Kapitel 39

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Changbin

Die Türklingel weckte mich aus dem nebligen Dämmerzustand. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war und mein Handy lag zu weit entfernt, um danach zu greifen. Ich hörte Schritte, die sich der Tür näherten und dann ein Stimmengewirr. Obwohl die Haustür einige Meter von meinem Zimmer entfernt war und meine Zimmertür geschlossen war, kniff ich die Augen zusammen, weil die Geräusche zu laut waren.

Die Personen redeten weiter und kurz darauf klopfte es an meine Zimmertür. Ich horchte auf, als meine Mutter zu sprechen begann „Changbin Schatz, bitte mach die Tür auf. Lass mich rein. Dein Vater ist auch hier und wir haben dir etwas wichtiges mitzuteilen."

Ich hob den Kopf und drehte ihn zur Tür. Es waren nur zwei Meter von mir zur Tür. Trotzdem wusste ich nicht, ob ich die Kraft aufbringen konnte, sie zu öffnen. Am liebsten hätte ich vor Frustration geweint, aber ich konnte das Gefühl nicht greifen. Es war ganz dumpf und wenn ich mich nicht darauf konzentrierte, hätte ich schwören können, dass es gar nicht da war.

„Changbinah", hörte ich die Stimme meiner Mutter leise und unendlich sanft am anderen Ende der Tür. Ich kannte diesen Ton. So hatte sie schon einmal mit mir gesprochen. Damals war es mir so schlecht gegangen, dass sie einen Termin bei einer Therapeutin ausgemacht hatte.

Mein Blick huschte zu meinem Handy. Ich hatte meine Therapeutin ganz vergessen. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich in diesem Dämmerzustand gesteckt hatte, aber ich musste bestimmt einen Termin verpasst haben.

Langsam erhob ich mich und stellte ein Bein nach dem anderen auf den Boden auf. Ich stand auf und ging zuerst zu meinem Schreibtisch, auf dem mein Handy lag. Nachdem ich es eingeschaltet hatte, hörte es nicht auf zu vibrieren. Ich hatte mehrere hundert Nachrichten bekommen. Die meisten waren von meinen Eltern gewesen, dicht gefolgt von Felix. Auch die anderen Member hatte mir Nachrichten geschickt und versucht mich anzurufen.

Ich sah die roten Zahlen an und fühlte... nichts. Zwei Nachrichten von meiner Therapeutin wurden mir angezeigt. In der ersten schrieb sie, dass ich unseren Termin verpasst hatte und ich mich melden sollte, sobald ich Zeit hatte, um einen neuen festzulegen. In der zweiten Nachricht erzählte sie mir, dass meine Mutter sich bei ihr gemeldet hätte und ich mich bitte bei ihr melden sollte, damit wir über meine Kündigung beim Label sprechen konnten.

Blinzelnd starrte ich die Texte an. Ich hatte nicht nur meine Member und meine Eltern enttäuscht, sondern auch meine Therapeutin. Eine einzige schlechte Nachricht hatte mich komplett aus der Bahn geworfen und unsere harte Arbeit zunichte gemacht.

Ich hob meinen Blick vom Handy und sah in den Spiegel an der Tür meines Kleiderschranks. Was nützen mir diese ganzen Muskeln, wenn sie nicht dafür sorgen konnten, dass ich stark war. Sie konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ein schwacher Mensch war.

Zum ersten Mal seit Tagen sah ich mich genau im Spiegel an. Mein Körper war ausgezehrt und meine Wangen waren eingefallen. Ich hatte eine ungewöhnlich blasse Haut, die die dunklen Augenringe unter meinen Augen betonte. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt geduscht hatte. Es war vermutlich auch schon ein paar Tage her.

„Changbinah", ertönte es wieder hinter der Tür. „Bitte mach die Tür auf."
Und ich tat es. Die Stimme meiner Mutter klang verständnisvoll, aber auch ängstlich. Sie machte sich bestimmt Sorgen um mich. Ich griff nach dem Türschloss und drehte es ohne zu zögern herum. Es klickte laut und dann war es wieder ganz still. Sogar die Stimmen am anderen Ende des Gangs waren verstummt. Dann wurde die Türklinke heruntergedrückt und meine Mutter trat durch die Tür, um sie gleich wieder hinter sich abzuschließen.

„Mama...", sagte ich und erschrak über meine eigene Stimme. Sie war so rau, dass ich sie selbst kaum wiedererkannte. Sie breitete die Arme aus und wartete darauf, dass ich die Einladung annahm. Ich schlang die Arme um sie und sie drückte ihren Kopf gegen meine Schulter. Hätte ich mich nicht so taub gefühlt, hätte ich vermutlich geweint. Doch ich stand nur da und hielt ihren schluchzenden und weinenden Körper im Arm. Mechanisch strich ich ihr über den Rücken, bis sie mich von sich schob und mich genau ansah. Sie hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund und drückte meinen Arm.

„Mein Kind... ich hätte viel früher kommen sollen. Es tut mir so unendlich leid. Ich war so sehr beschäftigt dafür zu sorgen, dass dich das Label wieder aufnimmt. Es tut mir so leid, mein Sohn..."

Ich beobachtete sie, konnte aber nicht reagieren. Ich konnte ihr nicht sagen, dass alles gut war. Ich fühlte mich nicht gut. Ich fühlte mich leer und so unglaublich müde.

„Lass uns zu den anderen gehen. Ich will allen die gute Neuigkeit mitteilen."
Meine Mutter drückte mich noch ein letztes Mal an sich und ging dann voraus ins Wohnzimmer. Ihr Griff war locker, sodass ich mich jederzeit daraus hätte befreien und in mein Zimmer flüchten können. Gute Nachrichten, diese Worte schwirrten in meinem Kopf umher, lösten aber keine Reaktion aus. Mir war egal, was diese guten Nachrichten waren. Ich wollte zurück in mein Bett.

Im Wohnzimmer angekommen blickte ich in die besorgten Augen meiner engsten Freunde. Bei Felix' Anblick krampfte sich mein Magen zusammen. Er sah schrecklich aus. Dunkle Ringe verunstalteten sein sonst so schönes Gesicht. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass sein Kinn und seine Wangenknochen noch mehr hervorstanden. Ich hielt inne, um zu fühlen was dieser Anblick mit mir machte. Nichts. In der hintersten Ecke meines Herzens spürte ich Wut, aber nichts von den positiven Gefühlen, die ich noch vor Kurzem für ihn empfunden hatte.

Chan war aufgestanden und hatte mir einen Arm um die Schultern gelegt. "Wir sind alle so froh dich zu sehen. Ich werde dich nicht fragen wie es dir geht...", weil es offensichtlich ist, ergänzte ich seinen Satz im Kopf. "Hier setz dich, deine Mutter hat Neuigkeiten für uns." Ich ließ mich auf einen Stuhl, den Han mir hingeschoben hatte, fallen. Es tat gut zu sitzen. Meine Beine waren vom kurzen Weg schwer geworden und in meinem Kopf hatte sich alles zu drehen begonnen. Es waren zu viele Menschen in diesem Raum. Ihre Anwesenheit und die leisen Gespräche, die sie führten, klangen zu laut in meinen Ohren. Ich kämpfte gegen den Drang sie mit meinen Händen zu bedecken und starrte in die Gesichter meiner Freunde.

Alle wirkten aufgelöst.  Nicht nur Felix hatte dunkle Ringe unter den Augen. Auch Jisung und Chan wirkten erschöpft. Ich realisierte, dass Minho neben Jisung saß, während seinen Arm auf der Armlehne hinter Han ruhte. Er berührte ihn nicht, doch er war für ihn da. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Jisung hatte mir erzählt, dass sie sich wieder näher kamen... oder? Ich war mir nicht ganz sicher.

Meine Mutter trat zu meinem Vater und ihre Hände fanden sich. Sie wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann sahen sie zuerst die Member an, dann mich. "Changbin Schatz, wir konnten das Label überzeugen, dass dich keinerlei Schuld an diesem Bullying Skanal trifft. Wir haben alte Akten aus deiner Schulzeit angefordert und mit Lehrkräften von damals gesprochen. Sie haben alle das beweisen können, was wir dem Label von Anfang an klar machen wollten. Dein Vater hat auch mit Herrn Go gesprochen und er war entrüstet wegen des Vorwurfs seiner Tochter. Er hat mir versichert, dass das Verhalten seiner Tochter Konsequenzen nach sich ziehen wird."

Meine Mutter drückte die Hand meines Vaters fest und dann lächelte sie mich strahlend an, während ihr eine Träne über die Wange lief. "Du darfst deine Ausbildung wieder fortsetzen. Wir bekommen sogar eine Entschädigung für die Kurse, die du in der Zeit verpasst hast."

Chan sprang auf und schloss mich in seine Arme. Er drückte mich fest und klopfte mir auf den Rücken. Er murmelte etwas unverständliches darüber, dass er es gewusst und er keinen Zweifel gehabt habe. Als nächstes spürte ich Jisungs Arme um mich. Er lächelte so unglaublich erleichtert, dass sein ganzes Gesicht strahlte. Seine Wangen waren etwas feucht. Minho klopfte mir unbeholfen auf den Rücken, machte aber keine Anstalten mich zu umarmen. Ich wusste, dass Felix mich vermutlich als nächstes in eine Umarmung ziehen wollte. Das konnte ich nicht zulassen. Ich ertrug die Vorstellung seiner Berührung nicht. Also befreite ich mich aus Jisungs Armen und trat zu meinen Eltern. Als ich mich zu ihnen stellte, sah ich Felix' Blick. Er wirkte irritiert und verletzt. Meine Hände ballten sich automatisch zu Fäusten. Er hatte keinen Grund verletzt zu sein. Seinetwegen hatte ich mich mit Yoorim getroffen und war aus dem Label geworfen worden. Er hatte nicht das Recht sich verletzt zu fühlen.

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Hey ihr Lieben,

Nach Monaten erscheint endlich ein neues Kapitel. Ich bedanke mich wirklich herzlich bei _hetti_ , die mir geholfen hat die Geschichte weiter zu schreiben, als ich selbst keine Ideen mehr hatte ❤️.

Ich hoffe wie immer, dass dir das Kapitel gefallen hat. Wenn du Lust hast, kannst du mir gerne einen Kommentar da lassen, aber ich freue mich auch über jeden Ghostreader 🥰 Ich würde mich freuen, wenn du dann beim nächsten Kapitel dabei wärst (wann auch immer das sein wird).

Alles Liebe und bis zum Nächsten Mal 🫶🏻

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