Eine halbe Stunde später sitzen wir auf einer alten Holzbank am Ende des Waldweges, welcher auf einem kleinen Hügel endet, hinter welchem sich nur noch eine endlose Wiese bietet und sehen wortlos den Sonnenaufgang an. Die ganze Zeit über schon halte ich meine Hand mit der von May verschränkt und das ganze gibt mir wirklich ein Gefühl davon, als wären wir zusammen und würden uns schon seit Ewigkeiten kennen und lieben. Dabei hält unsere Bekanntschaft gerade einmal knapp vier Tage, die offensichtliche Erkenntnis, dass wir einander ziemlich viel bedeuten allerhöchstens zwanzig Stunden lang an. Trotzdem fühlt es sich so an, als würde ich May schon jahrelang kennen und als hätten wir schon so viele Phasen des Lebens zusammen durchlebt. Dabei kennen wir uns genau genommen kaum. Dieser Gedanke versetzt mir einen so gewaltigen Stich ins Herz, dass ich kurz zusammenzucke, einen schmerzverzerrten Blick mache und meine Hand erschrocken auf dem schmerzenden Punkt ablege. Sofort starrt May mich besorgt an.
-"Ist alles gut?" Tut dir irgendetwas weh?". Ihre Stimme ist kaum noch so ruhig und sanft, wie bis jetzt den ganzen Morgen über, sondern laut und ernst, aber auch ziemlich besorgt um mich. Ich nicke.
"Es ist alles in Ordnung... Das sind nur die Gedanken, die mir manchmal wehtun...", antworte ich und spüre, wie May, die links neben mir sitzt, ihren rechten Arm beruhigend um meine Schultern legt, während sie ihre linke Hand vorsichtig auf meiner platziert, die immer noch auf meinem Herzen liegt.
-"Ist wirklich alles gut?", hakt May nochmal prüfend und ehrlich voller Sorge nach und trotz des kurzen Schmerzes muss ich lächeln.
"Ja... Wirklich...". Langsam löst sie ihre Hand von meiner und auch ich senke meine Hand wieder, will dabei nicht daran denken, wie sehr der eigentlich eher gedankliche Schmerz wehgetan hat. Mays Arm liegt immer noch um meine Schultern und ich realisiere, wie ich mich langsam an die Berührungen und die generelle Anwesenheit der braunhaarigen Frau gewöhne. Und dass es mir fast selbstverständlich vorkommt, wie nah sie mir schon seit dem letzten Abend immer wieder kommt. Ich liebe ihre Nähe und habe das Gefühl, diese auch gut gebrauchen zu können. Doch ebenso denke ich auch manchmal daran, wie es May geht und an die Dinge, die sie mir die letzten Tage über immer mal wieder von sich offenbart hat. Beispielsweise, dass sie kurz vor einem Burnout stand, es ihr schon mehrmals schlecht ging und sie meine Gefühle gut nachvollziehen kann. Mir ist zwar klar, dass sie um einiges älter und größer ist, als ich und nicht nur dadurch so wirken muss, als wäre sie diejenige, die mich beschützt und für mich da ist. Aber in mir kommt trotzdem eine Frage danach auf, ob ich auch gut genug für sie da sein könnte. Ich wünsche mir in dem Moment einfach nur viel zu sehr, ihr das, was sie mir an Wärme und Liebe gegeben und gezeigt hat, tausendmal zurückzugeben. Aber wie? Denn ich würde sie nur viel zu gerne in die Arme nehmen und mich ebenso liebevoll um sie kümmern und ihr helfen, wie sie es bei mir tut. Doch meine Angst, das nicht zu schaffen oder dadurch ein verwirrendes Gefühl zwischen uns auszulösen, ist trotzdem präsent.
-"Weißt du was?", beginnt May plötzlich und legt ihren rechten Arm bewusster um meine Schultern. "So oft ist es praktisch und nützlich, über alles nachzudenken und alle möglichen Szenarien durchzuspielen... Aber manchmal hasse ich es auch einfach, mir so viele Gedanken zu machen...". Ich nicke. Schließlich kann ich das, von dem May eben gesprochen hat, nur viel zu gut nachvollziehen.
"Das geht mir manchmal auch so... Einerseits gibt es die schlauen Überlegungen und die wichtigen Sachen, die man sich merken muss... Aber dann gibt es da auch noch die schrecklichen Gedanken, die einem die Freude und die Energie rauben...". Während ich das sage klingt meine Stimme monoton und emotionslos und ich starre auf das große Feld vor uns, über dessen Horizont bereits die Sonne steht und uns sanft ins Gesicht scheint.
-"Ach Delia.... Das weiß ich doch...", murmelt May einfach nur und umschließt mit den Fingern ihrer rechten Hand nun ganz bewusst und etwas fester meine rechte Schulter.
"Woher?", versuche ich mit nicht allzu fordernder Stimme zu fragen. May lächelt.
-"Ich habe es in deinen Augen gesehen... Als du heute Nacht geweint hast...", flüstert sie und ihre Stimme klingt dabei so unwahrscheinlich sanft und liebevoll. Wirklich unwillkürlich kralle ich mich am Ende ihres Satzes mit meiner linken Hand an ihrem Knie fest. Für May muss es sich sicherlich so anfühlen, als hätte ich die ganz kurze Angst, sie verlieren zu können, wenn ich sie nicht anfasse. Aber vielleicht ist es auch so - nicht, dass ich sie verlieren würde, wenn ich keinen stetigen Körperkontakt mit ihr habe, sondern dass die Angst in mir, schon bald nicht mehr bei ihr zu sein, rapide wächst. Immerhin ist die Abreise für den morgigen Mittag angedacht, bemerke ich und wieder einmal sticht es ein wenig in meinem Herzen. Mir ist zwar klar, dass es jetzt nicht mehr seltsam wäre, May nach ihrer Handynummer zu fragen und somit den Kontakt mit ihr halten zu können. Aber dennoch wären ein paar Textnachrichten und alle paar Wochen auch mal ein Telefonat kein Ersatz für die Gefühle, die in den letzten Tagen nicht nur mich ereilt haben. Ohne, dass es einen wirklichen Auslöser dafür gibt, muss ich an den Kuss zwischen May und mir denken, der vor nicht einmal einer halben Stunde gefallen ist. Es hat sich so wunderschön angefühlt; ihre zarten, weichen Lippen auf meinen. Ich habe gespürt, dass May es auch genossen hat, dass sie das Gefühl ebenfalls schön fand und auch ein wenig, dass sie mehr wollte, wenn auch nicht viel. Ich weiß nicht, ob es dieser Gedanke ist, der mir in dem Moment den Rest gibt, aber kurzerhand drehe ich meinen Kopf zu May und sehe ihr ins Gesicht. Ihre dunkelbraunen Augen wirken wieder einmal so wunderschön tief und das orangefarbene Sonnenlicht wird in ihnen gespiegelt. Ich könnte ihr Ewigkeiten in ihr perfektes, schönes Gesicht und ihre warmen Augen schauen. Im nächsten Moment aber schließe ich meine Augen, merke, wie mein Herz nun über mein Tun herrscht und mich in einen weiteren sanften Kuss mit May hinein steuert. Ich lege meinen rechten Arm ebenfalls um ihre Schultern, als sie ihre linke Hand an meinem Hals platziert und unsere Lippen immer wieder vorsichtig aufeinandertreffen. Noch nichts in meinem Leben hat sich jemals so vorsichtig und sanft angefühlt. Denn bis jetzt hat es immer nur die Gefühlskälte meines Vaters, welcher trotzdem eine wichtige Person für mich war und immer noch ist und die Ruppigkeit und Härte meiner Mutter gegeben. Andere Menschen habe ich eher wenige und wenn, dann sind sie wie meine Oma in Nordkanada beispielsweise weit von mir entfernt. Außerdem sind diese Familie oder einfach Menschen, mit denen ich mich gut verstehe und nicht so etwas, wie May es ist. Und jetzt bin ich hier mit ihr, mit der wunderschönsten und liebevollsten Frau, die ich jemals kennenlernen durfte und sie zeigt mir, wie sanft und zaghaft sich etwas anfühlen kann. Und es ist ein wahnsinnig tolles Gefühl, welches wir uns in diesem Augenblick gegenseitig geben. Es ist das Gefühl von Liebe.
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Fading
Teen Fiction🧡🌈🌱 Delia ist siebzehn Jahre alt und fährt in den Sommerferien gemeinsam mit ihrer Mutter, einer strengen, eher gefühlskalten Person in den Urlaub an einen See. Dass Delia dort jedoch auf eine Person trifft, deren Herzenswärme und Geborgenheit si...