45: Zurück zum Anfang?

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Ich starrte Avery ungläubig an. Ich hatte mit allem, wirklich, mit allem gerechnet – aber niemals damit. Ich sollte Averys Stellvertreter werden?! Aber... mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, ich konnte mich gar nicht entscheiden, welche ich zuerst stellen sollte.
„Ich gebe dir die vier Tage, die ihr auf dem Ausflug seid, Zeit, darüber nachzudenken.", erklärte Avery. Ich schluckte meine Fragen herunter, konzentrierte mich auf das Wichtigste.
„Das ist doch sicher nur bloß irgendein Trick." Doch Avery schnaubte belustigt.
„Das wäre schon ziemlich einfallslos, meist du nicht?" Ich antwortete nicht, sondern sah sie prüfend an. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie log. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, dann drehte ich mich um und ging zur Tür.
„Denk daran.", rief Avery mir noch nach, „Wenn du nein sagst, bist du endgültig raus." Ich ignorierte sie und trat aus der Tür, als hätte ich ihren letzten Satz gar nicht gehört. Aber das hatte ich. Und er ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

„Kann ich mich neben dich setzen?", fragte mich eine mir mittlerweile sehr bekannte Stimme. Ich sah zu Luna, die neben mir auf dem Gang im Bus stand.
„Ich weiß, es ist echt nicht cool und so, aber bei dir ist noch Platz und sonst nirgends... Ich würde ja woanders hingehen, aber es ist nichts mehr frei...", entschuldigte sie sich. Ich seufzte und nickte. Die Fahrt würde ja nur eine Stunde dauern.
„Setz dich, ist schon okay." Ich lächelte sie entschuldigend an. Sie konnte ja auch nichts dafür, dass sie als Letzte eingestiegen war.
Also ließ Luna sich neben mir nieder und schob ihren recht kleinen Rucksack unter den Vordersitz.
„Hast du so wenig dabei?", wunderte ich mich. Luna grinste.
„Ich brauche nicht viel, Mr. Blackheart hat mir erlaubt, den Großteil der Zeit als Tier zu verbringen. Den Rucksack kann ich im Maul tragen, falls ich doch mal Lust auf mein Menschen-Ich habe.", erklärte sie gut gelaunt.
„Achso, ich dachte schon, du hättest June mit ihrem Rüschengeheimnis erpresst, damit sie deine Sachen einpackt!", scherzte ich. Luna grinste.
„Gute Idee!", meinte sie, woraufhin auch ich lachen musste. Ich spürte, wie mir eine riesige Last von den Schultern fiel. Es schien alles wie immer, als hätte es den seltsamen Silvesterabend nie gegeben.
„Luna, ich muss noch was loswerden.", beschloss ich spontan, „Ich habe mich an Silvester echt wie der größte Idiot aller Zeiten aufgeführt. Tut mir leid. Das war nicht nett von mir, auch wenn es seltsam war... ich hätte das besser machen können." Jetzt hatte ich es endlich gesagt. Es fühlte sich richtig an. Luna sah überrascht aus, scheinbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich mich entschuldigte.
„Ach, kein Problem. Ich verstehe es ja, meine Reaktion wäre auch nicht viel netter ausgefallen." Sie lachte halbherzig.
„Gut.", meinte ich.
„Gut.", wiederholte sie. Dann sagten wir eine Weile lang nichts mehr.

„So, noch eine Viertelstunde, dann sind wir da!", kündigte Mr. Blackheart an. Ich schreckte aus dem Halbschlaf hoch. Waren wir tatsächlich schon so lange unterwegs? Als ich mich aufrichten wollte, merkte ich, dass auch Luna eingeschlafen war. Ihr Augenlied zuckte, sie blinzelte und sah sich kurz prüfend um, dann schlief sie wieder ein. Eine recht nützliche Fähigkeit, die ich jedoch nicht besaß. Also streckte ich mich auf meinem Sitz und gähnte ausgiebig, bevor ich einen Blick aus dem Fenster warf, neben dem ich saß.
Draußen hatte sich die Landschaft kaum verändert, seit wir losgefahren waren, sie bestand noch immer aus Wäldern. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese hier alle schwarz und verkohlt waren. Hier hatte wohl im letzten Sommer einer der kalifornischen Waldbrände getobt. Der Bus fuhr um eine scharfe Kurve, ich wurde ans Fenster gedrückt...
Und Luna kippte zu mir herüber. Zwar zuckte sie sofort zurück, als ihr Kopf meine Schulter berührte, doch trotzdem lief sie knallrot an. Auch ich grinste verlegen und wollte etwas Witziges sagen, um die Situation zu retten, doch mir fiel nichts ein.
„Wir sind in einer Viertelstunde da.", erklärte ich nur und Luna nickte, während sie ein Stück von mir wegrutschte. Dann beugte sie sich nach unten, um etwas aus ihrem Rucksack zu ziehen, anscheinend Salami-Sticks.
„Willst du? Die sind echt gut.", bot sie mir an. Eigentlich hatte ich keinen Hunger, aber sie drückte sie mir einfach in die Hand. Also knabberten wir den Rest der Fahrt über Salami-Sticks.

Ein kräftiger Windstoß riss mir die Zeltplane aus der Hand und wehte sie mir ins Gesicht. Es dauerte kurz, bis ich wieder etwas sehen konnte. Mit dem Wind war es wirklich nicht leicht, die Zelte aufzustellen! Dabei war die Lichtung, auf der wir übernachten würden, von hohen Bäumen und dichtem Gebüsch umringt. Auch Phil versuchte vergeblich, seine Plane in Form zu bringen, Faeye raufte sich die Haare und June hatte ärgerlich die Krallen teilverwandelt.
Zum Glück hielt Mr. Blackheart sie auf, bevor sie dazu kam, die Plane aufzuschlitzen, und Mrs. Forester fing rasch Sierra ein, die gerade ihr Zelt ins Gesicht bekommen hatte und rückwärts stolperte. Danach schlug Mrs. Pine vor, wir sollten lieber mit mehreren Leuten ein Zelt aufbauen. Bisher waren wir zu zweit gewesen, doch zu fünft ging es schon etwas besser, auch wenn ich ein paarmal angerempelt wurde und fast rückwärts in ein anderes Zelt hineingestolpert wäre.
Nach etwa einer Stunde hatten wir es endlich geschafft, zumindest ein paar Zelte zu bändigen und in Form zu quetschen. Die Lehrer baten uns, selbst einzuteilen, wer in welchem schlief, Jungs und Mädchen sollten aber getrennt bleiben.
„Sky? Kommst du mit uns in ein Zelt?", fragte mich Phil, kaum, dass Mr. Blackheart fertig gesprochen hatte. Ich freute mich, eingeladen zu werden, und nickte ihm, Milan und Alex zu, die sich offenbar schon vorher abgesprochen hatten.
Der Rest der Katzenclique hatte sich ebenfalls ein Zelt gesichert, außerdem sah ich Summer, wie sie mit Wildpferd-Mädchen Amy sprach. Die Lehrer hatten eigene Zelte, leider zog Mr. Blackheart genau neben uns ein.
„Mist, Mittternachtspartys sind gestrichen.", murrte Milan, allerdings sehr leise, damit der Schulleiter es nicht hörte. Ich grinste, während ich in mich als Letzter ins Zelt quetschte. Drinnen startete dann erstmal eine kleine Rangelei, wer welche Ecke das Zelts besetzen durfte, doch Phil entschied das Ganze schnell für sich und legte sich neben den Eingang.
Ich bekam zum Glück problemlos die hintere Ecke des Zelts, wo ich meine Luftmatratze ausbreitete und meinen Rucksack darauf warf.
„Hey Phil, Sky, was ist, kommt ihr raus?", rief da auch schon Sophie von draußen.
Nur fünf Minuten später saß die gesamte Katzenclique in der Sonne. Es war zwar etwas kühl hier, aber es ging. June hatte irgendwoher eine Tüte Salzbrezeln bekommen, die wir uns teilten, während wir gespielt genervt über die Busfahrt witzelten. Die Windwalker waren zu laut gewesen, die Klimaanlage des Busses nicht ausgeschaltet und das Gepäck nicht gut genug verstaut, außerdem hatten einige die ganze Zeit in ihren Rucksäcken gekramt. Und Crowley hatte lautstark irgendwelche Lieder gegrölt.
„Man, bin ich froh, dass wir ab Morgen wandern!", kicherte Lou.
„Echt? Ich nicht.", gab ich zu. Auch Phil schien nicht so begeistert zu sein.
„Kommt schon, Jungs, ein bisschen durch die Sonne spazieren, das ist doch nicht anstrengend!", neckte uns June. Sophie grinste ebenfalls.
„An eurer Stelle wäre ich vorsichtig, Tiger sind nämlich auch keine Ausdauerläufer.", konterte Phil. Die Schwestern grinsten.
„Fliegen könnte ich ja. Oder schwimmen. Aber den ganzen Tag laufen...", meinte ich.
„Woher kannst du denn bitte so lange schwimmen?", bemerkte Lou wie nebenbei.
„Äh, macht mir einfach Spaß.", erklärte ich rasch, woraufhin die anderen es zum Glück wieder zu vergessen schienen.
„Aber wir werden ja nicht durchwandern, es gibt auch einige, die nicht so viel Laufen können.", erinnerte uns Luna. Das stimmte. Ich war schon sehr gespannt, wie sich die Windwalker schlagen würden, zumal ihre Anführerin ja leider daheim geblieben war.

Es wurde langsam dunkler, die Schatten der Bäume wuchsen, bis sie die komplette Lichtung bedeckten. Bald wurde es Phil zu windig, er verschwand im Zelt. Auch June und Sophie verzogen sich. Schließlich warf uns Lou einen Blick zu.
„Ich geh noch ein bisschen klettern.", kündigte sie an und stand ebenfalls auf, um zu gehen. Ich sah sie kurz darauf auf der anderen Seite der Lichtung einen Stamm hochsprinten. Ich sah nervös zu Luna, im selben Moment, als auch sie zu mir schaute.
„Äh, ja.", meinte sie, „ich sollte vielleicht auch..." Doch ich hielt sie auf.
„Nein, alles gut. Bleib gern noch ein bisschen hier." Luna blieb neben mir sitzen und eine Weile lang sagten wir nichts mehr.
„Sky?", unterbrach Luna schließlich die Stille, „Darf ich dich was fragen?" Ich drehte mich zu ihr und zog die Augenbrauen hoch.
„Kommt drauf an, was."
„Okay, ich weiß, ich nerve dich damit... aber findest du es wirklich so schlimm, dass ich... in dich verliebt bin?", fragte sie zögerlich, während sie ein paar Grashalme ausrupfte.
„Naja...", murmelte ich, „Ich glaube, ich finde es okay." Luna sah zu mir zurück.
„Was heißt okay? Ganz okay, gut okay, nicht okay...?" Ich schmunzelte.
„Ich glaube... ganz okay.", gab ich dann zu, „Diese Reaktion von mir war echt doof."
„Ja, war sie. Aber war.", wiederholte Luna, „Jetzt können wie eh nichts mehr daran ändern.
„Das stimmt wohl."
„Aber...", Luna stockte kurz, „wenn ich... dir das jetzt zum ersten Mal sagen würde, wäre es die gleiche Reaktion?" Sie sah mich an, in ihrem Blick lag eine Art Hoffnung, die mir gar nicht gefiel. Ich hätte wissen müssen, dass diese Frage kommen würde. Was sollte ich dazu sagen?
Die Wahrheit war natürlich nein, aber das würde total falsch rüberkommen! Ich wollte mich nicht wie ein Idiot aufführen, aber ich empfand nichts für sie!
„Luna, ich... ja. Und zwar aus dem Grund, dass zwischen uns nichts sein darf! Zum einen wegen unserer Zusammenarbeit gegen die Erpresser, zum anderen... wegen der ganzen Sache mit den Windwalkern."
„Was haben denn die Windwalker damit zu tun?", wollte Luna natürlich wissen. Na super, jetzt musste ich es wohl erzählen. Eigentlich hatte ich es ja noch ein bisschen für mich behalten wollen, um darüber nachzudenken...
„Avery und ich haben heute nochmal geredet.", begann ich mit gesenktem Kopf, „Und sie hat mir ein Angebot gemacht. Ich könnte wieder zu ihnen kommen und sie würde mich zu ihrem Stellvertreter machen. Dann könnte ich die Clique wieder in eine bessere Richtung lenken und könnte ein bisschen aufpassen, damit sie so bleibt" Ich sah Luna an. Sie schwieg.
„Und du könntest dir vorstellen, zurückzugehen?", fragte sie dann ungläubig.
„Ehrlich gesagt – ja. Ich würde sehr gern wieder dabei sein, und ich könnte etwas verbessern, ich könnte ihnen helfen, damit sie nicht mehr so von Avery abhängig sind. Und ich habe eben immer noch Freunde dort.", gab ich zu bedenken.
„Aber du wärst auch von Avery abhängig! Vor ein paar Tagen hast du noch in den schlimmsten Tönen über sie geschimpft, und jetzt denkst du ernsthaft wieder daran, dich ihr zu unterwerfen?"
„Ja, ich denke ernsthaft darüber nach, dieses Angebot anzunehmen. Aber das ist meine Entscheidung.", stellte ich klar und sah Luna in die Augen, „Lass mich sie treffen." Ihr stand der Mund offen, schließlich wandte sie sich ab.
„Versteh es bitte. Es ist wirklich nichts gegen dich, aber... ich träume immer noch davon, diese perfekte Flugtier-Clique zu haben. Einfach ein Teil von ihr zu sein und... vielleicht geht es ja doch. Vielleicht ist es möglich. Aber dafür muss ich etwas tun."
„Und... uns magst du nicht? Unsere Clique?", fragte Luna.
„Doch klar! Es ist cool mit euch. Aber fliegen kann ich nur mit den Windwalkern, nur sie verstehen mich wirklich komplett.", versuchte ich, mich zu erklären.
„Schon okay.", murmelte Luna missmutig, „Geh zu deinen Vogel-Freunden und vergiss uns am besten einfach, damit du's leichter hast."
„Luna.", ich rutschte ein Stück näher zu ihr und stupste sie an, „Es tut mir echt leid."
„Hilft das was?", brummte Luna, doch sie drehte sich trotzdem zu mir um.
„Ja. Denn wenn ich Averys Diktatur erstmal abgeschafft habe, können wir auch wieder was zusammen machen. Du weißt doch, was Avery für Ansichten hat. Ich muss mich erstmal daran halten, sonst fliege ich direkt wieder raus." Luna seufzte.
„Schön.", meinte sie dann, „Aber versprich mir, dass du dich nicht von ihr zum Diktator ausbilden lässt."
„Klar, versprochen. Es wird andersrum sein.", erklärte ich zuversichtlich.
„Gut.", seufzte Luna, „Dann... ist das ganze Thema noch nicht abgeschlossen?" Ich hörte die Hoffnung in ihrer Stimme und wusste für einen Moment nicht, was sie meinte, doch dann erkannte ich es zum Glück. Was sollte ich darauf sagen? Ich wollte eigentlich nichts mit Luna anfangen, es gab gerade wirklich wichtigere Dinge!
Also schwieg ich einfach und sah zu Boden.
„Vergiss das. Ich geh zu weit. Tut mir leid.", murmelte Luna hastig, „Gute Nacht!" Sie stand auf und ging.
„Möge der Mond für dich leuchten, Luna.", erwiderte ich leise. Luna drehte sich noch einmal um und lächelte vorsichtig.
„Für dich auch, Sky." Dann verschwand sie in der Dunkelheit.

Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich von einem Poltern aus dem Schlaf gerissen. Müde blinzelte ich und sah mich verwirrt im dunklen Zelt um. War etwas heruntergefallen oder so? Nein, ich konnte nichts erkennen, die anderen Jungs im Zelt schliefen friedlich. Da, wieder ein Geräusch, diesmal eine Art Rascheln. Es schien von draußen zu kommen. Sofort war ich auf den Beinen und krabbelte in Richtung Zelteingang.
Draußen war niemand. Die Geräusche kamen aus Mr. Blackhearts Zelt!
Ich huschte in geduckter Haltung hinüber und ließ mich auf der Rückseite des Zeltes nieder. Ich hörte es drinnen rumoren, bevor etwas aufleuchtete – scheinbar ein Handy.
„Blackheart hier, hallo?" Ich hätte fast erschrocken aufgeschrien, als plötzlich die Stimme des Schulleiters ertönte.
„Johnson, hallo. Sind sie allein?", fragte jemand hastig.
„Woher weiß ich, dass sie es sind?", fragte er scharf. Daraufhin nannte Johnson ein Wort, das ich nicht genau verstehen konnte, und Mr. Blackheart verstummte.
„Sie dürfen es niemandem weitersagen, Blackheart.", schärfte ihm Johnson ein. Seine Stimme war leiser, als hätte Mr. Blackheart den Lautsprechermodus deaktiviert. Trotzdem war die Nacht still genug, sodass ich Johnsons Worte noch immer verstehen konnte.
„Ich habe gerade einen Anruf bekommen." Sene Stimme zitterte, „Jemand hat es geschafft, meine Tochter Sisi aus ihrem Zimmer heraus zu entführen und fordert, dass ich von meinem Amt als Ratsvorsitzender zurücktrete."

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt