𝐤𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟕 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

252 18 7
                                    

"Ich finde es sehr interessant, dass ich dir auch so bekannt vorkomme". Mit dem Satz hat es sich für mich schnell erklärt, warum May so nervös gewirkt hat und ich besorgt dabei zugesehen habe, wie ihre Hände immer mehr zitterten. Zumindest zu dem Zeitpunkt, als ich angekündigt habe, ihr etwas sagen zu wollen. Ich habe keine Ahnung, was sie sich in dem Moment gedacht hat oder was sie vermutet hat. Vielleicht ist es aber auch nichts gewesen. Aber niemand ist ohne Grund so nervös, erkläre ich mir in meinen Gedanken selber die Verwirrung über Mays Verhaltensweise. Und die braunhaarige Frau selber geht immer noch dicht neben mir und ich sehe auf den Boden unter uns. Schließlich bleibt May stehen und ich sehe zu ihr. Sie lächelt mich an und wieder wird mir irgendwie warm. Aber im Gegensatz zu unserem kleinen Gespräch am Steg fühlt es sich nicht mehr so an, als würde ich schweben. Zum Glück nicht, denn sonst wäre es mir sicherlich schwergefallen, auf der Erde stehenzubleiben.
-"Warum guckst du mich so an?... Ich wohne hier...", lächelt May mich an und ich merke, wie meine Wangen verbotenerweise anfangen, zu glühen. Die deutet mit dem Kopf auf die Holzhütte unmittelbar neben uns. Auf der kleinen Terrasse steht ein alter Holzstuhl und um einen großen Blumentopf herum ist eine leuchtende Lichterkette gelegt. Und auch hinter den Fenstern kann ich gedimmtes, warmes Licht erkennen. Und auch, wenn meine Bekanntschaft mit May kaum zwei Stunden alt ist, finde ich, dass die Wirkung des Hauses perfekt zu ihr passt. Warm und irgendwie einladend. Und als ich wieder zu May sehe, bemerke ich, wie diese mich anlächelt und als hätte mich jemand von hinten angeschubst, gehe ich ungewollt einen Schritt auf sie zu. Gerade mal ein halber Meter trennt uns voneinander und ich frage mich ernsthaft, warum ich so einen klaren Schritt auf May zugegangen bin. Ich muss wirklich wirken, als wäre ich verliebt und würde etwas von ihr wollen, verfluche ich mich selbst. Und im nächsten Moment besteht meine Unsicherheit darin, dass ich nicht weiß, ob es vielleicht wirklich so ist. Immerhin sprechen das Gefühl vom Schweben und den Eindruck der Wärme fast schon für sich. Aber ich kann mich nicht einfach so schnell verlieben und vor allem nicht in eine mindestens zwanzigjährige Frau, die ich seit kaum zwei Stunden kenne. Außerdem bin ich kaum über Grace hinweg, ermahne ich mich selbst und denke an meine Ex-Freundin, von der ich mich vor knapp zwei Monaten getrennt habe. Ich atme tief durch, was nicht unbemerkt von May bleibt.
-"Ist alles in Ordnung?", fragt sie ziemlich besorgt und ich sehe zu ihr. Ihre Augenbrauen sind leicht zusammengezogen und ich kann in ihrem Gesicht sehen, dass sie sich ernsthafte Gedanken macht. Um mich. Jemand macht sich Gedanken um mich, realisiere ich. Das macht nicht einmal meine Mutter. Aufmerksam sehe ich in Mays braune Augen, die weiterhin eine ziemliche Besorgnis ausstrahlen, auch nachdem ich genickt habe und ihr knapp gesagt habe, dass alles in Ordnung ist.
"Ich ...", beginne ich, ohne etwas sagen zu wollen und will mich dafür innerlich schlagen. Vor allem, weil May sofort aufmerksam zu mir sieht und lächelnd ihren Kopf schief legt. Sie sieht mich an. Durchdringend.
"Ich hoffe dann mal, dass du ... gut schlafen kannst, May", sage ich leise und merke, wie mein Satz zum Ende hin immer mehr wie eine Frage klingt. Was ist das nur gewesen? Ich ermahne mich direkt selber dafür, aber May lächelt weiterhin und kommt ebenfalls einen kleinen Schritt auf mich zu. Der Dialog danach ist für mich nur noch pure Verwirrung. Wenn auch eine warme, herzliche Verwirrung, in der das Gefühl des Schwebens bei dem Blick in Mays Augen für einen Moment zurückkehrt.
-"Ja, das kann ich...", flüstert May und sieht mich weiterhin an und ich merke, dass sie sich gerade entfernen will, als sie noch etwas sagt und dabei wieder so nahe kommt, wie davor.
-"Und ich hoffe, du schläfst auch gut, Delia", meint sie leise und als sie meinen Namen ausspricht, merke ich, wie mir warm wird und als ich in dem Moment danach in die braunen glänzenden Augen meines Gegenübers sehe, kommt das Gefühl von diesem Schwebezustand wieder. Ich nicke nur etwas steif.
May entfernt sich wieder ein wenig, sieht mich aber weiterhin an und während sie eben noch so konzentriert und intensiv, aber freundlich geschaut hat, lächelt sie nun wieder. Und für mich sieht es aus, als würde dieses Lächeln aus vollem Herzen kommen.
"Gute Nacht", sage ich leise und sehe May tief in die Augen, bevor mein Blick auf den dunklen Weg fällt, der noch vor mir liegt.
-"Gute Nacht, Delia...", flüstert May und entfernt sich um einige Meter von mir, wobei die Wärme in mir immer noch präsent bleibt. Und ich sehe der braunhaarigen Frau mit dem ehrlichen Lächeln dabei zu, wie sie in ihrem Haus verschwindet und die Tür hinter ihrem Rücken schließt. Dann bin ich wieder alleine. Und es fällt mir schwer, mich wieder zu ordnen. Vor allem gedanklich, aber auch, was meine Gefühle angeht.
Im Dunkeln ohne May den Weg entlangzugehen, ist gruselig. Und irgendwie vermisse ich sie ohne Grund, obwohl ich sie vor etwa zwei Stunden noch nicht gekannt habe. Ich frage mich, ob ich wirklich verliebt bin, aber möglich ist das nicht, nicht so schnell. Denn die ganze Sache mit Grace liegt kaum drei Monate zurück und ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich mich jetzt schon wieder verlieben würde. Und vor allem will ich mich nicht in eine ältere Frau verlieben, die ich seit höchstens zwei Stunden kenne und mit der ich nicht besonders viel geredet habe. Andersherum sprechen sowohl meine Gefühle, als auch meine und ihre Blicke für sich. Und die Art, wie ich mich in Mays Augen verliere, tut es auch. Aber verliebt will ich nicht sein, zumal jemand wie May entweder alleine sein will oder gar nicht auf Frauen steht und wenn doch, dann hat sie sicherlich eine Partnerin oder ist wie ich und verarbeitet gerade eine Trennung.
Schließlich erreiche ich die Tür der Hütte von meiner Mutter und mir. Durch das kleine Wohnzimmerfenster kann ich Licht erkennen und ohne Grund muss ich lächeln, als ich die Tür öffne.
„Hallo Mom...", sage ich und stelle meine Schuhe auf dem kleinen Regal am Eingang der Hütte ab und sehe zum Sofa, wo meine Mutter mit Lesebrille und Buch in der Hand sitzt und mich angespannt mustert.
-„Wo warst du denn so lange?" fragt sie interessiert und es klingt zu meiner Überraschung gar nicht genervt oder Antworten fordernd, wie sonst. Es klingt einfach nur interessiert.
„Ich war unten am See...", sage ich knapp und muss lächeln. Aber dann herrscht Stille. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Aber mein Lächeln kann trotzdem nicht aufhören und ich spüre irgendwie immer noch die Wärme, obwohl May seit mindestens fünf Minuten nicht mehr an meiner Seite ist.
„Ich war lange nicht mehr hier ... da musste ich mir alles erstmal angucken...", erkläre ich mich
-„Das ist toll...", sagt meine Mutter nur knapp, aber trotzdem freundlicher, als sonst. Dann sieht sie mich an.
-„Bevor du bis morgen früh in deinem Zimmer verschwindest ... ich habe dir Essen gemacht ... Steht in der Küche...", meine Mutter lächelt mich an. Ich bin ziemlich verwundert, dass sie mir etwas zum Essen gemacht hat, denn normalerweise hätte sie mir gesagt, dass ich mir selber irgendwas kochen soll. Kurz sieht meine Mutter noch zu mir, bevor sie sich wieder ihrem Buch zuwendet und ich mich umdrehe, um in die kleine Küche zu gehen. Zehn Minuten später sitze ich mit meinem Handy in der einen und der Schüssel mit den Nudeln in der anderen Hand auf dem Hocker in meinem kleinen Zimmer. Die Internetverbindung lässt zu wünschen übrig, aber mir ist es egal. Während des Essens sehe ich mich im Zimmer um. Ich war schon kurz hier, als ich meine Sachen ausgepackt habe, meine Kleidung in den alten Schrank gepackt habe. Aber das Zimmer erinnert mich immer noch ein wenig an meine Kindheit. Dieses Zimmer war auch schon immer mein Zimmer gewesen, wenn ich mit meinen Eltern hier gewesen bin. Auch, wenn ich damals acht oder neun Jahre alt gewesen bin, kann ich mich an so einiges auf einmal erinnern. Trotzdem will ich manches davon nicht wahrhaben. Zum Beispiel, wie ich früher Abend für Abend mit meinem Vater an dem Steg saß und er mir alles über den Sternhimmel beibrachte und wir viel über Astronomie geredet haben. Und wie manchmal auch meine Mutter sich mit dazugesetzt hat und generell wie sich meine Eltern damals so gut miteinander verstanden haben. Das ging aber nur bis kurz vor meinem 15. Geburtstag gut.
Und bei meinen Gedanken an den Steg denke ich wieder an May. Wie wir vor etwa einer Stunde noch dort gesessen haben und wir beide auf den See gesehen haben. Und dann, wie die braunhaarige Frau mich aus ihren bernsteinfarbenen Augen angesehen hat und ich mich in diesen verloren habe. Und wieder denke ich an diesen Schwebezustand, den ich schon zwei Mal gespürt habe, als ich ihr in die Augen gesehen habe.
Schließlich lege ich lächelnd mein Handy weg und esse meine Nudeln weiter, während ich aus dem Fenster sehe, wo es fast komplett dunkel ist. Nur noch am Horizont ist ein hellerer Streifen zu erkennen, aber der Himmel ist komplett schwarz bis auf die vielen Sterne. Von meinem Fenster aus kann ich den Polarstern, sowie das Sternbild des kleinen Wagens und den fast vollen Mond erkennen.
Schließlich gehe ich mit der leeren Schüssel, aus der ich eben noch gegessen habe, durch das Wohnzimmer in die kleine Küche. Lächelnd muss ich ohne Grund wieder an May denken und als ich die Schüssel und das Besteck in die Spüle gestellt habe, drehe ich mich wieder zum Wohnzimmer um. Meine Mutter, die gerade ihr Buch zur Seite legt, sieht mich an.
-"Worüber lächelst du denn so?", fragt sie interessiert und ich merke, wie mir wieder warm wird.
"Keine Ahnung ... Es ist schön, Ferien zu haben ...", ich merke, wie meine Stimme innerhalb des Satzes überraschenderweise immer selbstbewusster klingt. Meine Mutter lächelt und nickt. Dann verschwinde ich mit einem knappen "Gute Nacht" in meinem Zimmer. Von meiner Mutter kommt nichts hinterher. Und irgendwie überrascht es mich nicht, auch wenn sie wieder etwas mehr mit mir geredet hat und dabei auch nicht so distanziert gewesen ist.
Ungefähr um 23 Uhr liege ich im Bett. Das Licht in meinem Zimmer ist aus und ich weiß, dass ich jeden Moment einschlafen könnte. Doch meine Gedanken kreisen irgendwie um May. Warum ist sie nur in meinen Gedanken? Ich will es mich gar nicht mehr fragen, denn sie ist schon seit unserem Kennenlernen vor gut drei Stunden permanent in meinen Gedanken. Aber ich will mich nicht in sie verlieben, nicht in eine erwachsene Frau, die eigentlich nichts für mich wäre. Und trotzdem kann ich irgendwie nicht aufhören, sie zu denken. Müde und nachdenklich sehe ich aus dem Fenster und drehe mich dann weg, damit der fast volle Mond nicht so sehr in mein Gesicht scheint. Ich bin nicht verliebt! sage ich mir selber in Gedanken, aber trotzdem spüre ich, dass May mir irgendwas zu bedeuten hat und dass sie mir langsam wichtig wird. Weil ich sie mag. Aber ob das bedeutet, dass ich mich komplett in sie verliebt habe, denke ich und muss trotzdem lächeln. Ich sehe an die hölzerne Wand, bevor ich mich nochmals umdrehe und wieder den fast vollen Mond ansehe. Und ich frage mich, was in den nächsten sieben Tagen noch passieren wird, während ich langsam einschlafe.

Fading Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt