𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟑 - 𝐝𝐞𝐥𝐢𝐚

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Ich habe wirkliche Schwierigkeiten damit gehabt, mich aus Mays Umarmung zu lösen, mich unfreiwillig ihrer Wärme zu entziehen und mich zu distanzieren. Es hat mir wehgetan. Wirklich wehgetan.
Der Weg zurück zu der Hütte von meiner Mutter und mir fühlt sich endlos an und während hinter mir die Sonne untergeht und diese wie ein Maler die Bäume um mich herum orange färbt, wollen mir die Tränen kommen. Aber ich kann meiner Mutter nicht weinend unter die Augen treten, das geht einfach nicht. Alles an diesem Moment fühlt sich so schrecklich an, so schmerzhaft und jetzt schon nostalgisch. Die Zeit mit May und die Situationen, die teilweise nicht einmal 24 Stunden her sind, wirken, als wären sie schon lange her. Meine Beine fühlen sich schwach an und ich traue mich nicht, mich umzudrehen und auf den See zu sehen. Es würde so sehr wehtun, dass ich auf alle Fälle weinend zusammenbrechen würde. Und dann gäbe es noch mehr Erklärungsnot meiner Mutter gegenüber. Verzweifelt seufze ich und versuche mich vom Heulen abzuhalten, indem ich mir bewusst mache, was ich May versprochen habe. Wir werden uns morgen früh noch einmal sehen - ein letztes Mal, bevor wir voneinander getrennt werden. Diese Formulierung in meinen Gedanken macht es wieder nur noch schlimmer.
Nach einem gefühlt unendlichen Weg komme ich an. Meine Mutter hat bereits ein paar Sachen gepackt und in den Kofferraum unseres Autos verstaut. Ich habe hingegen noch nicht einmal mit dem Packen angefangen, was ganz klar daran liegen dürfte, dass ich es nicht wahrhaben will, dass die mit Abstand schönste Zeit meines Lebens nun schon vorbei ist. Ich will nicht, dass es vorbei ist.
-"Delia, gut, dass du auch mal da bist, pack bitte deinen Koffer... Wir fahren schon morgen früh um kurz nach acht... Dann musst du auch spätestens um sieben wach sein... Ich stehe schon um viertel nach sechs auf", begrüßt mich meine Mutter, als ich in das Haus komme. Ich weiß zwar nicht, wie ich in dem Moment aussehe, aber meine Gefühle scheinen wieder einmal vollkommen an ihr vorbeizugehen, weswegen ich mit einem unwahrscheinlich gekünstelten "Ja, mache ich..." antworte, bevor ich in meinem Zimmer verschwinde und die Tür schließe. Hinter dieser sinke ich dann zu Boden. Das hinunterrutschen am kratzigen Holz der Tür tat weh, aber in diesem Moment tut so einiges weh, also blende ich es vollkommen aus. Weinen kann ich nicht, denn meine Mutter würde sicherlich davon mitbekommen. Und ich schwöre mir in diesem Moment einfach selbst, May und mich selbst nicht zu enttäuschen und am frühen Morgen um 6:15 Uhr am Steg zu stehen, um mich zu verabschieden. Ich hoffe einfach nur so sehr, dass meine Mutter nichts davon mitbekommt, denn wie sie schon gesagt hat, will sie früh wach sein, ziemlich genau zur selben Uhrzeit, zu der ich mich mit May treffen will aufstehen. Es ist alles so verdammt schwer. Die Liebe ist so verdammt schwer, wobei es nicht einmal May oder ich bin, die einander im Weg stehen, sondern von meiner Seite aus hauptsächlich meine Mutter. Bei May kann ich es nicht einschätzen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sowohl ihr halbes Burnout vor den Ferien, als auch ihre scheinbar ziemlich große Angst vor der Angst ihrer Lebensfreude im Moment oft einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen.
-"Delia, mach bitte auf!", höre ich plötzlich meine Mutter hinter der Tür rufen und kurz darauf tritt sie einmal mit dem Fuß gegen das Holz, trifft damit, ohne dass sie es wahrscheinlich will, meinen Rücken. Ein schmerzvolles Geräusch kommt aus meinem Mund, bevor ich mich ein Stück von der Tür entferne und mich auf mein Bett setze. Meine Mutter kommt in das Zimmer gestolpert.
-"Warum sitzt du hinter der Tür? Willst du nicht, dass ich reinkomme? Delia, tust du irgendetwas Illegales?", platzt alles aus ihr heraus und sofort überfordert es mich. Es ist immer so unwahrscheinlich viel, was sie mir runterbetet, dass ich kaum darauf antworten kann.
"Ich...", beginne ich und nachdem meine Stimme durch das mühevolle Herunterschlucken meiner Tränen erstickt, ergreift meine Mutter wieder das Wort und geht einen Schritt auf mich zu, der sich in meinem Unterbewusstsein als Drohung einspeichert.
-"Nicht ich, ich, ich... Du sagst mir jetzt mal, was mit dir los ist, verdammt nochmal! Du bist so komisch in letzter Zeit, da läuft doch irgendwas!". Es ist eine lautstarke Feststellung, die meine Mutter dort tätigt. Ich kann nicht anders, als starr auf dem Bett zu sitzen, einen Punkt in den giftgrünen Augen meiner Mutter zu fokussieren, meine Tränen hinunterzuschlucken und das Ganze über mich ergehen zu lassen. Ich höre mir so einiges an. Was denn mit mir los wäre, ob ich irgendwelche Substanzen zu mir nehme, ob ich nun komplett gestört bin. Und dann hat sie noch drohend gefragt, ob ich vielleicht lieber zu meinem Vater, der zurzeit in der Nähe von Halifax lebt, ziehen will. Wenn ich ehrlich bin, dann wäre mir das sogar lieber, als die Situationen, die sich in letzter Zeit immer häufiger mit meiner Mutter ergeben. Das kann ich ihr aber keinesfalls sagen.
-"Muss ich dich zum Sprechen zwingen, oder was?", fragt sie jetzt schon deutlich ruhiger, aber immer noch mit einem wütenden Unterton in der Stimme und ich, die alles nur ertragen hat, kann nur stockend antworten.
"Ich... Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist... Es tut mir leid, Mutter...". Sie nickt und entfernt sich wieder ein Stückchen von mir, meint dann nur: "Wie ich schon gedacht habe... Immer ist mit dir etwas falsch...". Dann ist es still.
-"Und jetzt heul' nicht, sondern packe deinen Koffer, Delia". Damit lässt meine Mutter mich alleine und sie scheint damit beschäftigt zu sein, unsere Sachen in der Küche zusammenzupacken. Also ist sie weit entfernt genug, um mein leises wimmern zu überhören. Ich weine nicht wegen der Worte meiner Mutter, denn an diese bin ich schon längst gewöhnt. Eher ist es ein Überfluss an Ereignissen, zu viele Emotionen und zu viele so gegensätzliche Dinge an einem Tag. Ich bin heute Morgen in Mays Armen aufgewacht, war mit ihr spazieren und habe sie das erste Mal geküsst. Später, oder eher vor kaum einer Stunde, war ich wieder bei ihr und wir haben uns fast die ganze Zeit umarmt, ich lag in ihren Armen, habe mich an sie gekuschelt und das wunderschönste Gefühl auf der Welt gefühlt. Im Augenblick habe ich nichts mehr davon. Und ab dem nächsten Morgen, ab dem Moment, in dem ich den See und somit auch May hinter mir lasse, werde ich dieses unbeschreiblich schöne Gefühl dieser Liebe wahrscheinlich nie wieder komplett echt und menschlich fühlen.

Um kurz nach 22 Uhr liege ich in meinem Bett. Ich habe das leise Zirpen der Grillen nicht mehr ertragen können, denn das Geräusch war viel zu ruhig, nostalgisch und tat in meinem Herzen weh. Deswegen liege ich schon seit mindestens zehn Minuten mit Kopfhörern in den Ohren dort und höre mir irgendeinen Vortrag über Astronomie an. Man könnte mich jetzt für verrückt erklären, aber irgendwie hilft mir die gedankliche Flucht in die Welt der Galaxien und Sterne ganz gut dabei, mich einigermaßen zu beruhigen. Auch, wenn ich weiß, dass der nächste Tag mit jeder einzelnen Sekunde näherrückt und ich nichts machen kann, außer einfach nur dabei zuzusehen, wie er kommt.

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