𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟐 - 𝐦𝐚𝐲

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Ich kann mir nicht erklären, was mit mir los ist und warum ich auf einmal so offen und mutig bin, nicht nur mir selbst insgeheim meine Gefühle für Delia einzugestehen, sondern auch, mit ihr zu reden, als wäre uns beiden unsere gegenseitige Liebe schon lange klar. Aber vielleicht ist sie das auch und ich hatte bis jetzt nur immer zu viel Angst, denke ich mir. Denn wäre Delia nicht in mich verliebt, dann würde sie mich nicht so anschauen und außerdem gäbe es das Glitzern in ihren Augen und ihr ständiges Verlangen nach meiner körperlichen Nähe nicht. Obwohl ich mir eingestehen muss, dass letzteres gegenseitig ist. Nicht in einer Art und Weise, in der ich sie unbedingt an den unterschiedlichsten Stellen anfassen will. Eher in einer, in der ich es genieße, ihren Körper an meinem zu spüren und ihr durch sanfte Berührungen zu zeigen, dass ich da bin. Und mit ihr in meiner unmittelbaren Nähe fühle ich mich vor allem nachts kaum noch so einsam, wie vorher und daraus, wie gut sie geschlafen hat und wie glücklich sie nun ist, kann ich deuten, dass es ihr ähnlich gehen dürfte. Ich muss lächeln.
Ein Blick in den Badezimmerspiegel verrät mir, dass ich ziemlich müde bin, denn unter meinen dunkelbraunen Augen sind definitiv Schatten zu sehen, aber trotzdem muss ich ebenfalls feststellen, wie glücklich ich aussehe. So habe ich mich lange nicht mehr gesehen, vor allem in den letzten Monaten nicht.
Nachdem ich schnell meine langen dunkelbraunen Haare gekämmt habe, ziehe ich mir einen korallroten Kapuzenpullover und eine helle Jeanshose an. Ich gehe davon aus, dass es jetzt, um halb sieben morgens noch ziemlich kühl sein dürfte. Auch aus diesem Grund bringe ich Delia eines meiner übergroßen Sweatshirts mit. Eines mit pastellfarbenen Formen in pink, grün und blau auf einem weißen Untergrund. Ich weiß zwar nicht, ob sie jetzt auch noch freiwillig meine Kleidung tragen wird, aber da ich ganz genau weiß, wie warm dieser Pullover einen einerseits halten kann, wenn es kalt wird und wie akzeptabel er andererseits auch in der Sommerhitze zu tragen ist, gehe ich davon aus, dass Delia ihn überziehen wird. Auch ohne, dass ich ihr vorher alles erläutern muss. Ich stelle fest, dass ich mir wahrscheinlich viel zu viele Gedanken darum mache, was andere machen könnten. Und nicht darum, was in dem Moment, in dem ich den Gedanken habe, wirklich ist.
Schließlich verlasse ich das Badezimmer und gehe hinaus auf die Terrasse, auf welcher Delia in ihrem grauen T-Shirt und ihrer langen, weiten Jeanshose auf einem der Holzstühle sitzt. Auf dem, der früher meinem Vater gehörte, um genau zu sein. Wieder muss ich an die unnötigen, endlosen Streits zwischen meiner Schwester und mir denken, wer von uns denn auch mal auf dem Stuhl sitzen darf. Früher gab es immer einen riesigen Zickenkrieg darum, während es sowohl Mama als auch Papa ziemlich egal gewesen ist. Heute betrachte ich den alten Holzstuhl einfach als ein Möbelstück, welches meinem Vater gehörte.
Zurück in der Realität bemerke ich, dass Delia ein wenig zittert und sie allgemein aussieht, als würde ihr ziemlich kalt sein. Sofort gebe ich ihr lächelnd den bunten Pullover.
"Zieh' dir den bitte über... Sonst ist es so kalt, weißt du?...". Ich hoffe, nicht so zu klingen, als würde ich sie drängen, denn kurz zögert sie, wobei ich die Luft anhalte. Dann jedoch nimmt sie das farbenfrohe Kleidungsstück an sich. Kaum zehn Sekunden später zieht sie es sich wortlos über, muss dann aber lächeln, als sie wieder zu mir sieht. Es überkommen mich wieder warme und wohlige Gefühle und mein Gehirn tätigt sofort die Feststellung, dass Delia in dem übergroßen Sweater mit den pastellfarbenen Formen ziemlich niedlich aussieht.
-"Danke...", flüstert sie schließlich immer noch lächelnd, als sie aufsteht und so nah an mir vorbeigeht, dass ihre Hand kurz meinen Unterarm streicht und ich feststelle, dass Delia aufgrund dessen, dass sie meinen Pullover trägt, nun mehr oder weniger nach meinem Parfüm, einem sommerlich-salzigen Duft riecht. Für die Verarbeitung ihrer Berührung hätte ich normalerweise gute zehn Sekunden gebraucht, aber so lange bleibt mir in dem Moment keine Zeit. Denn schließlich hat Delia ziemlich viel Druck, was die Zeit angeht und den Morgenspaziergang mit dem meistens wunderschönen Sonnenaufgang soll nicht auf sich warten lassen. Ebenso wie mein etwas provozierender Vorschlag, welchen ich vor nicht einmal einer halben Stunde ausgesprochen habe. "Aber unsere Umarmung können wir bei dem Spaziergang gerne wiederholen...". Das habe ich völlig ernst und ruhig gesagt, als Delia an mich gekuschelt in meinen Armen lag und wir beide irgendwie von der anderen wussten, dass es ein wenig wehtun wird, diese herzliche Umarmung verlassen zu müssen. Wie gerne würde ich Delia nochmal fest in meinen Arm nehmen, wie ich es am späten Abend nach ihrem Albtraum und danach, als sie dann in meinem Zimmer war, schon getan habe.
Schließlich setzen wir uns in Bewegung und gehen den kleinen Weg entlang, der an meinem Haus vorbei in den kleinen Wald führt, in den ich schauen kann, wenn ich aus den Fenstern meines Badezimmers und meines kleinen Arbeitszimmers sehe. Bis jetzt haben Delia und ich nicht gesprochen, seitdem wir losgegangen sind und so sehr ich die Stille manchmal auch mag, habe ich immer die grundlose Angst, dass ich Delia nicht mehr neben mir geht, ich sie verloren habe. Alle paar Sekunden sehe ich zu der jungen Frau, die links neben mir geht. Und immer, wenn ich das tue, sieht sie mich auch an und ihr Blick scheint jedes Mal in meinen Augen zu versinken, wie es meiner auch in ihren tut. Vielleicht kommt es mir in der rosaroten Morgendämmerung im Wald nur so vor, aber Delias blaugrüne Augen haben meiner Meinung nach eine ganz neue Stufe von Wärme erreicht. Das Blau wirkt nicht eiskalt, das hat es aber auch noch nie so wirklich getan, sondern spiegelt die leichten Sonnenstrahlen in einem lila Ton wider. Die grünen Akzente wirken ebenfalls warm und erinnern mich an die Blätter der Bäume um uns herum. Schließlich bleiben wir mitten auf einer kleinen Lichtung stehen. Mein Blick hängt dabei immer noch an Delias Augen fest, wandert aber immer mal wieder hinab zu ihren rosafarbenen Lippen und noch weiter runter zu meinem Pullover, welchen die junge Frau gerade trägt. Sie sieht in diesem Moment so unglaublich hübsch und beinahe schon verzaubert aus, denke ich und merke erst im nächsten Augenblick, wie komisch das klingen muss. Aber es entspricht der Wahrheit, denn alles wirkt in diesem Moment, in dem die Sonne aufgeht, so unrealistisch und wie ein wunderschöner Traum, aus dem man nicht erwachen will. Dadurch, dass Delia aber im nächsten Moment meine Hand in ihre nimmt, merke ich, dass es sich hier nicht um einen Traum handelt, sondern um die Realität. Das macht es hundertmal schöner. Ich sehe der jungen Frau mit den rotblonden Haaren, die im Licht der aufgehenden Sonne orange leuchten, wieder in die Augen. Diese wirken immer noch so wunderschön, liebevoll und voller Wärme. Und so, als würde sie mich mit ihrem Blick dazu einladen wollen, ihr noch näherzukommen. Meine Angst, dies falsch zu deuten ist aber immer noch präsent, denn ich weiß zwar, dass Delia meine körperliche Nähe in Form von Umarmungen zulässt, durch sie zur Ruhe kommt, aber ob ich weiter gehen dürfte, weiß ich nicht. Ihre weichen, rosafarbenen Lippen wirken schon seit dem gestrigen Abend einladend, aber ich entscheide für mich selbst, dass dieser Schritt von Delia kommen sollte und nicht von mir. Denn ich fühle mich aus irgendeinem Grund schon aufdringlich genug. Das veranlasst mich dann auch mit einem stechenden Gefühl in meinem Herzen dazu, ihre weichen Hände wieder loszulassen und mich auf etwa einen Meter von Delia zu entfernen.
-"May... Ich weiß, was du denkst...", flüstert Delia und sofort fühle ich mich irgendwie ertappt. Dabei wird sie wohl kaum meine Gedanken gelesen haben. Ich habe plötzlich das schreckliche Gefühl, ihr nicht mehr in die Augen sehen zu können, obwohl ich mir in dem Moment nichts sehnlicher wünsche, als wieder ganz nahe bei ihr zu sein. Wenigstens meinen Vorschlag vom frühen Morgen, als wir aufgewacht sind, könnte ich doch umsetzen, gebe ich mir selbst ein wenig Hoffnung. Denn die Art und Weise, wie ich Delia die ganze Nacht über in meinen Armen gehalten habe und sie sich auch an mir festgekrallt hat, als würde sie meine Nähe bloß nicht missen wollen, hat mir irgendwie gutgetan.
-"May?", spricht Delia mich wieder an und schließlich bekomme ich es wieder hin, ihr in die Augen zu sehen.
"Wir können ja jetzt meinen Vorschlag von heute Morgen umsetzen...", kommt einfach ohne einen wirklichen Zusammenhang zu Delias vorheriger Aussage aus meinem Mund und ich nähere mich der jungen Frau wieder. Sie nickt und lächelt ganz kurz. Da sie ein wenig kleiner ist, als ich, muss sie ihren Kopf anheben, um mir in die Augen zu sehen und ich stelle erst in diesem Augenblick fest, wie unwahrscheinlich süß das aussieht. Ich muss lächeln und als würde es automatisch passieren, lege ich meine Hände auf Delias Schultern und starre ihr weiterhin in die Augen. Ich kann in ihrem Blick auf einmal einen unfassbaren Drang danach erkennen, mich wieder ganz nahe bei sich zu haben. Ich schließe ihren dünnen Körper in meine Arme und wieder hält sie sich ganz stark an mir fest und vergräbt ihren Kopf in meinem Pullover. Ich atme tief durch und lege meinen Kopf auf ihren, habe dadurch das Gefühl, ihr noch näher zu sein. Doch schon nach knapp einer Minute löst sie sich von mir und sieht erst auf meine Lippen und dann in meine Augen.
-"Ich habe etwas noch viel Besseres vor...", sagt sie einfach nur.

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