(TW - In diesem Kapitel kommt ein Albtraum vor ...)
Ich sehe in den Badezimmerspiegel. Das erste Mal, seitdem ich um kurz nach 16 Uhr bei May aufgetaucht bin, hinterfrage ich, was ich hier eigentlich tue. Noch dazu gehen mir nochmal alle Dinge, die während meiner Gespräche mit May, die bis vor wenigen Minuten angehalten haben, passiert sind durch den Kopf. Ihre sanften Berührungen und ihre ruhige Stimme, dazu die allgemeine einladende und warme Aura, die die braunhaarige Frau mit den dunkelbraunen Augen ausstrahlt. Ebenso aber erinnere ich mich auch daran, wie ich mich während meiner nachdenklichen Gedankengänge, bei denen ich mich innerlich klar von der Realität abgekapselt habe, an Mays Seite gelehnt und meinen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt habe. Ich bin ihr vorher noch nie so nahe gekommen und habe vorher noch nie realisiert, wie warm und vertraut sich die Nähe ihres Körpers anfühlt und wie sehr mir ihre Berührungen ein Gefühl von Sicherheit geben.
Als ich das kleine Badezimmer verlasse, laufe ich May direkt über den Weg. Sie trägt einen übergroßen gelben Pullover, der warm und flauschig aussieht und dazu eine schwarze Jogginghose. Ihr Haare liegen offen über ihre linke Schulter und der Blick aus ihren dunklen Augen, in welchen sich das gelbliche Licht des Badezimmers spiegelt, lässt mich wieder dieses angenehme Kribbeln in meinem ganzen Körper spüren.
-"Willst du in der Kleidung schlafen?", fragt May leise aber dennoch skeptisch nach und ich sehe sie an.
"Ja... Ist nicht so ungemütlich, wie es aussieht", antworte ich, denn immerhin ist mein T-Shirt weit und lässig, wenn auch ein bisschen kalt und meine knöchellange Jeanshose ist weit geschnitten und keinesfalls unbequem.
-"Okay", lächelt May schließlich nur und sieht mich einmal von unten bis oben an, bis ihr Blick wieder bei meinen Augen landet. Ich könnte sie für immer anschauen, so wunderschön ist ihr Gesicht und so vertrauensvoll und ruhig sind ihre dunkelbraunen Augen, die im Licht des Badezimmers hinter mir wie schon im Sonnenlicht wie Gold wirken. Es vergehen mehrere Sekunden, in denen mein Herz immer schneller schlägt, während ich ununterbrochen zu May sehe. Doch schließlich ist es sie, die die Stille bricht.
-"Falls du irgendwas brauchst oder irgendwas anderes ist, dann kannst du mich gerne wecken..."
"Ja". Ich fühle mich seltsam dafür, so knapp zu antworten. Aber als May nach meiner kurzen Antwort ein paar Schritte auf mich zugeht, sodass ich ihren warmen Atem spüren kann und uns nur noch wenige Zentimeter voneinander trennen, verschlägt es mir sowieso die Sprache. Ein paar Atemzüge lang ist es still zwischen uns und ich sehe vom hölzernen Fußboden auf in Mays Gesicht, welches nur knappe zwanzig Zentimeter von meinem entfernt ist. Ihr Blick gilt ganz klar mir und ich habe die ganze Zeit über Angst, dass mein Gegenüber hören könnte, wie laut und schnell mein Herz schlägt. Was würde sie sich denken?
-"Und wenn du dich einsam fühlst, dann kannst du auch zu mir kommen... Zusammen ist man weniger alleine, Delia", flüstert May schließlich, mit einem leichten, aber warmen Lächeln auf den Lippen und sofort kehrt das warme Kribbeln in meinen Körper zurück. Ich nicke nur und muss auch lächeln, bevor May und ich einander eine gute Nacht wünschen.
Schließlich lege ich mich auf das Sofa, welches May mir vorbereitet hat. Ich würde nicht sagen, dass sie sich viel zu viel Mühe für eine Person wie mich gemacht hat, aber die vielen gemütlichen Decken und Kissen und die schöne Lichterkette auf der Fensterbank gleichen schon fast einem Bild aus einer Wohnzeitschrift. Ich seufze und sehe an die Zimmerdecke, während ich mich mit der weißen Decke, die May mir schon gegeben hat, als ich hier aufgetaucht bin zu. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich immer noch ganz klar den angenehmen Duft wahr, der nach warmen Sommernächten und der salzigen Brise am Meer riecht. Schließlich fallen mir die Augen zu, obwohl es kaum Mitternacht ist.
Ich renne immer weiter und habe das Gefühl, verfolgt zu werden. Der Wald ist verdammt dunkel und ich habe Angst, Todesangst. Ich versuche die ganze Zeit über, schneller zu rennen, zu beschleunigen, davonzulaufen. Aber es funktioniert nicht. Eher habe ich das Gefühl, immer langsamer zu werden und immer schwächer. Tränen laufen gepaart mit Angstschweiß über mein Gesicht und ich reiße mich zusammen, nicht auf den Boden zu fallen. Schließlich werde ich verfolgt und ich weiß, dass ich sterben werde, wenn ich nicht weiterhin laufe. Ich spüre, dass etwas Schlimmes passieren wird, wenn ich nicht aus diesem Wald hinausfinde. Aber ich bin verloren, inmitten von schwarzen Bäumen und schmalen Wegen. Ich habe Angst - so eine schlimme Angst wie noch nie und irgendetwas versucht mir zuzuflüstern, dass ich verfolgt werde, leiden werde, wenn ich nicht weiterlaufe. Aber meine Beine wollen nicht mehr und ich bleibe stehen. Plötzlich sinkt der Boden unter meinen Füßen ein und ich falle schreiend hinab. Ich weiß, dass ich immer noch verfolgt werde. Ich sehe nach oben. Über mir ist niemand, aber es fühlt sich so an und ich bekomme mehr und mehr Panik wegen des Falls, während ich panisch nach Luft ringe, bis ich schmerzhaft aufpralle.
Ich schrecke hoch und atme hektisch und unregelmäßig. Es ist dunkel. Viel zu dunkel. Sofort frage ich mich, wo ich bin und ich werde innerhalb einer Millisekunde panisch und mir wird extrem schwindelig. Ich schnappe weiterhin nach Luft und rufe schließlich stockend und mit erstickter Stimme: "Ich-, Was ist- Ich-" bevor ich schwach nach hinten sinke, weil mir so schlecht ist. Plötzlich höre die besorgte Stimme von May aus der Küche. Doch beruhigen kann mich das in dem Moment kaum.
-"Delia! Was ist passiert?", ruft sie aufgebracht und ich nehme wahr, wie sie auf mich zu rennt. Langsam richte ich mich wieder auf und atme immer noch viel zu hektisch, während May sich an den Rand des Sofas etwa bei meinen Knien hinsetzt und die Lichterkette neben uns anschaltet. Ich sehe mich verwirrt im Raum um und schnappe immer noch unregelmäßig nach Luft, bis mich der Anblick von Mays wieder ein wenig beruhigt. Mit einem extrem besorgten Gesichtsausdruck sitzt sie mit einem sehr geringen Abstand vor mir und sieht mich durchdringend an. Ihre dunkelbraunen Augen strahlen pure Sorge um mich aus. Ich versuche, zu atmen, aber es ist mir nicht möglich. Mir ist bewusst, dass der Albtraum vorbei ist, aber Angst habe ich immer noch, obwohl May da ist. Augenblicklich spüre ich zwei warme Hände an meinen kalten Schultern und wenige Sekunden später höre ich Mays beruhigende Stimme.
-"Hey, bitte schau' mich an... Es ist alles gut", flüstert May beruhigend aber besorgt und ich merke, dass ich nur bei dem Blick in ihre dunklen Augen, die eine ungeheure Ruhe und Wärme ausstrahlen, fast wieder komplett zu mir komme.
-"Und bitte atme, Okay?". Ich versuche, zu nicken, lasse es aber direkt, weil mir davon wieder ein wenig schwindelig wird. Langsam versuche ich, meine Atmung zu normalisieren.
May redet weiterhin beruhigend auf mich ein. Meine Angst beruhigt sich immer mehr, ebenso wie das Gefühl davon, dass ich nicht atmen kann, aber es bilden sich Tränen in meinen Augen. Augenblicklich lässt May ihre Hände von meinen Schultern ab und sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. Mein Blick sieht zwischen Mays Augen und ihren leicht zitternden Lippen hin und her und auch, wenn sich meine Angst beruhigt hat und ich weiß, dass alles nur ein Albtraum war, bin ich rastlos. Meine Sicht wird verschwommen durch die Tränen und ich spüre ein salziges Gefühl in meinen Augen. Ich fühle mich schrecklich und einsam, obwohl May direkt vor mir sitzt. Und ich habe Angst ohne Ende.
Ohne viel nachzudenken, lasse ich mich in Mays Arme fallen und beginne, richtig zu weinen. May scheint kein bisschen überfordert von mir zu sein, sondern legt sofort ihre Arme um meinen Oberkörper und drückt mich an sich, während ich meinen Kopf in dem kuscheligen Stoff ihres gelben Pullovers vergrabe. Mit ihrer rechten Hand streicht May sanft und beruhigend in Kreisen über meinen Rücken und flüstert mir dabei leise zu.
-"Shhh, es ist alles gut", murmelt sie immer und immer wieder in die warme Umarmung hinein und streicht dabei weiter kontinuierlich mit ihrer rechten Hand über meinen oberen Rücken und mit ihrer linken Hand vorsichtig über meinen Kopf. Ich kralle mich weiterhin an Mays Pullover fest und lege meinen Kopf erschöpft vom Weinen auf ihrer Schulter ab. May hält mich weiterhin einfach nur fest.
-"Was ist denn passiert? Hast du schlecht geträumt?", fragt sie nach einiger Zeit sanft, ohne dass wir uns voneinander lösen und ich nicke langsam, während ich mich immer noch an Mays Oberkörper festhalte und auch sie mich weiterhin an sich drückt.
Meine Tränen sind schon fast getrocknet, als wir uns endgültig voneinander lösen, aber immer noch nahe beieinandersitzen. May sieht mich an und ich sehe sie an. Oder eher sehe ich in ihre dunkelbraunen Augen, die meine Angst von eben so unwirklich und unnötig, dennoch aber keinesfalls albern erscheinen lassen. Mays linke Hand ruht weiterhin an meinem rechten Oberarm und mit ihrem Daumen streicht sie in regelmäßigen Bewegungen über meine rechte Schulter, beruhigt mich dabei weiterhin.
-"Geht's dir jetzt besser?", flüstert sie und sieht mich mit einem fragendem Blick voller Besorgnis an. Ich nicke einmal stumpf, obwohl es nur zur Hälfte stimmt und antworte ihr dann nur flüsternd und mit ziemlich gebrochener und erschöpfter Stimme: "Ja schon, aber Angst habe ich immer noch...".
May scheint das sofort zu verstehen, denn dieses Mal ist sie es, die mich aktiv in den Arm nimmt und mich wortlos an sich drückt. Ich umschlinge ihren Oberkörper mit meinen Armen und halte mich allgemein mit einem wahrscheinlich ziemlich starken Griff ununterbrochen an May fest. Mein Kopf ruht wieder an ihrer Schulter und mit ihrer rechten Hand fährt sie in beruhigenden Bewegungen über meine Haare.
-"Das ist in Ordnung, wenn du Angst hast... Aber bei mir musst du keine Angst haben...", antwortet May und ich gehe stark davon aus, dass es der Wahrheit entspricht, aber ich kann nur wieder erschöpft von meiner panischen Reaktion und meinem Zusammenbruch nicken. Meine Atmung hat sich wieder beruhigt. Doch durch die Aufregung in meinem Albtraum, die Angst danach, meinen kleinen Zusammenbruch und dann noch der beruhigenden Nähe von May ist sowohl mein Herzschlag, als auch mein Adrenalinspiegel auf dem Höchststand.
Schließlich murmele ich nur noch in die Umarmung hinein: "Ich habe Angst, dass der Albtraum weitergeht, wenn ich jetzt wieder schlafen gehe... Das passiert nicht gerade selten". Ich seufze wegen der Erinnerungen an alle Situationen, die genau dem entsprachen. May nickt nur und hält mich weiterhin fest.
Als wir uns nach mehreren Minuten der Stille voneinander lösen, sieht May mich mit einem warmen und aufbauenden Lächeln an. Ich kann mir vorstellen, dass sie gerade alles daran setzen will, mich zu beruhigen. Aber sie bekommt es hin, ohne es überhaupt versuchen zu müssen. Denn der vertrauensvolle und einladende, warme Ausdruck in ihren Augen ist schon Beruhigung genug für mich. Aber auch ihre körperliche Nähe spüren zu können, beruhigt mich extrem. Einfach, dass sie in dem Moment existiert, hilft mir und gibt mir das Gefühl von Wärme und Sicherheit.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...