𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟗 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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(❤️‍🩹)

Um kurz nach 17 Uhr bin ich auf dem Weg zu May. Ich habe meine Mutter damit überzeugen können, dass ich ohne mein Handy ein wenig am See spazieren gehen werde. Sie meinte daraufhin nur, dass das wohl ziemlich nötig bei mir sei, um wieder aus meinem komischen, gereizten Zustand herauszukommen. Wenn sie nur wüsste, dass schon alleine die Präsenz, die Nähe von May dafür ausreicht. Wüsste meine Mutter davon, wäre sie wahrscheinlich noch genervter, noch wütender und es wäre noch schlechter zwischen uns, als es zurzeit generell ist.
Als ich an Mays Hütte ankomme, bemerke ich zuerst niemanden. Es scheint, als wäre niemand dort, obwohl die Haustür einen Spalt weit offen steht, durch welchen das Sonnenlicht von innen, wo es durch eines der Fenster auf der Westseite scheint, nach draußen fällt. Langsam nähere ich mich der Terrasse und plötzlich erschrecke ich mich ziemlich, als ich May erblicke, die in einer erschöpften Position an dem kleinen Tisch auf der großen Terrasse sitzt. Sie scheint zu schlafen und ihre langen dunkelbraunen Haare verdecken ihr gesamtes Gesicht, welches sie müde auf ihre Unterarme gebettet hat. Wahrscheinlich ist das aber auch besser so, denn genau auf diesen Punkt fällt schon seit über einer Stunde die heißen Sonnenstrahlen. Vorsichtig nähere ich mich ihr, höre aber nur, wie sie ruhig, aber flach atmet. Sie bemerkt mich nicht.
"May?", flüstere ich deswegen leise ihren Namen. Erst regt sie sich nicht, dann erschreckt sie sich jedoch umso mehr, weswegen ich einen Schritt zurückweiche und die braunhaarige Frau mir gegenüber genau betrachte. Für einen kurzen Moment scheint sie erstarrt zu sein, ihr Atem zittert ebenfalls, doch als sie zu realisieren scheint, dass ich es bin, die vor ihr steht, beruhigt sie sich sichtlich. Tief seufzt sie und berührt überfordert mit ihren beiden Händen ihren Kopf. In mir kommt sofort ein schuldiges Gefühl ihr gegenüber auf.
"May... Sorry, dass ich dich so erschreckt habe... Ich wusste nicht, dass du schläfst...", entschuldige ich mich und kann den Blickkontakt nicht lange aufrechterhalten. Trotzdem merke ich, wie May zu mir sieht und schon einen Moment später gebe ich mich dem Blick aus ihren dunkelbraunen Augen wieder hin. Diese strahlen allerdings einen erschreckend erschöpften und geschwächten Ausdruck aus, den ich mir leider schnell damit erklären kann, dass es ihr allgemein psychisch derzeit nicht immer gutzugehen scheint. Ich erkläre es mir auch damit, dass die Sonne bestimmt eine Stunde lang mit voller Kraft auf ihren Kopf geschienen hat, was bekanntlich nicht gesund ist. In mir steigt Panik auf.
-"Ist okay...", meint May einfach nur und zuerst will ich meinen Kopf schütteln, doch ich merke, dass ich wieder einmal schneller gedacht, als gehandelt habe. Vielleicht übertreibt meine Wahrnehmung auch nur und das Gefühl in Mays gesamten Gesicht ist gar nicht so stark, wie von mir wahrgenommen und ob sie eine Hitzeerschöpfung oder gar einen Sonnenstich erlitten hat, kann ich auch nicht beurteilen. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Nicht zuletzt wegen des müden Ausdrucks in ihren dunklen Augen und dem allgemein erledigten Eindruck, den sie abgibt, sondern auch wegen ihrer in sich zusammen gefallenen Körperhaltung und ihrer plötzlich ziemlich blassen Haut. Meine Panik wird ebenso wie meine Sorge um sie immer stärker.
"May? Ist alles in Ordnung?", frage ich deswegen nun etwas aktiver nach und komme ihr so nahe, dass ich fast direkt neben dem Stuhl stehe, auf dem sie sitzt. Mein Blick wandert an ihrem gesamten Körper hinab und dann wieder in ihr Gesicht, zu ihren wunderschönen Augen, die in dem Moment aber voller Erschöpfung sind. Zaghaft und so, als würde es in ihrem Kopf wehtun, nickt sie und will daraufhin reden. Irgendetwas sagt mir aber, dass sie das in dem Moment nur will, um das Thema zu wechseln und den Fokus unserer Interaktion jetzt nicht auf ihren Zustand zu legen, der ihr warum auch immer ziemlich nichtig erscheint.
"Sicher? Du wirkst irgendwie erschöpft...". Ich sehe May nach meiner ehrlich gestellten Frage in die Augen und lege meinen Kopf schief. Sie mustert mich ganz genau und dieses Mal scheinbar noch fokussierter und tiefer, als sonst meistens, was nur darauf hindeuten kann, dass sie nachdenkt. Aber sicherlich nicht über die Frage, die ich ihr gestellt habe, sondern über etwas ganz anderes.
-"Ja, alles gut... Wirklich nur ein bisschen müde...", flüstert May beinahe schon, dennoch mit einem leichten Lächeln am Ende. Ich weiß irgendwie nicht, wie ich auf sie reagieren soll, was ich sagen oder fragen soll. Denn ich kann erkennen, dass es ihr in dem Augenblick nicht sonderlich gut geht und dass sie nicht nur ein bisschen müde ist, sondern erschöpft; wovon auch immer. Aber um sie nicht zu einer Antwort zu zwingen, halte ich dann meinen Mund und sehe May an, deren Blick immer noch zwischen extremer Müdigkeit und Schwäche, aber auch zwischen Angst und Liebe liegt.
"Wollen wir vielleicht nach drinnen gehen? Da ist es auch kühler, als hier", schlage ich nach einigen Sekunden vor. Mir ist kurz wieder durch den Kopf gekommen, dass May mindestens eine Stunde lang in der brennenden Sonne gesessen hat, diese direkt auf ihren Kopf geschienen hat. May nickt und lächelt, woraufhin sie auffällig langsam aufsteht, dann an mir vorbeigeht und ich ein paar Sekunden nach ihr ebenfalls ihre Hütte betrete. In dieser ist es, wie in der von meiner Mutter und mir, wirklich kühler und direkt setzen May und ich uns auf das dunkle Sofa. Für ein paar Sekunden herrscht Stille, während ich zu May sehe, die müde ihre Augen geschlossen hat.
"May...", flüstere ich, will dadurch herausfinden, ob sie noch wach oder wie draußen schon eingeschlafen ist. Aber langsam öffnet sie ihre Augen wieder und unsere Blicke treffen aufeinander. Dieses tiefe dunkelbraun wirkt so liebevoll und warm, aber in diesem Moment ebenso zerbrechlich.
-"Delia... Ich-...", beginnt sie, doch irgendetwas hindert sie am Reden. Ich weiß nicht, ob es einfach nur die Intention ist, oder ob ich meine eigenen Gefühle May gegenüber damit einfach nur spiegle und auf sie übertrage. Vorsichtig nehme ich ihre linke Hand und halte diese mit meiner rechten Hand sanft fest. Beruhigend streiche ich über ihren Handrücken.
-"Ich weiß, das muss vollkommen kindisch klingen... Schließlich gibt es hunderte Formen, immer noch in Kontakt zu bleiben, nachdem du morgen früh nach Hause fährst und ich in etwa drei Wochen das Gleiche tue...", sagt sie und es scheint, als würde sie sich extrem zusammenreißen müssen, gefasst zu sein und nicht emotional zu werden.
-"Ich habe nur einfach Angst, dass ich dich verliere", flüstert sie daraufhin und sieht mich mit Tränen in ihren wunderschönen braunen Augen an. Dieser Anblick zerbricht mich, das ist keine Frage, aber überfordern tut er mich trotzdem nicht. Vielleicht überfordert er mein konstruktiv denkendes Gehirn, aber keinesfalls mein Herz, welches May in dem Moment zeigen will, dass sie mich nicht verlieren wird. Ich habe Angst, dass die Tränen jederzeit anfangen könnten, zu fließen, denn dann könnte ich mich vermutlich nicht mehr zurückhalten und dann würde es dieses Mal ich sein, die May aktiv in eine Umarmung zieht und sie dadurch versucht, zu beruhigen.

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