𝐤𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟐 - 𝐦𝐚𝐲

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(May)

"Ich bin oder eher war Lehrerin... Geographie und Englisch...". Während meiner Aussage sehe ich Delia ununterbrochen an. Würde ich nicht tief in ihren grünblauen Augen versinken, würde ich vermutlich schon in Tränen ausgebrochen sein. Und ich weiß nicht einmal, warum ich schon wieder kurz davor bin, zu heulen. Mir ist zwar klar, dass der Fakt, dass es so ist, eines der Symptome meiner Überarbeitung, meiner Überforderung, meines Burnouts sein kann, aber trotzdem wundert mich meine plötzliche Sentimentalität. Delia starrt mich immer noch an und ich kann in ihrem Blick erkennen, dass sie sich ernsthafte Sorgen zu machen scheint. Dabei will ich doch gar nicht, dass sie sich Sorgen macht, vor allem nicht meinetwegen.
Mühevoll reiße ich mich zusammen und schließe meinen Satz einfach nur, in dem ich möglichst trocken sage: "Tja, aber Burnout ist unter Lehrkräften ja leider ein weit verbreitetes Phänomen... Und ich bin, warum auch immer, anscheinend ziemlich anfällig dafür". Danach sehe ich wieder einen Moment lang weg. Denn plötzlich habe ich das Gefühl, Delia nicht weiter ansehen zu können, nachdem ich diesen Satz ausgesprochen habe. Und ich weiß nicht einmal, was so schlimm daran ist. Mir ist aber klar, dass ich dadurch, dass ich es ausgesprochen habe, nun gestanden habe, dass ich mehr oder weniger 'krank' bin und noch dazu ziemlich anfällig dafür bin. In dem Moment beruhigt mich nur die Überlegung, dass Delia es gut auffasst und mich nicht verurteilt. Aber so, wie ich sie bis jetzt erlebt habe, schätze ich sie nicht so ein, als würde sie mich verurteilen und das beruhigt mich ziemlich. Ich traue mich, wieder zu der jungen Frau mit den rotblonden Haaren zu sehen. Ihr besorgter und mitfühlender Blick gilt immer noch mir und insbesondere sieht sie mir dabei in die Augen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich bei ihrem tiefen Blick, mit dem sie beinahe in meine Seele starrt, nichts spüre. Und gleichzeitig frage ich mich, was sie sehen würde, würde sie in meine Seele starren. Wäre es dort dunkel? Würde alles lichterloh brennen oder vielleicht auch schon alles verbrannt sein, wie es 'burn out' wortwörtlich darstellen würde? Oder wäre dort gar nichts mehr? Oder vielleicht auch ganz viel?
-"May... Das tut mir so leid...", flüstert Delia leise und sieht mich dabei immer noch ununterbrochen tief an. Auch, wenn ihre geflüsterten Worte wieder diese Wärme in mir auslösen, will ich alles, aber nur nicht, dass Delia sich Sorgen um mich macht und sich für etwas entschuldigt, womit sie nichts zu tun hat. Ich kann nicht anders, als mich ein zweites Mal zu einem beruhigenden Lächeln zu zwingen. "Delia, das ist okay...", sage ich ihr und dieses Mal kann ich eine etwas lautere Stimmlage, aber auch mein definitiv falsches Lachen nicht unterdrücken. Ich will nicht, dass Delia sich Sorgen macht und die ganze Zeit ihr Mitleid ausspricht. Und zwar nicht, weil ich es nicht mag, wenn jemand das tut, sondern einfach nur, weil ich weiß, dass so das Problem erst anfängt. Wie oft habe ich bitte in den letzten Jahren bei allen möglichen Menschen mit allen möglichen Problemen gesagt, wie leid es mir tut und dadurch dann mit diesen Personen zusammen gelitten? Oft, zu oft, als es mir eigentlich erlaubt ist. Und das will ich Delia ersparen, obwohl ich nicht einmal weiß, ob sie ebenfalls so mitfühlend ist, so emotional und selber so dünnhäutig, aber immer meint, jede verlorene Seele retten zu können. Auf alles davon trifft sie definitiv nicht zu, aber ein oder zwei Punkte davon vertritt sie sicherlich auch. Sonst würde sie wohl kaum mit mir an diesem See sitzen und bei jeder meiner Äußerungen zu unschönen Themen ihr Mitleid ausdrücken. "Delia... Ich weiß auch nicht...", bekomme ich irgendwie keinen vernünftigen Satz mehr auf die Reihe, nachdem ich Delia eben deutlich und trotzdem mit einem falschen Lachen klargemacht habe, dass es okay ist. Und im Stillen habe ich auch mehr oder weniger gesagt, dass sie sich keine Sorgen um mich machen soll. Aber dass sie dies aus der Botschaft raushören konnte, bezweifle ich immer mehr und mehr. Und dass Delia nach meiner gestammelten Aussage direkt nachhaken muss, hätte ich mir eigentlich schon denken können.
"Was denn?...", flüstert sie ruhig und sieht mir dabei wieder direkt in die Augen. So tief, dass sie wohl die weitesten Tiefen meines Unterbewusstseins und meiner Gedankengänge sehen muss. Ob ich will, dass diese von jemandem gesehen werden, weiß ich auch nicht. Aber der Blick von Delia, der scheinbar wirklich nur meinen Augen gilt, ist wie festgenagelt. Für fast eine Minute blinzelt sie nicht einmal. Und ich starre zurück, ohne Worte. Dafür aber wieder mit einem warmen Gefühl in meinem ganzen Körper, insbesondere in meinem Oberkörper und irgendwie spüre ich auch ein Glühen in meinem Gesicht. Wenn ich jetzt rot werde, dann ist das echt eine seltsame Situation, denke ich für mich selber und sehe Delia dabei immer noch an. Ihre grünblauen Augen wirken für mich wie die Farbe des Meeres, so tief und schön sind diese. Und ich merke erst in dem Moment, wie verdammt verliebt meine Gedanken eigentlich klingen. Und das, obwohl ich es mir nicht erlauben könnte, mich einfach so zu verlieben. Vor allem in eine junge Person, die an ihrem eigenen Leben Spaß hat und lächelnd durch die Welt geht. Ich habe die Angst, das alles verderben zu können, dadurch, wie ich bin. Außerdem muss ich erstmal mit mir selber klarkommen. Und bis dieses Problem gelöst ist, werden noch so einige Wochen bis Monate vergehen. Ich entscheide mich dazu, das Thema zu wechseln, denn ich weiß selber, dass ich einen Dialog dieser Art nicht mehr lange führen könnte, ohne emotional zu werden. Insbesondere bei Delia, denn wie ich bemerkt habe, löst die junge Frau, die mich in dem Moment wieder so tief und durchdringend ansieht, bei mir nicht nur körperliche Äußerungen aus, sondern auch hochemotional. Irgendwas macht Delia mit meinen Emotionen und obwohl das eigentlich etwas Positives ist, habe ich trotzdem Angst, jede Sekunde in Tränen ausbrechen zu können. Denn unwahrscheinlich ist es immerhin nicht. Schließlich entscheide ich mich dazu, das Thema zu wechseln, denn auch, wenn ein plötzlicher Themenumschwung mehr als nur offensichtlich ist, kann ich nicht weiter darüber reden, wie schlecht es mir eigentlich geht. "Und, wie geht es dir so?", frage ich Delia mit einem möglichst souveränen Lächeln und kurz kann ich die Verwirrung in Delias Augen sehen, doch nach einigen Sekunden scheint sie zu verstehen. So denke ich es immerhin. Ich kann erkennen, dass sie es durchschaut, dass ich nur schlecht über meine emotionale Ebene sprechen kann, aber ich bin zumindest für einen kurzen Moment froh darüber, dass sie trotzdem auf meinen Themenwechsel eingeht.
-"Mir geht's... Ganz okay", erklärt Delia mit einem vorsichtigen Lächeln, aber auch ich erkenne bei ihr, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagt. Ihre Worte klingen immerhin zögernd und während des Satzes hat sie die meiste Zeit an mir vorbeigeschaut. Wieder kann ich mich nicht davon abhalten, dies anzusprechen und wieder mache ich es auf die Art und Weise wie vor etwa zehn Minuten schon, als Delia sich mit hierher gesetzt hat. "Wirklich 'Ganz Okay' oder 'Ich möchte nicht darüber reden Okay'?", hake ich möglichst vorsichtig nach, eben weil ich merke, dass Delias Stimme bei ihrer Aussage eben nicht besonders viel Wahrheit in sich getragen hat. Wieder sieht Delia mich an und ihr Lächeln verschwindet langsam. Dafür ist dieser tiefe Blick in meine Augen wieder da und ich spüre wieder diese Hitze, die das beinahe Starren aus den grünblauen Augen auf meinem ganzen Körper verteilt.
-"Um ehrlich zu sein... Eher das 'Ich möchte nicht darüber reden, Okay'...", meint Delia leise und wendet dann ihren Blick von mir ab. Sie lässt ein tiefes Seufzen los und sieht nachdenklich auf den See. Zwei Sachen, die etwa gleich viel in meinem Herzen wehtun. Und ich weiß nicht einmal, warum das so ist. Schließlich ist es doch normal, über etwas nicht reden zu wollen. Und noch dazu bin ich doch selber so - denn ich bin es gewesen, die eben das Thema gewechselt hat, als Delia und ich über mein Burnout gesprochen haben.

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