(Ich habe irgendwie das Gefühl, dass dieses Kapitel eine seltsame Struktur hat und ein bisschen zu kurz ist, also sorry dafür...)
"Schön... Ich war früher mit meiner Familie auch immer hier...", sage ich mir ruhiger Stimme, nachdem ich gemerkt habe, dass Delia die letzten Sekunden über ziemlich in Gedanken versunken gewesen ist. An irgendetwas muss sie sich erinnert haben, denke ich und sehe sie an. Ich atme tief durch, denn ich kann erkennen, dass das rothaarige Mädchen neben mir von einer Sache, wahrscheinlich in ihren Gedanken, belastet wird. Dabei weiß ich irgendwie ganz genau, dass sie diese Last nicht braucht und diese sie nur kaputt machen könnte, sobald sie sich in dieser verliert. Und fast will ich den Gedanken wagen, den ich vor ungefähr einem Jahr sofort gewagt hätte. Vielleicht könnte ich ihr als eine Person erscheinen, der sie ihre Gedanken anvertraut und vielleicht könnte ich darauf auch eingehen und ihr ihre Sorgen nehmen. Genau so, wie ich es schon mit mehreren Menschen in meinem Leben versucht habe. Ich erinnere mich daran, dass ich in meinem Beruf weit weg davon war, 'nur' eine Lehrerin zu sein. Mir ist es oft so vorgekommen, als wäre ich viel mehr, als nur die Autoritätsperson, die vor einer Klasse steht und dieser alles mögliche an Wissen einflößt. Für meine Schülerinnen und Schüler bin ich häufiger auf einmal zu einer Vertrauensperson geworden, bin dies auch voll und ganz gewesen und war dabei auch nicht gerade selten die einzige in dem Leben der Jugendlichen. Und mit meinen Kolleginnen und Kollegen war es nicht anders, außer, dass es für diese meistens einfach dann, wenn ich gerade selber Pause hatte passend erschien, mich mit ihren Problemen zu konfrontieren. Mehrere Jahre lang hat mich das auch nicht gestört. Ganz im Gegenteil habe ich mich nicht gerade selten so gefühlt, als könnte ich jede einsame und gebrochene Seele retten. Und es hat bis zum Frühling diesen Jahres gedauert, damit ich realisiere, dass das als Lehrerin einfach nicht mein Job ist. Ich bin Streitschlichterin, Vertrauensperson und manchmal sogar Familienhelferin für die Kinder und Jugendlichen gewesen, die ich unterrichtet habe und für das Kollegium ist es nicht anders gewesen. Außer, dass ich mich dort wirklich ziemlich oft wie die Seelenretterin gefühlt habe. Und dass das auf keinen Fall so sein soll, habe ich auch erst viel zu spät gemerkt. Dadurch werde ich plötzlich wieder wütend auf mich selber. Warum überhaupt habe ich mich darauf eingelassen, diese ganzen einsamen oder einfach nur gestressten Menschen, die teilweise auch noch private Probleme hatten beschützen zu wollen und warum habe ich angefangen, ihnen Hilfe anzubieten? Schließlich ist mir doch auch schon früher bewusst gewesen, dass das keinesfalls meine Aufgabe ist, oder etwa nicht?
-"Hast du Geschwister?", höre ich plötzlich Delia fragen und ich muss lächeln: "Ja, eine ältere Schwester... Und du?". Delia sieht kurz auf den See und meint dann einfach nur mit einem ironischen Unterton: "Nein... Ich bin so ein arrogantes, egoistisches Einzelkind...", lacht dann aber auch. Ich kann mir in dem Moment zwei Sachen nicht erklären. Erstens, warum Delia es so schnell geschafft hat, von einem eigentlich ernsten Thema auf etwas umzuspringen, was uns beide wenigstens für ein paar Sekunden zum Lachen bringt und zweitens, warum es sich so gut anfühlt, wirklich zu lachen. Es ist zwar nur etwas Kleines, was, wenn ich so darüber nachdenke, eigentlich gar nicht so lustig ist, wie es meine Reaktion ausdrückt, aber das Gefühl, welches dieses echte Lachen mir gibt, ist etwas, was ich zu lange vermisst habe. Das letzte Mal, dass ich wirklich gelacht habe und mich nicht nur dazu gezwungen haben freundlich und lustig zu wirken, muss schon Monate bis Jahre her sein. Und so ist es nun mal dazu gekommen, dass Delias kleine, ironische und sarkastische Bemerkung mich dazu veranlasst hat, zumindest für ein paar Sekunden zu lachen.
Danach fühlt sich auch die allgemeine Stimmung besser an. Nicht, dass diese vorher schlecht gewesen ist, aber die Themen, über die wir gesprochen haben, waren sehr persönlich und nicht gerade erfreulich. Und auch, wenn es nur ein Zeichen des Mitgefühls ist, tut es mir im Herzen weh, mitzubekommen, wie Delia sagt, dass es ihr leidtut für mich. Dafür, dass mir das passiert ist, was passiert ist und dass ich inzwischen überfordert und ausgebrannt bin.
-"Wie spät ist es eigentlich?", reißt Delia mich nach einigen Minuten Stille hektisch aus meinen Gedanken und nachdem ich der jungen Frau für eine Sekunde ins Gesicht gesehen habe, sage ich nur: "Ich weiß es nicht, sorry... Ich denke aber mal so kurz nach zwanzig Uhr... Hast du nicht ein Handy, wo du nachschauen kannst?". Die Frage am Ende meiner Aussage klingt sicherlich, als wäre ich ziemlich alt und nicht besonders technikbegabt. Dabei werde ich bald erst 31.
-"Akku ist leer... Sorry", erklärt Delia und deutet auf ihr Handy, welches keinen Ton und kein Bild mehr von sich gibt. Erst will ich Delia sagen, dass sie sich nicht für so etwas entschuldigen muss, aber auch irgendeinem Grund lasse ich es einfach.
Danach erklärt sie mir einfach nur, dass ihre Mutter sie gerne um 21 Uhr zu Hause haben möchte und sie gehen muss. Der leicht traurige Unterton in ihrer Stimme und der bedrückte Ausdruck in ihren wunderschönen grünblauen Augen entgeht mir dabei nicht. Und auch mir fällt es aus irgendeinem Grund noch schwerer als gestern, Delia wieder gehen zu lassen. Denn auch, wenn diese Wortwahl ziemlich dramatisch klingt, fühlt es sich für mich so an.Später am Abend, nachdem Delia gegangen ist, weil ihre Mutter scheinbar will, dass sie spätestens um 21 Uhr zu Hause ist, sitze ich immer noch an diesem Steg. Es ist fast komplett dunkel und nur noch die restlichen orangeroten Farben der Sonne sammeln sich am Horizont und bilden ein breites Band auf Licht. Eigentlich ist es wunderschön, denke ich. Aber ich weiß, dass mir etwas fehlt und ohne es wirklich zu wollen, denke ich sofort an Delia. Nicht, dass sie mir in dem Moment an diesem Ort so sehr fehlt, dass es fast ein paar Tränen aus meinen Augen fließen lässt, aber ich fühle mich plötzlich ziemlich alleine und ziemlich unterkühlt. Dabei ist es sicherlich noch über fünfzehn Grad. Trotzdem ist es vielleicht genau der Grund, warum ich mich dazu entscheide, wieder zu meiner Hütte zu gehen, um etwas zu essen und dann schlafen zu gehen.
Als ich den beinahe stockfinsteren Weg entlang gehe und mir dabei immer wieder mulmig wird, weil die Dunkelheit und ich nicht gerade gute Freunde sind, zumindest nicht, was die Dunkelheit draußen angeht, denke ich nach. Vor allem über Delia und den heutigen Tag. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie ist der ganze Tag ein wenig seltsam für mich gewesen. Während ich in der Nacht noch einen halben Nervenzusammenbruch hatte und es mir auch am Morgen nicht sonderlich besser ging, ist meine Laune nun aber mindestens doppelt so gut, wie vor meinem Gespräch mit Delia. Wir haben über teilweise ziemlich persönliche Dinge geredet und ich fühle mich von Sekunde zu Sekunde schlechter dafür, als ich über meine Probleme der letzten Monate gesprochen habe und Delia nachgefragt hat, einfach das Thema gewechselt habe. Aber Delia hat es mir gleich getan, realisiere ich auch. Immerhin hat sie gesagt, dass es ihr Okay gehe, aber sie nicht darüber reden wolle. Zwar hat sie sicherlich ihre Gründe dafür gehabt, zu sagen, dass ihr nicht so danach ist, über das zu reden, was sie belastet, aber wissen würde ich es schon gerne, obwohl es mich eigentlich kein bisschen was angeht. Ich versuche mich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, denn dort ist die Bekanntschaft von Delia und mir erst knapp ein Tag alt und bis auf das eine persönliche Thema ziemlich oberflächlich. Und ich weiß nicht, wie ich daran etwas ändern soll, ohne dass es seltsam wirkt. Schließlich würde ich nicht nur gerne wissen, was mit ihr los ist, was sicherlich noch eine Nebenwirkung von meiner ungewollten Rolle als die 'Seelenretterin' in meinem Beruf war, nein, ich würde am liebsten die ganze Zeit über mit Delia reden und einfach bei ihr sein. Aber wo das herkommt, weiß ich auch nicht. Schließlich deutet, zumindest bei mir, rein gar nichts darauf hin, dass ich mich in sie verliebt habe, oder sowas. Unsere Blicke zueinander sind zwar tief und vielsagend, aber mehr geht da nicht. Zumindest von meiner Seite aus nicht. Ich könnte mir immerhin niemals vorstellen, Delia jemals näherzukommen, als vielleicht eine lieb gemeinte Umarmung irgendwann. Und auch, wenn ich es natürlich nicht erzwingen kann, hoffe ich, dass es bei ihr ähnlich ist. Denn wie sich unerwiderte Liebe anfühlt, weiß ich selbst nur zu gut.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...