorry", meint May dann völlig aus dem Nichts und ich sehe sie an, während sie ihren Blick bewusst von mir abwendet, keinen Augenkontakt herstellen will.
"Wofür denn? Es ist doch alles gut, May". Ich bin von mir selbst überrascht, wie verdammt sanft und vorsichtig meine Stimme auf einmal klingt und ich brauche einen Moment, um das für mich verarbeiten zu können. Vor allem, weil der plötzlich veränderte Klang meiner Stimme ganz klar an May liegt und daran, dass sie sich aus dem Nichts für irgendetwas entschuldigt.
-"Ich... Hätte dich eben nicht so drängend und beiläufig fragen sollen, ob alles in Ordnung ist... Für solche Fragen nehme ich mir vor allem bei Menschen wie dir gerne mehr Zeit, Delia...". Ich habe keine Ahnung, wie ich den letzten Teil des Satzes deuten soll, aber er bringt mich zum Lächeln und gibt mir etwas Wärme in meinem immer noch ein wenig kalten Körper. Trotzdem habe ich direkt das Gefühl, dafür sorgen zu müssen, dass May die Situation eben nicht als etwas ansieht, für das sie sich entschuldigen muss, denn schließlich hat sie genau genommen keinen Fehler gemacht.
"May...", spreche ich sie direkt an und während wir beide aufschauen, um uns in die Augen zu sehen, kommen wir uns noch ein Stückchen näher. So nah, dass sich unsere Knie für einen Moment berühren, ebenso wie unsere Fingerspitzen. An beiden Stellen fließt sofort ein warmes Gefühl durch meinen Körper. Und auch die dunkelbraunen Augen meines Gegenübers, in denen es nun interessiert glitzert, sorgen für Wärme, insbesondere in meinem Herzen.
"Es ist alles okay... Und noch dazu... Würden wir jetzt genug Zeit haben, darüber zu reden, ob bei mir und bei dir alles in Ordnung ist". Bei den letzten Worten des Satzes wird Mays Lächeln wärmer und stärker und ihr Blick gleicht einem durchdringenden Starren in die Tiefen meiner grünblauen Augen.
-"Okay... Na dann...", beginnt May leise und etwas nervös, bevor wir einander gleichzeitig "Wie geht es dir denn?" fragen und einen kleinen Moment darüber lachen müssen.
-"Du zuerst", meint May mit ruhiger Stimme und greift zu ihrer Tasse Tee, wobei sich unsere Schultern für einen kurzen Augenblick berühren, ich meinen Schulterknochen unter dem Stoff meines dünnen T-Shirts ein wenig in Mays Oberarm stechen spüren kann. "Sorry", flüsterte ich darauf bezogen, doch May scheint die Antwort auf ihre Frage mehr zu interessieren.
"Mir geht's ganz okay... Meine Mutter ist nicht da, sie ist über den Abend bei einer Freundin in der Nähe... Ein paar Minuten entfernt mit dem Auto... Und bevor ich mit meinen Gedanken alleine in der Hütte gehockt hätte und mich aufgrund des Gewitters in irgendeine Ecke verkochen hätte, bin ich zu dir gegangen...". Mir kommt meine ganze Erzählung unwahrscheinlich lange vor, wobei sie dies gar nicht wirklich gewesen ist. May nickt, nimmt daraufhin aber einen großen Schluck von ihrem Tee, als hätte sie meine nächste Frage schon vorausgesehen.
"Und bei dir, May?". Stille, für mehrere Sekunden.
-"Auch ganz okay...". Wieder Stille. Dieses Mal länger als zehn Sekunden und das einzige Geräusch, welches ich bis auf unsere leisen Atemgeräusche wahrnehme, ist das leise Ticken der Uhr an der Wand. Ich sehe mich in dem Raum um und verliere mich fast wieder in Gedanken, als ich eine sanfte Berührung an meinem Knie spüre. Ich sehe May ins Gesicht und nachdem sie einen eindeutigen Blick in Richtung ihrer Hand gemacht hat, um mich über Blicke zu fragen, ob ihre Berührung in Ordnung ist, legt sie ihre komplette rechte Hand vorsichtig auf mein Knie. Augenblicklich beginnt mein Herz zu rasen und ich spüre, wie sich meine Haut an dieser Stelle erhitzt. Ich sehe wieder in Mays Augen und bemerke, dass ihr Lächeln langsam wieder schwindet, sie sich dann räuspert und wieder mit dem reden beginnt.
-"Delia.... Ich muss aber zugeben, dass ich das, was du eben gesagt hast sehr, sehr gut kenne... Alleine im Haus hocken und trotzdem nicht alleine sein, denn die Gedanken sind immer bei einem... Und manchmal kommt man gar nicht zur Ruhe...". Ich nicke. Als Bestätigung, dass ich Mays Aussage wahrgenommen habe. Währenddessen streicht sie immer wieder mit ihrem Daumen beruhigend über mein Knie.

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