Kapitel 36 - Vertrauen

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Am nächsten Morgen wachte ich relativ spät auf und realisierte sofort, dass ich wieder alleine in meinem Zimmer war. Aufgewühlt streifte ich mir die Locken aus dem Gesicht und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Bucky hatte die Nacht hier verbracht, in meinem Bett, in meinem Zimmer. Aber es war nichts passiert. Ich war nur für ihn da gewesen, als er es gebraucht hatte. Ich seufzte und stand auf, um mich anzuziehen. Augenblicklich schlang ich die Arme um meinen Körper als mich die Kälte des Raumes erfasste. Schnelle schlüpfte ich in eine Leggins, zog darüber eine Jogginghose, die ich im Kleiderschrank von Tony gefunden hatte und warf mir einen Pullover über. Auf dem Weg zur Tür blieb ich vor meinem Ganzkörperspiegel stehen. Ich warf mir selbst ein gezwungenes Lächeln zu und verließ dann mein Zimmer. Gähnend tapste ich den Flur entlang ins offene Wohnzimmer. Bucky war natürlich schon auf und werkelte bereits in der Küche herum, während aus dem Radio leise Musik dudelte. "Morgen.", sagte ich zaghaft und lugte in den Raum hinein. Das letzte Mal als ich Barnes nach seinen Alpträumen beigestanden hatte, hatten wir uns am nächsten Morgen gestritten. "Guten Morgen. Kaffee?", begrüßte er mich und schwenkte die Kanne vor sich hin und her. Überrascht nickte ich und holte mir eine Tasse aus dem oberen Küchenschrank. Bucky nahm sie mir wieder aus der Hand und goss mir die heiße Flüssigkeit hinein. "Danke." Eines musste man ihm lassen...er bemühte sich in der letzten Zeit wirklich sehr. Und vielleicht war es gerade das, was mich noch besorgter machte. Ich würde es niemals zugeben, denn ich hätte nicht gedacht, dass wir uns einmal verstehen würden, aber ich mochte ihn. Unsere Gespräche hatten mir gut getan und es schien so, als würde er die Lücke füllen, die mein ganzes Leben lang leer gewesen war. Jemand, mit dem ich reden konnte und wusste er würde mich nicht verurteilen, egal was passiert war. Doch es war klar, dass wir draußen, in der realen Welt, keine Chance hatten. "Geht es dir gut?", holte mich mein Gegenüber aus meinen Gedanken. Ich zuckte mit den Schultern. "Ich habe schlecht geschlafen. Ich habe mir Sorgen gemacht, wegen...letzter Nacht.", startete ich einen zaghaften Versuch mit ihm über seine Probleme zu sprechen. Doch ich wusste, dass ich damit auf taube Ohren stoßen würde. Ich wusste nicht wieso, aber Bucky hatte bisher nicht einmal bei Tageslicht mit mir über diese Alpträume gesprochen. Vielleicht wollte er mich nicht belasten, vielleicht konnte er sich aber auch einfach nicht so öffnen wie es "normale" Menschen taten. Bei meinen Worten zuckte Bucky spürbar zusammen. Er rührte in seinem Kaffee, drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Offenbar hatte ich ohne es mit böser Absicht zu wollen, einen wunden Punkt getroffen. Vorsichtig trat ich hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Quäl dich nicht, bitte. Du musst dich nicht schämen.", sagte ich leise und streichelte dabei sanft über den Stoff des Pullovers den er trug. Ich merkte wie sich seine Körperspannung veränderte. "Ich schäme mich nicht.", antwortete er leise. "Was ist es dann?", hakte ich nach und stellte mich vor ihn, um ihm in die Augen schauen zu können. "Du kannst mir vertrauen. Rede mit mir!", machte ich deutlich. Der Schmerz in seinen Augen war für mich kaum zu ertragen. "Es kann nicht besser werden, wenn du alles in dich hineinfrisst und es versuchst mit dir selbst auszumachen.", sprach ich mit Nachdruck. Es war offensichtlich das er unter seinen eigenen Gedanken litt. "Ich bin ein böser Mensch, das ist es. Ich habe es verdient.", stieß er plötzlich hervor, umrundete mich und stellte sich vor die Terrassentür, wohl um mir auszuweichen. Ich folgte ihm unweigerlich. "Niemand hat es verdient sich selbst so zu quälen.", hielt ich gegen seine Worte und blieb erneut hinter ihm stehen. "Würdest du auch so reden, wenn es dein Vater wäre, den ich umgebracht hätte oder deine Mutter?", kam es tonlos von ihm. Kurz ging ich in mich und haderte mit mir selbst. "Ja, weil du nichts für dein Handeln kannst. Sie haben dich vollkommen irre gemacht. Es ist nicht deine Schuld James.", erwiderte ich und erschrak selbst, als ich ihn bei seinem richtigen Namen nannte. Langsam drehte er sich zu mir um. Wieder schaute ich mit großen Augen zu ihm hinauf. In diesem Moment brach das letzte Stück Eis zwischen uns. Ohne Worte suchte Bucky bei mir Halt und vergrub seinen Kopf an meiner Schulter. Ich konnte nichts anderes für ihn tun, als seine Umarmung zu erwidern und ihm sanft über den Rücken zu streicheln. Er hatte sich mir gegenüber zwar immer noch nicht vollständig geöffnet, doch ich war mir sicher, dass wir auf einem guten Weg dahin waren. "Ich muss jede Nacht an sie denken.", flüsterte er leise und seine Stimme bebte. Sein Körper erschlaffte. Es war als würde ihm eine unglaubliche Last von den Schultern fallen. "An wen?", fragte ich vorsichtig und wagte es ihm durch die Haare zu streifen. "An all die Mütter und Väter, die ihre Söhne und Töchter nie mehr wiedersehen werden.", antwortete er und unterdrückte ein Schluchzen. Es zerriss mir fast das Herz, wie er mir den Tränen nahe von seinen Ängsten berichtete. "Ich sehe ihre Kinder jede Nacht in meinem Träumen. Sie sind da wenn ich die Augen schließe und ich kann sie hören, selbst wenn um mich herum alles still zu sein scheint.", gestand er weiter und holte tief Luft, um wieder zu Atem zu kommen. "Ich habe ihre Namen alle aufgeschrieben. Hier drin." Er löste sich ein wenig aus unserer Umarmung und griff in seine rechte Hosentasche. Aufgelöst beförderte er ein kleines ledernes Buch hervor, dass er aufschlug. Zwei Seiten voll mit Namen leuchteten mir entgegen. Ich schloss das Buch wieder und steckte es ihm zurück in die Hosentasche. "Es wird der Tag kommen, an dem du die Chance hast sie um Vergebung zu bitten. Ich weiß, dass du den Mut haben wirst das zu tun.", sagte ich und suchte dabei seinen Blick. Als ich ihn fand war mir klar, dass ihm unser Gespräch gut getan hatte. Er schaute mich an und wirkte befreiter, losgelöster und beruhigter. "Es wird alles gut werden, das verspreche ich dir James." Ich legte eine Hand an seine Wange und ließ es zu, dass er nach ihr griff. Sekunden vergingen, Minuten...vielleicht auch Stunden. Wir standen einfach nur da und schauten uns gegenseitig in die Augen, als würde in ihnen die Lösung aller Probleme liegen. Wir brauchten einander, daran gab es keinen Zweifel mehr.

Desire - Bucky BarnesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt