Winter
»Nein!« Der Schrei, so unmenschlich und klingend wie ein verletztes Tier, löste sich einfach aus meiner Kehle. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen, während ich zusah wie Lians Blut den Boden tränkte und sein Gesicht immer blasser wurde.
Ich machte einen Schritt vor, wollte in seinen letzten Momenten in dieser Welt bei ihm sein. Mir geisterte der Satz, den er angefangen aber nicht beenden konnte, durch den Kopf. Und irgendwie wusste ich die Worte, die er hatte sagen wollen, aber es nicht geschafft hatte. Ich liebe dich. Und das machte alles nur noch schlimmer.
Ich trat noch einen Schritt auf Lian zu. Mir war egal, dass ich den Höllenkönigen den Rücken zukehrte und ich die nächste mit einer Waffe durch den Bauch sein könnte. Mir war egal, dass um uns herum noch immer ein Krieg tobte. Mir war einfach alles egal bis auf den Dunklen der dort auf dem Boden lag und langsam sein Leben aushauchte. Und doch... konnte ich einfach nicht die letzten Schritte zwischen uns überbrücken.
Eine andere Gestalt eilte zu Lian, ließ sich neben ihm zu Boden sinken ungeachtet der Tatsache, dass sich ihr Gewand voll mit Blut sog. Gwen strich dem dunklen Kronprinzen die schwarzen Haare aus dem Gesicht und betrachtete ihn prüfend. Dann ließ sie ihre Hände über seine Brust und seinen Bauch wandern, bis sie schließlich bei der Harpune ankam, die noch immer in seinem Körper steckte.
Sie sog scharf die Luft ein, dann straffte sie die Schultern und hob den Kopf. Ihre tiefblauen Augen fanden mich, die ich bewegungslos danebenstand. »Geh! Ich kümmere mich um Lian! Aber du hast eine andere Aufgabe! Geh!« Ihr Tonfall war eindringlich und ließ keinen Platz für Widerworte.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich drehte mich um. Gelbe Augen blickten mich besorgt an. »Gwen ist eine mächtige Helle und eine noch mächtigere Heilerin. Sie wird es schaffen. Du kannst nichts für ihn tun, außer den Krieg und das Ende der Welt zu verhindern. Jeder kann andere Sachen gut – du musst dich darauf besinnen, was deine Stärken sind.«
Die Elysienklinge in meiner Tasche schien wieder förmlich zu brennen, doch nicht so stark wie mein Rachedurst, der wieder aufflammte. Satanus. Satanus war an allem Schuld! Die anderen beiden zogen nur mit, doch Satanus war das wahre Übel! Es wäre besser ich würde einen Strich ziehen und ihn einfach komplett mit der Dämonenklinge auslöschen...
Satanus, Belial und Leviathan erwarteten uns schon. Der Höllenkönig des Feuers grinste breit und spöttisch. »Was für eine süße und wunderschön tragische Liebesgeschichte! Liebe war schon immer der Schwachpunkt von euch menschlichen Wesen.«, schnaubte der Höllenkönig abfällig.
Sein Blick wanderte zu Belial. »Liebe macht euch blind. Liebe bringt euch dazu Risiken einzugehen und alles in Schutt und Asche legen zu wollen. Liebe ist der Hauptgrund dafür, dass diese dämlichen Sterblichen auf die Idee gekommen sind das uralte Ritual der Höllenkönige durchzuführen und dadurch ihre Welt den Untergang preisgegeben haben.«
Ich antwortete nicht, sondern stürzte vor und zielte mit der Dämonenklinge auf Satanus' Herz. Ein roter Schleier schien über meinen Augen zu legen, während ich nur noch ein Ziel hatte: Satanus endgültig auszulöschen für all das Leid, das er angerichtet hatte! Satanus hatte damit offenbar überhaupt nicht gerechnet, denn seine Augen weiteten sich überrascht und er machte keine Anstalten auszuweichen. Endlich.
Ein Schemen tauchte am Rande meines Blickfeldes auf und sprang schnell zwischen meine Klinge und den Höllenkönig des Feuers. Zielsicher bohrte sich meine Dämonenklinge in die Brust von Belial... von Neo, meinem ehemaligen Meister.
Ich schrie vor Überraschung und Entsetzen auf, als mein Blick die Augen des Höllenkönigs traf. Denn die Augen waren nicht echsenartig, sie waren eisblau. Neo hatte sich zwischen meine Klinge und Satanus geworfen, nicht Belial.
»Das... bist nicht... du...«, keuchte mein ehemaliger Meister.
Meine Hand umklammerte noch immer den Griff des Schwertes, dessen Spitze in Neos Brust steckte. »Neo...?«, wimmerte ich.
Mein Meister verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Du bist keine... Mörderin, Alena. So... habe ich dich nicht... ausgebildet... Lass dich nicht... von deiner Wut... blenden... Sei... besser... Menschen machen... Fehler... Lass nicht meinen Bruder... für die Taten Satanus... büßen...«, brachte er mit immer schwächer werdender Stimme hervor.
Er sank zu Boden, während rotes Blut aus der Wunde an seiner Brust tropfte. Ja, rotes Blut, nicht das purpurrote der Dämonen. Und erst jetzt fiel mir auf, dass nicht nur seine Augen wieder ihre normale Farbe hatten, sondern auch die Schuppen und die gespaltene Schlangenzunge und alles weitere ebenfalls verschwunden war. Der Höllenkönig der Erde hatte den Körper meines Meisters in seinen letzten Momenten verlassen.
»Neo... Wieso?« Wieder liefen mir Tränen über die Wangen, diesmal in stummer Verzweiflung. So viel wie an diesem Tag hatte ich gefühlt mein gesamtes Leben noch nie geweint. Und ich lebte immerhin schon mein drittes Leben.
»Um dich... zu retten... Deine... Menschlichkeit zu... bewahren... Es ging mir... immer nur darum... dich zu retten... Alena...« Neo holte tief und rasselnd Atem während aus seinem Mund ein dünnes Rinnsal Blut lief. »Ich... habe... viele... Fehler... gemacht... Aus Liebe... zu meinem Bruder... war ich... blind... Aus Liebeskummer zu einer... Hellen... war ich voller Rachedurst... Aber Alena... du warst kein Fehler... und darauf bin ich... so stolz... Auf dich...«
Neo lächelte und schloss die Augen. Fast unhörbar hauchte er drei Wörter, die mir so viele Rätsel aufgegeben hatten und mir doch nach und nach gezeigt hatten, welcher Kern in meinem Meister steckte. »Enttäusche mich nicht.«
Es waren die gleichen Worte, die ich damals auf dem Zettel in dem Herrenhaus gefunden hatte zusammen mit der Schriftrolle, die das Ritual beschrieb. Neo hatte immer gewollt, dass ich gewann – aber aus Liebe zu seinem Bruder hatte er es nicht geschafft, sich gegen ihn zustellen. Er hatte versucht das Beste aus allem zu machen und hatte schließlich sogar sein Leben gegeben um seinen Bruder zu schützen und mich daran zu hindern ihn zu töten.
Ich sah zu wie der letzte Funken Leben aus Neo wich und wie seine Seele aufhörte zu existieren – ausgelöscht durch meine Dämonenklinge. Mir glitt die Klinge aus der Hand und mit einem hellen Geräusch fiel sie neben Neos Leiche zu Boden.
Satanus blickte mit völliger Emotionslosigkeit auf den Körper. »Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Belial war schon immer der schwächste von uns.«, meinte er gleichgültig. Der Blick von Satanus richtete sich auf mich und er grinste bösartig. »Für den Rest von euch genügen wir zwei.«
Leviathan trat mit eifriger Miene vor, in ihrer Hand erschien eine erneute Harpune, während der Himmel über uns plötzlich seine Schleusen öffnete. »Überlass das mir! Ich schaffe es, die dunkle Unsterbliche zu vernichten!«
Satanus nickte knapp und Leviathan stürzte auf mich zu. Ich griff fluchend nach der Dämonenklinge, doch eine Flutwelle riss mich von den Beinen und weg von meiner Waffe. Wasser schlug über mir zusammen, drang mir in Mund und Nase. Meine Lunge begann zu brennen und verlangte nach Sauerstoff. Ich strampelte wild mit meinen Armen und Beinen und suchte nach einer Möglichkeit meinen Kopf über die Wasseroberfläche zu bekommen. Der Druck in meiner Lunge nahm zu, während vor meinen Augen bunte Flecken tanzten.
Plötzlich wurde ich durch die Luft gewirbelt und mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Gierig sog ich die frische Luft ein, während ich durch die Luft flog. Dann erst realisierte ich, was passierte und flatterte panisch mit den Armen. Ich hatte keine Ahnung, warum ich plötzlich flog oder was da genau passierte. Ich wusste nur, dass ich zwar nichts gegen Fliegen hatte, aber nicht so! Ich fühlte mich hilflos und hatte kein Vertrauen in... was auch immer mich in der Luft hielt.
Doch wider Erwartens wurde ich sanft auf dem Boden abgesetzt, während an mir vorbei Leander schritt. Als er auf meiner Höhe war, drehte er kurz den Kopf und ich erkannte, dass wieder Lucifer die Kontrolle hatte. Seine Augen waren dunkelbraun. Eine Sekunde später erschienen wieder die dunklen Fledermausflügel auf seinen Rücken und er ging weiter in Richtung der anderen Höllenkönige.
»Es genügt. Ihr habt schon zu viel im Diesseits angerichtet. Es wird Zeit zurück in die Hölle zukehren. Und wenn ihr nicht freiwillig geht, dann werden wir euch eben dazu zwingen müssen. Stellt euch mir und zeigt mir eure wahre Kraft!«
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Der Ruf der Verdammten 2
Fantasy[Band 2: Spoiler zu Band 1 Das Flüstern der Toten!] Cimeies lehnte sich an die Wand und verschränkte mit einem Grinsen und verschmitzt funkelnden Augen die Arme. »Lass mich dir von Unsterblichen zu Unsterblichen einen Rat geben... Das Leben wird int...