Der Gong weckte mich. Verschlafen taumelte ich aus der Kajüte und kletterte an Deck. Mit einem Schlag war ich hellwach. Dunkle Wolken ballen sich am Himmel, es regnete bereits. Da zog ein Sturm auf! Mein Vater war die Nacht durch am Steuer gestanden, er hatte den Gong geschlagen.
Aber so schlimm sah das gar nicht aus, nur nach ein bisschen Seegang. Doch Dad sah das offensichtlich anders, er rief irgendwas von „Jule", „Segel" und „schnell". Allerdings war das durch den Wind kaum zu verstehen. Doch das machte nichts. Schon veränderte sich das Gesicht meines Vaters, Federn ersetzten seine Haare und ihm wuchs ein leuchtend gelber Schnabel. Schließlich trug er einen goldbraunen Adler-Kopf.
»Jule, Nele, an Deck! Segel einholen!«, donnerte Nick Wavebirds Gedankenstimme durch unsere Köpfe. Es polterte, dann kamen meine Mutter und meine große Schwester Nele an Deck gekrabbelt. Sie trugen noch Schlafanzüge, bis der Morgen dämmerte dauerte es schließlich noch ein paar Stunden.
»Es zieht ein Sturm auf! Jule, Nele, Segel einholen! Sky, Kisten sichern!«, kommandierte unser Vater. Warum war er bloß so nervös? Ein bisschen Seegang machte mir nach über 8 Jahren auch nichts mehr aus. Ich schnappte mir eines der dicken Seile, die an Deck herumlagen, und lief zu einer der Kisten. In dieser bewahrten wir Rettungsringe und Erste-Hilfe-Kasten auf, wenn die über Bord ging, hatten wir ein Problem.
Ich band das Seil mit einem eins-A-Achterknoten an den Griff der Truhe und sicherte sie an der Reeling. Das große Vorhängeschloss war schon zu, aus dieser Kiste würde nichts rausfallen.
»WAS MACHT TIMMY HIER?!«, polterte die Stimme meines Vaters. Ich blickte mich um und sah meinen kleinen, 2jährigen Bruder, der wohl durch unsere Gedankenstimmen – oder eher die unseres Vaters – geweckt worden war.
»Alles gut, ich kümmer mich!«, beeilte ich mich zu rufen, bevor Dad die Krise bekam. Rasch nahm ich den Kleinen auf den Arm und trug ihn nach unten in den Rumpf. Timmy war auf dem Meer aufgewachsen, er hatte noch nie in einem Haus gelebt. Anders als ich und Nele, obwohl ich mich kaum noch erinnern konnte; es war schließlich schon fast 8Jahre her. Unser Zuhause war jetzt das Segelschiff „Wavebird Star", sie war der ganze Stolz meiner Eltern. Es hatte damals ewig gedauert, bis wir sie so aufgepimpt hatten, das sie den Vorstellungen meiner Eltern entsprach. Fast 2Jahre lang hatten wir – oder eher unsere Eltern, Nele und ich waren 5 und 10 gewesen – an unserem Boot herumgewerkelt.
Timmy ließ ich unten, er konnte sich selbst beschäftigen. War ja wie gesagt nicht unser erster Sturm. An Deck war es mittlerweile lauter geworden. Wellen peitschten gegen den Bug der Wavebird Star, der Regen peitschte mir ins Gesicht. Es war nicht gerade hilfreich, das der Wind mich halb über Bord warf.
„Sky? Etwas Hilfe bitte!", es war meine große Schwester Nele, die mit der Winde kämpfte, die das Segel runterließ. Ich lief zu ihr und packte mit an. Dankbar lächelnd kurbelte sie mit mir weiter. Zwar war sie schon 18, also immerhin 5 Jahre älter als ich, jedoch eher groß und schlank gewachsen wie unsere Mutter. An Land hätte sie eine top Sprinterin abgegeben, während ich mit meinem schlanken, sportlichen Körper aussah, als wäre ich seit Kindestagen Profiturner wie früher mein Vater.
Also spannte ich die Arme an und wir kurbelten gemeinsam das Segel runter. Zumindest versuchten wir es. Es gab einen Ruck, dann ging es nicht mehr weiter. Die Winde klemmte! „Mist, was ist jetzt los?!", fluchte Nele.
„Wir müssen das Segel irgendwie runter kriegen!", brüllte ich gegen den Wind an. Moment, was schaute mich Nele plötzlich so an?? Sie meinte doch nicht...?
„Ich kann da doch jetzt nicht hochklettern!", meine Stimme klang schrill. Auf keinen Fall würde ich mich jetzt, mitten in diesem Sturm, zum Segel hochhangeln! Was, wenn ich abrutschte und auf dem Deck aufschlug?! Ich wäre Matsch, so viel wäre klar.
»Das ist die einzige Lösung!«, erklang die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf; sie hatte sich eine Delfinflosse auf dem Rücken zugelegt.
»Wenn das Segel reißt, sitzen wir hier draußen tagelang fest!«
Wäre das überhaupt so schlimm? Ich hätte nichts dagegen weiter auf dem Meer zu sein, anstatt...
»SKY!«, donnerte meine Schwester, »JETZT FLIEG DA HOCH UND FIX DAS!«
Hui, jetzt hatte sie ganz schön die große Schwester herausgekehrt. Ich gab auf. Mit etwas Mühe schlüpfte ich in mehreren Schüben in meine Adlergestalt.
»LOS!«, drängte Nele.
Ich atmete tief durch und schwang mich in die Luft. Wie erwartet packte mich der Wind sofort, er warf mich herum. Mehr schlecht als recht taumelte ich durch die Luft und klatschte unelegant an den Masten. In einem Comic wäre ich jetzt als platte Scheibe heruntergerutscht und auf dem Deck gelandet. Überraschender Weise schaffte ich es jedoch, mich mit den Krallen an einem der Seile festzuhalten.
Da war schon die Notleine, die musste ich erreichen, dann konnten wir das Segel daran runterholen! Erstmal brauchte ich jedoch wieder Hände. Mit Ach und Krach wurde ich zu einem splitternackten Jungen, der sich verzweifelt mit allen Gliedmaßen an den Masten klammerte. Ich zog mich weiter hoch, streckte mich nach der Leine. Doch der Wind bließ sie von mir weg, das Seil flatterte im Wind. Verdammt! Der Regen war inzwischen so stark, das er mich fast herunter riss. Auch der Wind war fest entschlossen, mich davon zu wehen, was auch hier keine Hilfe war.
Irgendwie musste ich diese Leine erreichen! Ich schlang die Beine noch fester um den Masten, klammerte mich an einen Seilhalter... und ließ todesmutig mit einer Hand los. Ich streckte mich und kam dem im Wind flatternden, dünnen Seil immer näher. Yeah, gleich hatte ich es, nur noch ein kleines Stückchen!
Doch dann spürte ich, wie meine Beine vom Masten abrutschten. Mit einem Knacken gab die Seilhalterung nach und ich fiel. Nein! Verdammt, was jetzt?! Teilverwandlung, ich brauchte Flügel! Verzweifelt versuchte ich, meine Gedanken auf einen Steinadler zu fokussieren. Nichts geschah. Ich wedelte mit den Armen, in der Hoffnung, meine Flügel dadurch herzaubern zu können.
Bitte bitte, Verwandlung!!!, flehte ich meine Arme an, doch das half erst recht nichts. Gleich würde ich auf dem Deck aufschlagen!
Plötzlich rammte sich etwas in meinen Kopf. Mit roher Gewalt hämmerte mir jemand ein Adlerbild in den Schädel, so fest, das mir schummrig wurde. Aber es funktionierte. Ich spürte, wie Federn an meinen Händen sprossen. Große braune Adlerschwingen ersetzten meine Arme. Wieder versuchte ich mit den Flügeln zu schlagen. Und endlich klappte es! Ich bremste meinen Fall und drehte rechtzeitig ab, bevor ich auf die Holzplanken knallte. Vorsichtig landete ich und zog mir meine Badehose über.
»Das war knapp!« Neles Gedankenstimme zitterte. »Mom und Dad haben nichts gemerkt. Schaffst du es nochmal hoch zu fliegen?«
Ich spürte in mich hinein. Der Schreck saß mir noch in den Gliedern, meine Beine zitterten. Dennoch sah ich meine Schwester entschlossen an.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich schaff das schon.«, gab ich in Gedanken zurück, meine normale Stimme hätte sie über den Wind und Regen immer noch nicht gehört.
Diesmal würde ich wieder als Adler fliegen. Ruckartig verwandelte ich mich.
Ich atmete tief durch, dann schwang ich mich zum zweiten mal in die Luft.
Der Regen machte das Fliegen nicht gerade leichter, und der Wind war noch immer keine Hilfe.
Irgendwie schaffte ich es trotzdem, mit wilden Flügelschlägen nach oben zu kommen. Jetzt war es Zeit, mein Fischfang-Talent unter Beweis zu stellen! Mit vorgereckten Klauen schoss ich auf die Leine zu wie auf einen Fisch. In der Luft war die Leine jedoch schneller als ein Fisch im Wasser. Mist, daneben! Verbissen drehte ich mich um, flog eine Runde und schoss wieder los. Diesmal war ich darauf vorbereitet, als der Wind das Seil zur Seite riss. Blitzschnell kalkulierte ich meinen Sturzflug neu und packte mit den Krallen zu.
Yeah, erwischt! Jetzt hatte ich jedoch das Problem, das ich an der Leine hing und von ihr einfach mitgerissen wurde. Der Wind wurde immer stärker, Mist!
»Wir müssen jetzt das Segel einholen, Sky! Komm runter!«, schrie mir Nele zu.
»Ich versuchs!«, gab ich nur zurück. Mit kräftigen Flügelschlägen ruderte ich gegen den Wind an. Ich hatte meine Kraft unterschätzt, plötzlich war es kein Problem mehr, die Leine aus dem Halter zu fädeln.
»Super Manöver, du bist in einer guten Luftströmung gelandet!«, lobte Nele.
»Ja. Ich komme runter.« Ich hatte keinen Schimmer, was meine große Schwester gemeint hatte, aber es war scheinbar etwas gutes.
Irgendwie schaffte ich es, wieder runter zu kommen, wo Nele mir das Seil abnahm.
Nach einer weiteren Verwandlung stand ich in Badehose im strömenden Regen. Gemeinsam mit meiner großen Schwester packte ich das Seil und zog. Nele hängte sich direkt komplett dran. Es klappte, das Segel bewegte sich wieder. Erleichterung durchströmte mich. Gleich war das Segel weit genug unten, dann konnte ihm der Sturm nichts mehr anhaben.
Aber dann krachte es. Erschrocken wirbelte ich herum und ließ das Seil los, woraufhin Nele fast mitsamt Leine wegflog.
Doch ich hatte nur Augen für die große, grüne Kiste, die sich gerade gefährlich in Richtung Reeling neigte. In der leider all unser Proviant verstaut war. Oh nein, nein, nein! Wenn der ins Wasser fiel, würden wir bis zum nächsten Hafen verhungern! Dummerweise war ich dann auch noch schuld, es war mein Job gewesen, die Kisten zu sichern. Das durfte nicht passieren!
Ohne nachzudenken schlidderte ich über das regennasse Deck und warf mich gegen die klobige Truhe. Die war jedoch nicht sehr beeindruckt. Wenn ich nicht aufpasste, würde sie mich zerquetschen, sie wog immerhin fast doppelt so viel wie ich!
Wieder stemmte ich mich mit all meiner Kraft gegen die Truhe. Es war ihr herzlich egal.
Wenigsten hatte Nele mehr Glück. Unsere Mutter Jule war ihr zur Hilfe geeilt, gemeinsam waren sie immerhin zwei Fliegengewichte, die mit einem Seil kämpften. Und jetzt gelang es Nele, es an der Reelig zu sichern. Aber niemand hatte gerade Zeit, mir zu helfen, ich musste die Truhe allein bezwingen.
Mit all meiner Kraft und all meiner Verzweiflung stemmte ich mich gegen sie. Das musste doch klappen! Auch wenn es das vielleicht aus Gerechtigkeitsgründen musste, es interessierte die Truhe gerade nicht.
Im Gegenteil, sie rutschte weiter auf die Reeling zu. Ich musste zur Seite springen, sonst hätte sie mich daran zerquetscht. Na gut. Wenn nicht schieben, dann ziehen!
Ich packte das nächstbeste Seil und stürzte mich auf einen der Griffe, die an der Seite der Truhe angebracht waren. Gerade so fädelte ich das dicke, feste Tau hindurch. Dann befestigte ich es mit einem astreinen Achterknoten ans Geländer. Da lag ein Vorhängeschloss! Ich schnappte es mir und befestigte es irgendwie an der Kiste, damit sie nicht mehr aufgehen konnte. Geschafft!
Doch ich war noch nicht fertig, der Proviant noch nicht gerettet. Jederzeit konnte er über die Reeling ins Meer stürzen! Ich schnappte mir das Tau, spannte die Arme an und zog. Stämmte mich mit meinem ganzen Körper gegen die Kraft der vollen Truhe. Und endlich kam sie zum Stillstand. Keuchend ließ ich los. Das war knapp gewesen! So schnell es ging sicherte ich die Truhe, damit sie nicht wieder wegrutschte.
Nochmal gut gegangen. Auch bei Mom und Nele lief wieder alles glatt, das Segel war mittlerweile eingeholt und Nele war dabei, es ebenfalls zu sichern. Unser Fortbewegungsmittel war noch in Takt! Unser Proviant noch da!
»Super gemacht, Leute!«, jubelte Nele.
»Klasse, ihr habt's geschafft!«, lobte uns unser Vater.
»Das war viel Aufregung, aber ihr solltet trotzdem wieder in die Kojen.«, bestimmte Mom, wie immer die Stimme der Vernunft.
Erst jetzt realisierte ich, das es noch nicht mal hell war. Plötzlich merkte ich wieder, wie müde ich war. Am liebsten wäre ich auf der Stelle eingeschlafen. Meine große Schwester schien das zu spüren, sie legte mir einen Arm um die Schulter und bugsierte mich nach unten in die Kajüte, die wir uns teilten. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und schlief ein, bevor mein Kopf das Kissen berührte.
Viel Zeit hatte ich nicht, den verlorenen Schlaf nachzuholen. Schon eine Stunde später klingelte der Wecker. Dennoch fühlte ich mich überraschend gut, das war wohl Gewohnheitssache. Ich machte mir nicht die Mühe, mir etwas anderes anzuziehen, ich trug immer noch die Badehose. Gemeinsam mit Nele (nach wie vor im Nachthemd) lief ich nach oben. Die anderen waren schon da, auch Timmy. Aber wir sprachen kein Wort, sondern sahen wie jeden Morgen feierlich schweigend dem Sonnenaufgang zu.
Danach sahen Nele und ich uns grinsend an. Wir standen auf, rannten über das Boot und warfen uns wie jeden Morgen über Bord. Nele - auch wie jeden Morgen - nach wie vor im Nachthemd. Das wollte sie morgens „direkt mitwaschen", wie sie es erklärte. Das kalte Wasser tat gut, weshalb ich Nele gleich noch etwas mehr davon geben wollte. Ich stürzte mich auf sie, um sie zu tunken. Geschickt wich sie aus, ich platschte ins Leere. Dann drückte sie mich ihrerseits unter Wasser. Damit fing eine herrliche Wassersschlacht an.
Doch schon bald drängte unser Vater zum Aufbruch: „Nele, Sky, wir müssen los! Sonst kommen wir zu spät!"
Also kletterten wir zurück aufs Boot. Unsere Mutter war gerade dabei, die Kisten wieder loszubinden. Sie lächelte mich an.
„Die hast du echt gut gesichert!", lobte sie. Ich wuchs vor Stolz um ein paar Zentimeter. Doch schon sprach sie weiter: „Du wirst uns fehlen, wenn du auf der Redcliff High bist!"
Bumm. Voll erwischt.
Meine gute Laune verflog, schwarze, klebrige Verzweiflung ersetzte sie. Denn bald würde ich nicht mehr an Bord sein. Unser nächstes Ziel würde vorerst mein letztes sein. Dabei wollte ich doch gar nicht zu dieser Schule! Ich lebte hier, auf dem Meer!
Aber niemand hatte mich gefragt. Schon bald würde ich von Bord gehen. Vielleicht für immer.
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...