I

92 10 1
                                    

Ramiel

Ich hörte ihre Stimmen in meinem Kopf. Tag und Nacht. Selbst wenn sie nicht nach mir riefen. Die Stimmen der Personen, die mir alles bedeuteten. Die meine Freundinnen waren, meine engsten Gefährten, meine Brüder. Ich hörte ihr Unverständnis, ihre Fragen, ihre Sorge, ihre Angst. Und ich dachte, dass das wirklich der krönende Abschluss war. Das war das perfekte Ende. Der Teufel musste sich unbändig gefreut haben, als ihm diese Idee gekommen ist. Mir meine Seele zu nehmen und sie nicht zu zerstören. Sodass ich hören konnte, sehen, spüren, aber nicht helfen, nicht kontrollieren.

Leviatha versuchte mich zu stürzen, sie hatte Ale in ihrer Gewalt und Azael die Flügel abgetrennt. Ich war so sicher, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, doch dann machte sich mein Körper auf den Weg. Und sie nicht nur zu hören, sondern sie tatsächlich zu sehen, war schlimmer als alles Vorhergehende.

Ich war so froh, dass Chimi bei ihr war und sie aufeinander aufpassten. Ich hatte sie losgeschickt, im letzten Moment, in dem ich noch Kontrolle besaß. Einen Moment lang sahen sie in mir etwas, das ich nicht mehr war. Ihren Freund, ihren Bruder, ihren Vertrauten. Doch das war ich nicht mehr.

Und das würde ich gleich beweisen. Es gehörte nicht zu seinen Plänen, dass sie Azalee retten würden. Es gehörte zu seinen Plänen, einen Krieg anzuzetteln. Vios Blick schmerzte mich mehr als jeder Dolch je könnte. Caels Miene wurde hoffnungsloser je länger er erfolsglos auf mich einredete. Er erkannte irgendwann, dass es keinen Sinn hatte. Dass er den Teil, den er erreichen wollte, nie erreichen würde.

Der Hexenmeister löste ein Pulver aus seinem Beutel und meine Hand schnellte vor. Meine Schatten legte sich um seinen Hals und drückten zu. Erinnerungen an gemeinsames Frühstück in Varaines Haus. Lachen, kuscheln, scherzen. Das alles fühlte sich hohl an. Vio trat an mich heran, redete auf mich ein. Ich fokussierte mich auf sie, konzentrierte alle meine Sinne auf sie, als ich merkte, dass Cael näher an Varaine herantrat. Er pustete und selbst er konnte nicht mehr ausrichten, als das Pulver seine Wirkung tat.

Als ich zu mir kam, lag bitterer Verrat und eiskalte Wut in der Luft. Ich erinnerte mich daran, dass ich genau das erreichen wollte. Dass sie fliehen konnten. Dass sie Ale retten würden. Ich hatte es geschafft. Ich hatte ihnen diese eine Sekunde verschafft, die sie gebraucht hatten. Die Gefühle waren nicht meine.

„Das wirst du bereuen." Die Stimme meines seelenlosen Ichs klang wie die jüngere Version des Teufels. „Dein Widerstand wird dich viel kosten. Ich hoffe, sie kommen wieder und ich kann dir zeigen, wie viel. Oder sie kommen nicht wieder und du wirst für immer wissen, dass es deine Schuld war." Ein metallischer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. „Machen wir es spannend. Ich werde Leviatha warnen und du wirst wissen, dass egal, was passiert, du dafür verantwortlich bist." Ein enttäuschtes Seufzen. „Wir hätten uns das alles von Anfang an sparen können, wenn du einfach auf unseren Vater gehört hättest."

Die seelenlose Version von mir war wie ein böser Zwilling, um den ich nie gebeten hatte. Ein dunkler Schatten meines Vaters. Ein Dämon in wahrsten Sinnen des Wortes. Willig all seine Pläne und Ziele durchzusetzen. Und in diesem Fall wollte er Vio zu einer Waffe machen. Und er benutzte mich, um sie zu benutzen. Ich hatte mich gewehrt. Die letzten Wochen. Ich hatte gekämpft und immer wieder verloren. Ich war verloren und es war an mir das zu akzeptieren. Der Dämon lachte leise, dann zog er den Vorhang zu, schloss mich aus und ließ mich in einsamer Dunkelheit zurück.

„Das willst du nicht verpassen." Seine Stimme knallte durch mein Bewusstsein und ich war sofort in höchster Alarmbereitschaft. Wir standen oben auf dem Balkon meiner Gemächer. Der Dämon hatte den Blick in die Ferne gelenkt. Nur am Rand sah ich die Ecke, in der Vio und ich gerne gefrühstückt haben. Weit in der Ferne, hoch über der Sandwüste kam ein trudelnder Schemen in Sicht.

Die Realität wurde schlagartig schmerzhafter als die Vergangenheit. Sie haben es geschafft. Sie sind zurückgekommen. Der Schemen wurde schnell größer. Chimi musste in schlechter Verfassung sein, denn ihre Schuppen waren matt und da war nichts von ihrem üblichen Funkeln. Ich konnte die Personen auf der Chimäre ausmachen und zählte. Zählte nochmal, als sie näher waren. Ich konnte Cael erkennen. Ale fest in seinen Armen. Nakir. Henna. Und dann niemanden mehr.

„Spürst du das auch?" Die Stimme des Dämons war... irritiert. Als könnte er etwas nicht zuordnen. Und erst in diesem Moment spürte ich die Magie, die wie eine Welle durch die Hölle raste. Magie, die die Kraft hatte, Welten zu zerstören. Oder Königinnenreiche in diesem Fall. Jedes übernatürliche Wesen konnte unterschiedlich differenziert, magische Schwingungen wahrnehmen, aber diese, war nicht zu übersehen. Ich war mir sicher, dass alle gerade kollektiv den Atem anhielten, bis die Welle langsam abebbte.

Ich war so stolz, spürte ihre Magie warm wie eine Berührung. Aber wo war sie? Wo bist du nur, Vio?

Der Dämon ging mit uns durch die Schatten und erwartete Chimi auf einer der Landeflächen. Ich behielt den Horizont im Blick, hoffte auf irgendein Zeichen. Und dann war sie plötzlich da, hoch über uns und fiel. Silberne Flügel verlangsamten ihren Fall, aber sie würde eine Landung trotzdem nicht überleben. „Fang sie auf!", brüllte ich. Chimi und die anderen waren nicht in der Verfassung ihr zu helfen. Sie hatten sie bisher nicht einmal bemerkt.

Der Dämon blieb reglos, beobachtete interessiert, wie sie sich in rasender Geschwindigkeit dem Boden näherte. „Bitte." Es war mir egal, was es mich kostete. Sie durfte nicht sterben. Nicht so. Überhaupt nicht. „Du brauchst sie. Du brauchst sie." Ich pumpte es in seine Venen, in jede einzelne Zelle. Und im letzten Moment, nur Meter vom Boden entfernt, bargen sie meine Schatten. Sobald ihre Füße den Boden berührten, verschwanden ihre Flügel, genauso wie der überirdische Glanz auf ihrer Haut. Sie sank zusammen. Ich wollte Erleichterung verspüren, aber da war nur Angst, denn jetzt landete auch Chimi, vollkommen erschöpft. Alle waren blutverschmiert und am Ende. Ein gefundenes Fressen für den Dämon, zu dem ich geworden war.

Sie hatte gerade ein Reich in Schutt und Asche gelegt. Und jetzt landete sie hier, schwankend und kurz davor das Bewusstsein vollständig zu verlieren. Sie hatte sich hierhin gerettet, nichts ahnend, dass ich nicht ihr Retter sein konnte. Nie gewesen war. Viel eher war ich das Gegenteil. Ihr Feind. Ihr Ende.

Er drängte mich zurück, ließ mich dabei zuschauen, wie er Varaine dazu zwang, ihr eine Droge zu geben, die sie für Tage ausknocken würde. Er war in Ketten gelegt. Seine Knöchel verbrannt, die Finger gebrochen. Sein Atem glich einem Pfeifen und ich konnte die gebrochenen Rippen bis hier hören. Der Dämon drängte mich weiter zurück, als Zapharias in sein Blickfeld trat und Vios Mund gewaltsam öffnete. Sie wehrte sich, trotz ihrer halben Bewusstlosigkeit und alles in mir tickte aus, als er ihre Nase zuhielt und sie gezwungen war die Tropfen zu schlucken.

„Ich werde sie einsperren und in Ketten legen lassen. Bis zum nächsten Mal, beehren sie uns bald wieder."Der Dämon kappte meine Verbindung zur Außenwelt, Dunkelheit, war alles, was mir noch blieb. Schuld und Angst und Wut verzehnfachten sich, während um mich herum nichts war außer Leere.

Throne of BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt