Als ich an diesem Abend in meine Hütte kam, war Shiva noch nicht da. Natürlich, er war schließlich noch auf der Party und wollte auf keinen Fall, dass Avery ihn als Regelbrecher abstempelte. Ich war sauer auf ihn. Und als er eine halbe Stunde später endlich zurückkam, stellte ich ihn zur Rede.
„Hey, was war das vorhin? Versuchst du jetzt, dich extra brav anzustellen, damit..." Doch Shiva ging, ohne mich anzusehen, an mir vorbei. Ich folgte ihm verwirrt mit dem Blick.
„Hallo?", sprach ich ihn erneut an, „Hörst du mir zu?!" Er reagierte nicht.
„Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir?", fragte ich und spürte, wie die Wut in mir hochkochte. Da endlich hob Shiva den Blick und starrte mir in die Augen.
„Ich darf nicht mehr mit dir sprechen. Also spar's dir.", knurrte er mich an. Dann wandte er sich wieder ab.
„WAS?! Avery verbietet euch, mit jemandem zu sprechen?!", schrie ich. Shiva ignorierte mich.
„Du bist doch viel klüger als sie, du weißt doch, dass das einfach dämlich ist!", versuchte ich, ihm einzureden. Er rollte sich auf sein Bett und zog ein Buch unter der Decke hervor.
„Echt jetzt?!", rief ich aus, „Du unterwirfst dich einfach? Wenn sie dir sagt, du sollst dich in einen Vulkan stürzen, tust du es dann auch?!" Sein verwirrtes Blinzeln entging mir nicht, er wusste wahrscheinlich nicht genau, was ein Vulkan war.
„Ja?", meinte er. Ich war fassungslos. Er wusste nicht, was ich meinte, und würde es trotzdem machen?!
„Und wenn ich dir das sagen würde?", bohrte ich weiter. Shiva schwieg.
„Nein, würdest du nicht. Niemals. Deshalb: Du musst da rauskommen! Das ist wirklich einfach schlimm, was Avery mit euch..."
„GENUG!", schrie Shiva plötzlich, „Geh dir woanders selbst leidtun, weil du's dir vermasselt hast! Ich hab nichts gemacht. Also lass mich in Ruhe!"
„Du hast nichts gemacht?!", äffte ich ihn wütend nach, „Soll ich dir eine Liste schreiben?! Erstens: Du hast mich vom Himmel gerammt und in die Bewusstlosigkeit geschickt! Zweitens: Du standest einfach daneben, als sie Yuna verprügelt haben. Drittens: Du hast dich total eklig bei Avery eingeschleimt. Viertens: Du beugst dich ihren Befehlen und würdest für sie alles tun. Fünftens:" Da sprang Shiva plötzlich auf. Mit einem Satz war er beim mir und stieß mich nach hinten. Ich stolperte erschrocken zurück.
„Verschwinde!", schrie Shiva mich an und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Passierte das gerade wirklich?! Wie eingefroren stand ich vor der Tür und starrte sie an, als würde sie sich davon öffnen. Irgendwie hoffte ich, Shiva würde gleich rauskommen, sich entschuldigen und mir eine gute Erklärung dafür liefern, dass er das gerade tun hatte müssen. Doch es passierte nicht. Irgendwann löste ich mich aus meiner Starre und schlich los. Ich musste Yuna sehen. Sie war die einzige, der ich noch vertrauen konnte.
Und so klopfte ich bei Hütte fünf an. Sierra öffnete mir die Haupttür, wobei sie mit dem Kopf dagegen knallte und aufheulte. Das war gut, ansonsten hätte sie sicher versucht, mich als „Windwalker" zu verscheuchen. Aber so konnte ich an ihr vorbei in die Hütte schlüpfen und bei Yuna anklopfen. Diesmal stand Nicola an der Tür. Ich erschrak richtig und taumelte zurück, woraufhin ich mit Sierra zusammenstieß, die erschrocken fiepte und nach mir schlug.
„Sorry, sorry, tut mir leid, keine Absicht", murmelte ich verlegen. Das Wolfs-Mädchen machte sich aus dem Staub und Nicola starrte mich weiter an.
„Wer ist denn da?", hörte ich Yunas Stimme aus dem Zimmer. Ich konzentrierte mich auf mein Handgelenk und ließ mir ein paar Federn daran sprießen, während Nicola ihr antwortete.
»Hey, Yuna. Kommst du mal kurz raus? Auf die Lichtung?«, flüsterte ich ihr in den Kopf.
»Klar, gerne.«, kam es zurück. Ich hielt überrascht inne. Von Kopf zu Kopf zu lügen war beinahe unmöglich, also wusste ich, dass sie das gerade nicht ernst gemeint hatte.
»Passt es grad nicht?«
»Doch, natürlich.«, antwortete sie und diesmal war es die Wahrheit, also ließ ich es auf sich beruhen.
Nur fünf Minuten später kam sie auf die Lichtung.
„Hi", begrüßte ich und umarmte sie. Yuna schien leicht überrascht, weshalb ich sie eilig wieder losließ.
„Sorry", murmelte ich.
„Oh, nein nein, schon okay.", versicherte sie mir. Ich setzte mich erleichtert ins Moos und sie kam neben mich. Ich drehte den Kopf zu ihr. Sie war so wunderhübsch! Ihre glänzenden goldenen Haare und die Augen, tief und dunkel, wie der Eingang zu einer geheimen Welt. Mein Blick wanderte weiter zu ihren perfekt geschwungenen, roten Lippen. Und da hielt mich nichts mehr. Ich schoss die Augen und bewegte mich auf Yuna zu. Gleich würden sich unsere Lippen berühren, ich jubelte innerlich. Endlich würden wir uns küssen!
Doch plötzlich nieste Yuna, so laut und heftig, dass ich zusammenfuhr. Obendrein bekam ich ihren Ellenbogen an die Stirn, als sie ihn sich vorhielt. Die Stimmung war hinüber.
„Sorry, das wollte ich nicht!", entschuldigte sich Yuna sofort. Ich nickte nur, der Moment war eh vorbei.
„Schon okay" Ich legte einen Arm um sie, doch ich merkte, wie sie zusammenzuckte, als ich es tat. Schnell nahm ich meine Hand wieder weg und sah beschämt zu Boden.
„Tut mir leid... das war dir... zu viel. Versteh ich", murmelte ich und diesmal war es Yuna, die nickte. Wir saßen noch eine Weile nebeneinander, doch es war irgendwie seltsam. So... unangenehm. Als hinge zwischen uns irgendetwas in der Luft, schwer und unausgesprochen. Und so fragte ich einfach.
„Was ist los?" Ich drehte mich zu Yuna und sah sie an.
„Nichts? Was soll sein?", antwortete die. Doch ich sah, wie sie sich nervös das Haar hinters Ohr strich, und, dass mich nicht ansehen konnte.
„Du verheimlichst mir was!", stellte ich fest und diesmal seufzte Yuna nur.
„Sag's mir einfach.", bat ich sanft, „Ich bin immer für dich da." Sie schluckte und schüttelte dann den Kopf.
„Nein. Ich... will nicht darüber sprechen", flüsterte sie.
„Na gut" Ich legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zu mir heran. Doch daraufhin stieß sie unbeholfen gegen mich und ich zuckte zusammen. Yuna merkte es und entschuldigte sich.
„Das ist mein Signal, ins Bett zu gehen!", verkündete sie und gähnte herzhaft, „Ich kann nicht mal mehr aufrecht sitzen. Gute Nacht!" Ich erwiderte den Gruß und ging kurz darauf ebenfalls in die Hütte. Das war überraschend schnell gegangen.
Ich war auch nicht unbedingt glücklich, wieder mit Shiva unter einem Dach zu sein. Ich war immer noch sauer auf ihn und von seinem Verhalten verletzt.
Ob wir das je wieder hinbekamen? Mir doch egal. Ich wollte nichts mehr von ihm wissen! Gerupfte Feder, er hatte sich aufgeführt wie ein Wirbelsturm! Dennoch, tief in mir wusste ich, dass ich diesen Streit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen wollte.
Dieser Montagmorgen war grauenvoll. Naja, eigentlich war jeder Montagmorgen grauenvoll. Aber dieser ganz besonders. Eigentlich hätten wir nämlich in der ersten Stunde Verwandlung gehabt, aber Mrs. Forester begleitete Mr. Blackheart zu irgendeinem Notfalltreffen mit dem Rat. Und der Schock des Morgens war: Seine Frau bekam die erste Stunde! Wir hatten also erst mal einen halben Schultag lang Mathe. Das war mein schlimmster Alptraum!
Okay, der zweitschlimmste. Auf dem ersten Platz war noch immer der, in dem Nele sich von dem Wolkenkratzer stürzte. Eine gefühlte Ewigkeit lang wippte ich auf meinem Stuhl, tippelte mit den Füßen, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und widerstand ich dem Drang, aufzuspringen und mich zu bewegen. Mittlerweile musste es kurz vor der Pause sein! Doch als ich auf die Uhr schaute, waren gerade mal zehn Minuten vergangen. NUR ZEHN MINUTEN!!! Wie sollte ich das aushalten?!
Doch irgendwie schaffte ich es durch den gesamten Schultag. In der Mensa stieß ich einmal mit Shiva zusammen, woraufhin er mich mit einem strafenden Blick betrachtete. Ich funkelte zurück und wäre Mr. Jolly nicht in diesem Moment vorbeigekommen und hätte mich an der Schulter weitergeschoben, hätte es wohlmöglich eine Schlägerei gegeben.
Nach dem Essen wollte ich einfach nur noch weg. Ich ging mal wieder zu den Klippen, wo ich mein Handy herauszog. Vielleicht konnte ich mit Nele darüber reden? Ich zögerte kurz. Aber wofür waren große Schwestern da, wenn nicht um ihnen das Herz auszuschütten? Also rief ich an. Es dauerte nicht lange, bis Nele ranging.
„Was gibt's, Lieblingsbrüderlein?!", trällerte sie in der Euphorie, an die ich mich mittlerweile fast gewöhnt hatte.
„Hi, Nele. Bist du nicht mehr traurig?", versicherte ich mich, da sie im letzten Gespräch viel geweint hatte.
„Nein, warum sollte ich? Mach die jetzige Zeit zur besten!", rief Nele und drehte sich einmal im Kreis. Ich lächelte, mittlerweile fand ich das nicht mehr gruselig. Vielleicht etwas traurig, dass sie so anders war, aber ich hatte keine Angst mehr um sie.
„Schön. Bei mir ist es grad weniger toll" Und ehe ich mich versah, hatte ich ihr alles erzählt, was in letzter Zeit bei mir los war. Als ich geendet hatte, sah meine Schwester jedoch nicht mehr glücklich aus.
„All das passiert einfach.", stellte sie fest. Ich nickte. Nele senkte den Kopf.
„Aber... in deinem Leben. Ich... hab das Gefühl, ich gehöre nicht mehr dazu" Sie schaute mich wieder an, doch auch bei mir kam dieses Gefühl gerade hoch. Bei all unseren Telefonaten hatte ich versucht, es zu unterdrücken, doch jetzt ging es nicht mehr.
„Das Gefühl habe ich auch. Es ist, als... wärst du gar nicht mehr da sein. Und... ich bin einfach aus deinem Leben ausradiert. Wir haben uns... auseinandergelebt" Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Doch Nele hörte sie trotzdem.
„Wow, die Welle ist halb so groß!" Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.
„Nele – hör auf. Wir... wissen beide, dass es so ist. Und wir können es nicht mal ändern." Nele sank in sich zusammen und ihre fröhliche Fassade zerbröckelte. Wir redeten noch ein bisschen über dies und das, aber die bedrückte Atmosphäre verschwand nicht. Es stimmte. Wir gingen jetzt unterschiedliche Wege.
Ich saß noch eine ganze Weile dort auf den Klippen. Irgendwie fand Yuna mich dort. Ich freute mich richtig, sie endlich zu sehen. Doch sie wirkte nervös.
„Hi. Setz dich zu mir!" Ich umarmte sie kräftig, woraufhin sie allerdings zusammenzuckte.
„Was ist?", wollte ich wissen. Yuna atmete tief durch.
„Ich... muss dir was sagen"
„Klar, ich bin ganz Ohr", erklärte ich und wollte ihr einen Arm umlegen. Doch sie duckte sich weg.
„Sorry, Sky. Aber... ich... das... war zu viel.", murmelte Yuna. Was meinte sie?
„Was ich sagen will, ist...", sie atmete nochmal tief durch und sah mich an, „das mit uns... wird nichts." Wie bitte?! Mein Herz gefror.
„Aber...", stammelte ich, doch ich hatte keine Worte dafür. Jemand zerfetzte meine Brust, riss mein Herz heraus. Ich fühlte mich wie betäubt.
„Ich... liebe jemand anderes. Und... das klappt jetzt endlich.", erklärte Yuna mir. Und da begriff ich.
„Dann hast du mich nie gemocht? Du wolltest mich nur benutzen, um ihn eifersüchtig zu machen?!", flüsterte ich, erschüttert von dieser Erkenntnis. Yuna schwieg, doch das war Antwort genug. Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und ging.
„Sky!", rief sie mir gequält nach, doch ich hörte sie nicht mehr. Ich hörte gar nichts mehr. Konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um nicht einfach auf die Knie zu fallen und heulend liegen zu bleiben. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen, ich hatte einen riesigen Kloß im Hals. Jetzt wusste ich also, wie sich das anfühlte. Yuna hatte mir das Herz gebrochen.
Vielleicht hatte ich es verdient. Ich hatte Leni auch abgewiesen. Als mir klar wurde, dass sie sich genauso gefühlt haben musste, wurde mir eiskalt. Und dann fiel ich auf die Knie, zitternd und weinend. Ich blieb einfach dort sitzen und ließ den Tränen freien Lauf. Heftig schluchzend und zutiefst verletzt rollte ich mich zusammen, zog den Kopf ein und schloss die Augen. Wen interessierten irgendwelche Spione, Erpresser, Schüleraustausche, Feste?! All das kam mir furchtbar fern vor. Es war, als würde meine Welt zerbrechen. Plötzlich hatte ich keine Verbündeten mehr, niemanden, der zu mir hielt. Ich stand ganz allein gegen die Windwalker und diese Erpresser.
Ich verlor jedes Zeitgefühl, wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Es war, als würden Raum und Zeit an mir vorbeifließen, doch in meiner Welt war alles stehen geblieben. Als ich irgendwann wieder hochblickte, war es längst dunkel. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um anhand der Sterne die Zeit abzuschätzen. Es musste allerdings schon wirklich spät sein, denn hier im Wald war niemand mehr. Also achtete ich nicht darauf, niemandem zu begegnen, ich lief einfach kreuz und quer durch den Wald. Ich hörte das Rascheln im Laub nicht, konnte das Flüstern nicht wahrnehmen, das hinter mir ertönte. Ich war blind, taub, gefangen in meiner Trauer.
Und dann war es zu spät. Plötzlich spürte ich, wie jemand mir von hinten die Arme um den Hals legte. Ich schrie erschrocken auf, doch derjenige drückte zu und es kam nur noch als Röcheln heraus. Ich war vor Schreck und vor Überraschung wie gelähmt und dachte erst nach ein paar Sekunden daran, mich zu wehren. Dann schlug ich um mich, trat nach allem, was in meine Reichweite kam, gleich, gleich war ich frei!
Doch dann verstärkte die Person ihren Griff. Ließ sich einfach auf den Rücken fallen und riss mich mit. Mir wurde die Luft abgedrückt und ich strampelte verzweifelt mit den Beinen. Doch mein Widerstand brach, das Engegefühl in meiner Brust und das Würgen zwangen mich, still zu halten. Mir wurde schwarz vor Augen und ich bewegte mich nicht mehr, damit die Person lockerließ.
„Wehe du machst auch nur einen Mucks!", lispelte eine Stimme. Ich kannte sie, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Jemand zerrte mich vom Boden hoch und schubste mich vorwärts. Ich verdrehte den Kopf, um herauszufinden, wer es war, doch dafür bekam ich einen Tritt in die Kniekehle, wegen dem ich fast zu Boden ging.
„Sowas noch einmal und wir fahren härtere Geschütze auf!", knurrte eine zweite Stimme. Auch bei ihr war ich mir sicher, sie schonmal gehört zu haben, doch vor Angst konnte ich nicht mehr klar denken. Was wollten diese Leute von mir?! Doch eigentlich war es mir bereits klar. Ich hatte ihren Plan verhindert und sie belauscht. Ich wusste zu viel über sie. Sie wollten mich loswerden! Hätte ich doch nur besser aufgepasst! Doch ich war zu sehr in meiner Trauer versunken gewesen und hatte nicht genau genug auf meine Umgebung geachtet.
Und das war jetzt der Preis dafür.
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...