Drei Tage waren vergangen, seit wir bei dem Sturm fast gekentert wären. Als mich diesen Morgen der Wecker aus dem Schlaf riss, dachte ich kurz, es wäre ein Tag wie jeder andere. Doch dann fiel es mir wieder ein: Es war DER Tag. Der letzte Tag dieses Lebensabschnittes. Der letzte Tag an Bord.
Schon heute Abend würden wir im „Bodega Harbour" einem Hafen in Bodega Bay, anlegen. Und ich würde von Bord gehen. Ich würde nicht mehr zurückkehren.
Angst und Sehnsucht überkamen mich, ich versuchte, sie so gut es ging zu unterdrücken.
„Sky? Kommst du mal?", flüsterte mir eine Stimme aus der Dunkelheit zu. Nele.
Mir wurde klar, dass ich, seit der Wecker geklingelt hatte, bestimmt schon wieder fünf Minuten auf meinem Bett gesessen hatte.
„Komme", antwortete ich.
Eilig schlüpfte ich in eine graue Badehose – normale Hosen besaß ich keine – und zog mir ein schwarzes Shirt über. Dann schlurfte ich an Deck.
Ich setzte mich zu meiner Familie, um zum letzten Mal mit ihnen den Sonnenaufgang zu beobachten. Mit einem dicken Kloß im Hals schmiegte ich mich an meine Mutter, während wir feierlich gemeinsam zusahen, wie sich der Himmel verfärbte, bis ein glutroter Ball aus dem Meer aufstieg. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die kühle, feuchte Nachtluft.
Ich liebte diesen Moment! Und doch konnte ich ihn heute nicht genießen. Denn so, das würde mir in diesem Moment klar, würde ich ihn vielleicht nie wieder erleben.
Blödsinn! Ich stopfte die schlechten Gefühle wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Diesen Tag würde ich mir auch von meiner Zukunft nicht vermiesen lassen!
Als die Sonne vollständig aufgegangen war, stand ich auf. Nele und ich grinsten uns an. Dann rannten wir los. Ich in Badehose, sie im Nachthemd... Alles wie immer. Für ein letztes Mal.
„Kommt raus, wir müssen los!", ertönte die Stimme unseres Vaters. Ich hätte noch ewig im Wasser bleiben können! Naja, ich wollte ja auch gar nicht weiter. Dennoch schwammen Nele und ich brav zum Heck des Bootes und zogen uns an der Taucherleiter hoch.
„Anduch! Anduch!", brabbelte Timmy, während er ein – für ihn tonnenschweres – Handtuch übers Deck zu mir zerrte. Lächelnd nahm ich es ihm ab. Ich würde den Kleinen vermissen!
Nele war schon in der Kajüte verschwunden, um sich was Trockenes anzuziehen. Ich blickte hoch, um am Stand der Sonne die Uhrzeit abzuschätzen. Das immerhin konnte ich. Ansonsten versagte ich jedoch in ziemlich allem, was mir meine Mutter versucht hatte beizubringen. Deshalb musste ich ja auch zur Redcliff High. Nele war nie auf so einer Schule gewesen, sie war ein Naturtalent in allem wie Verwandeln, von Kopf zu Kopf reden und Tiersprachen. Auch in den normalen Fächern wie Englisch, Mathe oder Bio, in denen uns Nick unterrichtete war sie eine echte Streberin. Ich dagegen war in Englisch und Mathe zwar akzeptabel gut, aber in Tiersprachen bekam ich noch nicht mal einfachste Übungen wie den Hier-ist-Futter-Schrei auf Möwisch oder die Achtung-Hai-Warnung auf Fischsprache hin. Von meinen Verwandlungen ganz zu schweigen, ohne Bild und in unter 1min ging da gar nichts. Irgendwann hatten meine Eltern entschieden, dass das nicht ausreichte und obendrein die Geheimhaltung der Wandler gefährdete. Ich sollte es also auf einer richtigen Schule lernen. Damals hatte ich es mit einem Lächeln abgetan, ich glaubte nicht daran, dass eine Schule jemanden aufnahm, der sein halbes Leben lang um die Welt gesegelt war. So kann man sich täuschen.
Am Stand der Sonne erkannte ich, dass es erst 7:30Uhr war. Seufzend streckte ich mich auf dem Deck aus, um mich von der Sonne trocknen zu lassen. Doch nach höchstens 15min rief mein Vater nach mir:
„Sky!"
Murrend rappelte ich mich hoch und lief zu ihm.
„Du hast ja ganz vergessen zu packen!"
Verlegen blickte ich weg. Nein, vergessen hatte ich es nicht, ich hatte es nur immer weiter vor mir hergeschoben. Aber jetzt half es nichts mehr, also schlurfte ich in die Kajüte. Ich hatte bis zum letzten Moment nicht glauben, das ich das Schiff wirklich verlassen würde. Mit einem Trauerkloß im Hals fing ich an, mein Zeug in meiner muffeligen, alten Reisetasche zu verstauen, die acht Jahre lang als Kleiderschrank gedient hatte. Auch Nele war unten, sie stopfte ein paar T-Shirts und Hosen in ihren Koffer, der als provisorisches Regal an der Wand gestanden hatte.
Das war das Schlimmste an der ganzen Sache, denn nicht nur ich würde von Bord gehen. Wenn ich erst mal weg war, war die nächste Station meiner Familie das „Coastline College" in Newport Beach bei Los Angeles. Dort würde auch Nele ein neues Leben beginnen: Sie wollte Meeresbiologie studieren und später eine Ausbildung zur Forschungstaucherin machen. Ich würde sie sehr lange nicht sehen.
Das würde sehr schwer werden. Ich vermisste meine große Schwester jetzt schon! Ob sie mich auch vermissen würde? Oder würden wir den Kontakt komplett verlieren? Was wenn...
„Sky? Alles okay?", unterbrach Neles Stimme meine Gedanken. Mitfühlend sah mich meine große Schwester an.
„Ja klar.", sagte ich schnell. Nele hob eine Augenbraue – ein weiters Talent um ads ich sie beneidete – und mir war klar, dass sie mir kein Wort glaubte.
„Es ist nur...", ich suchte nach Worten.
„...alles anders. Ich gehe an Land, auf eine Schule, mit Kindern in meinem Alter...das Meer ist doch meine Heimat! Ich will nicht weg! Mom und Dad werde ich lange nicht sehen, und...dich...vielleicht...garnichtmehr und...", meine Stimme brach, eine Träne rollte mir über die Wange. Ich wandte mich ruckartig ab, aber Nele hatte sie natürlich trotzdem gesehen. Ihr entging nichts. Sie schloss mich in die Arme und drückte mich. Hielt mich und ließ mich nicht los, gab mir Kraft. Dann schob sie mich von sich weg, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir in die Augen.
„Aber vergiss nicht, dass jedes Ende auch ein neuer Anfang ist.", mit diesen Worten drückte sie mich noch einmal und verschwand nach oben.
Nachdenklich machte ich mich ans Packen. Viel Zeug hatte ich nicht, unsere Kajüte war nicht groß und der Platz überschaubar. Es gab jedoch ein paar Sachen, die ich auf keinen Fall hierlassen wollte: Meine beiden alten, zerfledderten Lieblingsbücher, die ich mal in Mexico an einem Promenadenstand gefunden hatte, zum Beispiel. Aber auch das Fotoalbum von unseren Abenteuern auf See und den Selfies an verschiedensten Orten, die große Landkarte, auf der ich markiert hatte, wann und wo wir schon überall gewesen waren, und meine Klamotten. Zum Schluss hängte ich die gerahmte Feder von der wand am Kopfende meines Bettes ab. Es war die erste Feder, die mir jemals ausgefallen war, und so etwas wie ein Glücksbringer für mich. Meine Holzperlen-Kette mit dem Fransen-Anhänger, die ich in Afrika in einem Dorf geschenkt bekommen hatte, hatte ich mir schon umgehängt. Den silbrigen Adler-Anhänger – von Mallorca - mit dem Lederband – aus Frankreich – verstaute ich ebenfalls in der Tasche. Meine einzigen Schuhe waren braune Ledersandalen, die wir extra vor ein paar Wochen in Indien gekauft hatten, dort waren wir vorher gewesen. Auf dem Boot liefen wir alle Barfuß herum, schon seit acht Jahren. Es würde ungewohnt sein, Schuhe zu tragen. Aber noch ungewohnter würde es sein, nicht mehr morgens aufzuwachen und das Meer zu hören. Nicht mehr mit meiner Familie den Sonnenaufgang zu beobachten. Nicht mehr vor dem Frühstück mit Nele schwimmen zu gehen. Und, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte: der Boden an Land schaukelte nicht. Absurde Vorstellung.
Seufzend schloss ich den Reisverschluss der alten Tasche. Ich sah mich in der Kajüte um. Sie wirkte gespenstisch leer und verlassen ohne meine und Neles Sachen, die auch schon zum Großteil verstaut waren.
Wow. Jetzt, wo meine Sachen gepackt waren, kam mir das ganze viel realer vor. Bald war ich weg. Ich würde wahrscheinlich nicht mehr so schnell zurückkommen. Und selbst wenn ich wieder da war, würde dieses Zimmerchen anders aussehen als jetzt. Wahrscheinlich würde Timmy früher oder später hier einziehen. Dann würde nichts mehr an mein Leben auf dem Schiff erinnern. Wie es wohl sein würde, an Land zu leben? Würde ich überhaupt noch Kontakt zu meinen Eltern haben? SMS schreiben war ohne Empfang schwer, und sowieso: ohne Handy ging gar nichts.
Müde ließ ich mich auf mein Bett plumpsen.
„Land in Sicht!"
Ich schreckte hoch. War ich tatsächlich eingeschlafen? Träge schlurfte ich hoch... und riss die Augen auf. Tatsächlich! In der Ferne wurden hohe, weiße Klippen sichtbar. Nele hatte schon das Fernrohr in der Hand und blickte neugierig hindurch. Ich starrte einfach nach vorne. Es war höchstens 11Uhr, ich hatte nicht gedacht, dass wir so früh ankommen würden.
Wenn man rechnete... wie schnell wir uns bewegten... die ungefähre Distanz abschätzte... sollten wir... in ca. sieben bis acht Stunden da sein.
„Übrigens, Sky, du hast das Frühstück verschlafen", informierte mich Nele mit sonniger Laune und drückte mir ein Sandwich in die Hand. Das war ein kleines Wunder, normalerweise aßen wir hauptsächlich in 2.Gestalt, fingen Fische und so. Aber heute schienen es meine Eltern richtig eilig zu haben. Oder die anderen hatten ohne mich gegessen und mich nicht wecken wollen.
So oder so, ich hatte keinen Appetit. Nele sah mich nachdenklich an. Als sich unsere Eltern gerade um Timmy kümmerten, beugte sie sich zu mir rüber und flüsterte:
„Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang"
Es nervte etwas, das sie meinte, solche schwierigen Situationen mit irgendwelchen Sprüchen lösen zu können. Aber das machte sie schon immer, es regte mich aber langsam auf.
„Das ist viel wichtiger als irgendeine Weisheit!", fuhr ich sie an, „Es geht um meine Gefühle und darum, dass sich so viel ändern wird!"
Nele war normalerweise wie ein Spiegel. Ich hatte erwartet, dass sie zurück motzen würde, doch diesmal sah sie mich nur vielsagend an.
Dann sagte sie leise: „Denk darüber nach. Irgendwann wirst du es verstehen."
Meine ursprüngliche Rechnung war ja gewesen, dass es noch bis zum Abend dauern würde, bis wir ankamen. Allerdings war es erst 14Uhr und wir waren so gut wie da. Unser Segelboot passierte einen engen Kanal, dann kamen wir in eine riesige Bucht. Ich sah Möwen um uns herumflattern und kreischen in der Hoffnung, wir hätten frischen Fisch an Bord. Die Wellen waren höchstens noch halb so hoch wie im offenen Meer, wenn überhaupt. Auch den Hafen sah man schon. Zumindest den Ort, wo der Hafen war: Bodega Bay.
Und der Ort kam immer näher; Eine Stunde später schipperten wir schon zwischen vielen kleinen Sport- und Freizeitbooten herum, auf der Suche nach einem entsprechend großen Liegeplatz. War nicht so einfach, schließlich war die Wavebird Star über zehn Meter lang und doppelt so breit wie die kleinen Fünf-Meter-Boote. Schließlich fanden wir einen passenden Anlegesteg. Die Wavebird Star fiel hier nicht nur durch ihre Länge auf, auch die großen, bemalten Segel mit dem Adler und dem Delfin stachen ganz schön heraus. Doch ich hatte nur Augen für das Festland. Von hier aus sah man nur wenige Häuser, eine hübsche, kleine Siedlung.
Und dann war es so weit.
Ich spürte einen Ruck, als unser Boot sanft gegen den Steg prallte. Meine Mutter sprang als erstes von Bord, um die Wavebird Star zu vertäuen. Während Nele meinem Vater mit der Leiter zu helfen versuchte, ging ich wortlos hinunter in meine Kajüte.
Wie in Trance schritt ich hindurch. Strich über mein Bettgestell. Legte die Hand an das kleine Bullauge unserer Kajüte. Langsam schritt ich durch die Kombüse und die andere Kajüte. Schaute ein letztes Mal in unser winziges Bad. Dann strich ich nochmal über die Türklinke meines Zimmers und wandte mich ab. Ein letztes Mal stieg ich die schmale Treppe hinauf aufs Deck. Ein letztes Mal schloss ich die Klappe, durch die man runterkam. Ich schritt zum Heck und legte meine Hand auf die Reeling. Blickte nochmal aufs Meer hinaus. Für ein allerletztes Mal.
Dann atmete ich tief durch und löste mich. Langsam schlich ich über das Deck. Mit einem dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen nahm ich meine Reisetasche und die Schuhe und drehte mich nochmal um. Sah mir ein allerletztes Mal das Schiff an. Die großen, bunten Segel, das Steuerrad, das Glöckchen am Bug, die Truhen... All das sah ich mir nochmal an und schloss es dann in meinen Erinnerungen ein. Damit ich immer wusste, wie mein früheres Leben ausgesehen hatte.
Mit einem Ruck drehte ich mich um und lief zum Bug. Ich reichte meinem Vater die Tasche runter.
Dann sprang ich von Bord. Von meinem alten Leben in ein neues. Erst wankte ich kurz, da der Boden sich tatsächlich nicht bewegte. Aber dann setzte ich einen Fuß vor den anderen, ging einfach geradeaus. Ich zwang mich, nicht zurückzublicken zu meinem Zuhause. Meinem ehemaligen Zuhause. Denn jetzt hatte mein neues Leben an Land angefangen. Ich sehnte mich schon jetzt zurück nach den Wellen, dem Wind, der Freiheit und der unendlichen Weite. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Stück aus meinem Herzen gerissen. Vielleicht würde ich nie mehr hier her zurückkehren. Jetzt schon fühlte ich mich unvollständig, das Segeln war ein Teil von mir. GEWESEN. Denn ab heute wohnte ich wieder an Land, im Haus meiner Oma. Unfähig an irgendwas zu denken außer ans Meer, ließ ich mich in das Taxi gleiten, das auf uns wartete.
Ich realisierte kaum, wie mein Vater dem Taxifahrer das Ziel durchgab, meine Reisetasche eingeladen wurde oder das Taxi losfuhr.
Ich hatte keine Lust, mich zu unterhalten, ich wollte einfach nur in meiner Kajüte aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Alptraum gewesen war.
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...