Ich gehe weiter den kleinen Weg zum See entlang. Unter meinen Schuhen knirscht der Kies und ich sehe mich kurz um. Irgendwie ist es wunderschön hier, denke ich, während ich die Pflanzen und das allgemeine Grün um mich herum betrachte. Ich kann mich daran erinnern, dass es früher vor allem im Sommer immer so war, dass alles in einem leuchtenden Sattgrün strahlte. Die Abendsonne, dieser riesige, gelbe Lichtball bewegt sich immer tiefer und taucht schon beinahe in das glänzende Wasser ein. Und die Nuancen der Spiegelungen im See geben dem bläulichen Wasser etwas Gelbes und Warmes.
Beinahe habe ich den Steg erreicht, als ich etwas merke. Ich bleibe kurz stehen, spüre, wie meine Haare im warmen Sommerwind wehen und ich kann den Geruch von Rauch wahrnehmen, was zu neunundneunzig Prozent darauf schließen lässt, dass jemand in der Nähe grillt.
Kurz sehe ich mich um, entdecke aber nichts. Irgendwas fühlt sich trotzdem anders an, denke ich, aber schlage mir selber schnell den Gedanken aus dem Kopf und gehe lächelnd den Steg entlang, um mich an dessen Ende hinzusetzen. Langsam lasse ich mich auf das alte Holz nieder und betrachte die kleinen Wellen, die gleichmäßig gegen die Holzpfeiler des Stegs schwappen.
Die Mücken schwirren bereits über dem See, der beginnt, aufgrund der Sonne orangerot zu leuchten. Das kühle, bläuliche Wasser des Sees hat mit einem Mal etwas wahnsinnig Warmes, diese orangeroten Sonnenspiegelungen. Es riecht immer noch nach Grill und in der Ferne kann ich ein Segelboot erkennen, welches auf dem See dümpelt. Ich sehe nach rechts, in den Westen und bemerke, dass die Sonne schon fast den Horizont berührt, so weit ich ihn durch den dichten Wald an seinem Ende erkennen kann. Aber die letzten Sonnenstrahlen treffen mich trotzdem noch, jedoch kaum stark.
Langsam ziehe ich meine Schuhe aus und halte meine Füße in das kühle blaue Wasser unter dem Steg. Für Anfang Juli ist das Seewasser ziemlich kalt. Nicht unangenehm oder frierend, aber kalt. Jedoch in der Mittagssonne wäre es, so glaube ich, eine schöne Erfrischung gewesen, wenn ich mich daran erinnere, wie die Sonne heute um die Mittagszeit gebrannt hat. Aber so wie ich mich kenne, habe ich schon nach einem Tag Sonnenschein einen Sonnenbrand. Ich sehe auf meine Füße und auf die winzigen Wellen des Wassers.
Kurz muss ich lächeln, als eine Erinnerung mir mein Lächeln wieder verschwinden lässt. Ich kann mich erinnern, dass ich mit meiner Ex-Freundin Grace oft am Wasser gewesen bin, zumal sie schon achtzehn war, gerade ihren Abschluss gemacht und ein Auto hatte. Ich kann mich nicht gut daran erinnern, wie wir uns kennengelernt haben, denn es war auf der Geburtstagsfeier von einem Typen aus meiner Klasse, aber ich war vom ersten Zusammentreffen an verknallt. Grace ist die Tochter eines extrem reichen Mannes, der mit seiner Frau und den zwei Töchtern in einer großen Villa am Stadtrand lebt.
Bei ihr zu Hause bin ich nur ein einziges Mal gewesen und bei jedem der zwölf Räume, die sie mir zeigte, fühlte ich mich immer unwillkommener und seltsamer, doch es war nicht schlecht. Und im Allgemeinen ist es mit Grace nie schlecht gewesen. Außer, dass ihre Eltern ziemlich oft im Weg gestanden haben. Denn neben dem Fakt, dass sie nicht die perfekte Tochter und somit extrem rebellisch und eigenwillig ist, sind ihre Eltern auch dagegen, dass sie mit einem Mädchen zusammen ist. Sie sind nicht homophob, da bin ich mir sicher, aber sie fanden es einfach nicht gut, in erster Linie wegen des Image der Familie. Ich glaube ganz tief in mir drin bis heute, dass sie sich nicht aus freien Stücken von mir trennen wollte, sondern ihre Eltern es ihr ausgeredet haben. Aber sicher bin ich mir nicht.
Und es ist fast ein Jahr lang alles gut gewesen, bis sie an diesem einen Tag gesagt hat: „Delia, es ist Schluss... Weil ich finde das nicht mehr gut mit uns...". Ich kann mich daran erinnern, dass ihre Stimme weder wütend noch enttäuscht klang, sondern ziemlich gezwungen und auch traurig. Das allerletzte Mal, wo wir geredet haben, ist es geendet, als Grace traurig aber ernst gesagt hat: "Wir funktionieren nicht mehr zusammen, okay Delia". Ich schrecke auf. Denn die Erinnerung daran, wie Grace das sagte, ist nahezu realistisch und schon fast so, als würde sie, das Mädchen mit den platinblonden Haaren direkt neben mir sitzen.
Aber stattdessen sitze ich immer noch alleine. Und ich will mich nicht weiter damit beschäftigen, wie es mit Grace und mir zu Ende gegangen ist und wie es wäre, wenn Grace jetzt bei mir wäre. Ich will an nichts denken, was mich traurig machen könnte, denn die Abendstimmung am See ist eine gute Atmosphäre. Ich will nicht an Grace denken. Nicht an ihre hellblonden Haare, ihre grünen Augen, ihre tiefe Stimme und ihre ruhigen Worte. Ich will es einfach nicht. Und dennoch weiß ich in echt nicht, was ich genau will.
Will ich alleine sein, einsam nachdenken und meine Gedanken um etwas herumkreisen lassen, was ich nicht mehr ändern kann oder was unmöglich scheint? Oder brauche ich jemanden, mit dem ich reden kann, der mich versteht und akzeptiert? "Ich weiß es doch selbst nicht..." gebe ich mir leise die Antwort, seufze einmal und sehe wieder auf meine Füße, die kurz über der Wasseroberfläche hängen.
Und langsam merke ich, dass es kälter wird. Vorsichtig ziehe ich wieder meine Schuhe an, binde die bunten Schnürsenkel mit den selbstgebastelten Perlen zu. Und als ich merke, dass es nicht nur an meinen Füßen, die bis eben noch im Wasser gehangen haben, kalt wird, ziehe Beine an mich heran, sodass diese nicht allzu kalt werden können. Ich sehe geradeaus und bemerke, dass sich das Segelboot um mehrere Meter in Richtung des kleinen Hafens in der Nähe bewegt hat.
Und plötzlich kann ich mich nahezu gar nicht mehr erinnern, dass ich irgendwann mal hier war. Und damit meine ich in dem Moment nicht nur den Steg oder den kleinen Hafen etwa einen Kilometer entfernt. Ich meine das Allgemeine, die Hütten und alles um mich herum, obwohl es nur vier oder fünf Jahre her ist. Ich weiß, dass ich mich an Sommerabende und grüne Pflanzen und grünes Gras erinnern kann, aber sonst an nichts von früher.
Aber gut, denke ich. Ich war da noch klein, mein Vater war noch da und wir waren hier mit ein paar Freunden von meinen Eltern und deren Kindern. Jede Familie hat eine kleine Hütte gehabt und manchmal haben wir uns am Steg oder auf der Wiese zum Grillen getroffen. Und ich kann mich daran erinnern, dass mein Vater mir jeden Abend viel über den Sternhimmel erzählt hat, den man vor allem im Sommer ohne Probleme sehen kann, wenn es dunkel wird.
Mein Vater war meistens ein toller Mensch. Bis er vor etwa zwei Jahren einfach abgehauen ist. Er hat meine Mutter und mich alleine gelassen und sich eine neue Frau gesucht, die viel Geld hat und bei der sie im Business durchstarten kann. Ich weiß nur, dass ihre Eltern aus Russland kommen und sie nicht den freundlichsten Charakter hat. Sie war mir bei dem einzigen Mal, wo ich sie bei meinem Vater gesehen und gesprochen habe, schon unsympathisch. Und nach dem Besuch von ihr und meinem Vater auf meinem fünfzehnten Geburtstag vor etwas mehr als zwei Jahren, habe ich sie nie wieder gesehen und ich bin ehrlich mit mir, dass ich es auch nicht noch einmal vorhabe. Ihre Strenge hat etwas noch stärkeres und konsequenteres an sich, als meine Mutter.
Und von meinem Vater habe ich seit dem Zusammentreffen mit seiner neuen Frau nur ein einziges Mal gehört, als er mir letztes Jahr zu meinem 16. Geburtstag gratuliert hat. Und das hat er auch nur mit einer einfachen Nachricht auf WhatsApp getan. Dieses Jahr, als im Mai mein siebzehnter Geburtstag stattgefunden hat, habe ich keine Nachricht mehr bekommen und frage mich seitdem, wo er geblieben ist.
Ich bin mir sicher, dass er noch lebt und ich kann mir vorstellen, dass er schon mit seiner neuen Frau nach Amerika ausgewandert ist. Oder nach Russland, in die Heimat der Familie seiner neuen Frau und dort jeden Tag viel Kaviar isst und Champagner trinkt, während er kaum arbeiten muss, weil die Millionen auf der Bank seiner Partnerin als Unterhalt ausreichen. Ich lasse mich vorsichtig nach hinten sinken, knalle dabei kurz mit dem Kopf auf den alten Holzuntergrund.
Ich schrecke kurz auf und siehe die Kapuze meines grauen Pullovers hoch, benutze diese als Kissen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann ist mir egal, wenn mich jetzt jemand beobachtet. Lächelnd sehe ich in den Himmel, an dem die ersten Sterne aufgehen. Ich muss zwar an meinen Vater denken, aber trotzdem lächle ich. Direkt über mir sehe ich die ersten Sterne des Großen Wagens aufgehen. Zumindest wird das Sternbild immer als Großer Wagen benannt, wobei es in echt nur ein Teil des großen Bären ist. Und während ich in den Himmel sehe und dabei nachdenke, höre ich vorsichtige Schritte etwas weiter entfernt. Und irgendwie weiß ich, dass es nicht meine Mutter ist, die meint, mit mir ein tiefgründiges Gespräch aufbauen zu können.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...